Unsicherheit

In Frankreich sind im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts alle Bande der Ordnung gelöst, Räuberbanden von 200, 300, ja 800 Mann ziehen im Lande umher und die berüchtigten Chauffeurs erzwangen ihren Opfern Geständnisse durch Martern, welche an die Schwedengräuel des Dreißigjährigen Krieges erinnern! In Italien erlebte das Rittertum von der Landstraße seine klassische Zeit, selbst in England machen wieder Highwaymen die Straßen unsicher, wie einst unter Queen Anne und dem ersten George.

In Deutschland sammelt Schinderhannes auf dem Hunsrück eine Bande von 65 Personen, mit der er zum Schrecken der weitesten Umgebung wird und einmal die Stadt Heidelberg förmlich belagert. Räuberbanden machen die Bergstraße unsicher und in der Kölner Gegend hausen Damian Hessel und Fetzer mit offener Gewalt, gerade wie in Baden der Konstanzer Hans mit seiner Gaunerbande, wie in Böhmen der gefürchtete Räuberhauptmann Karasek, in Westfalen der Krefelder Johann Dahmen; in Preußen sind die Gefängnisse so überfüllt, dass man seit 1802 beginnt, die preußischen Zuchthäusler nach Sibirien zu deportieren. Iffland beklagt sich 1812 in einem Brief an Pius Alexander Wolff über die Mordbrennerbande, die, 130 Personen stark, seit 3 Jahren bis dicht vor die Tore von Berlin gebrannt und geraubt, ja in einer Woche 2 Dörfer bei Berlin angezündet hat. Die Anführerin war die schöne Luise, die aus Kinderfett Brandlichter machte und kalten Blutes Feuer anlegte. Ein Müller in Schlesien erstach den Räuberhauptmann Exner in dem Augenblick, in dem dieser in die Mühle einsteigen wollte. Darauf wurde der — Müller des Mordes angeklagt und saß mehrere Jahre im Gefängnis, wenigstens so lange, bis sein Geschäft ruiniert war.


Neben diesen Räubern, die ihr Gewerbe in großem Stil betreiben, fehlt es nicht an feinen Gaunern, denen der Erfolg in der Stille blüht. In Heidelberg lebt von 1802 — 1804 Carl Grandisson als reicher angesehener Mann, bis sich herausstellt, dass er seine Existenzmittel dem Postraub verdankt; in Lübeck wird 1815 beim Schützenfest in aller Ruhe der ganze Inhalt der Stadtkasse davongetragen! Die berühmteste Sensationsaffäre jener Jahre, die Ermordung des englischen Gesandten Lord Bathurst in Perleberg, ist nur aus dem Grunde nicht rechtzeitig aufgeklärt worden, weil jedermann in Napoleon den Urheber derselben sah und man in weiter Ferne den intellektuellen Mörder suchte, den man in einem armseligen Taglöhner doch ganz in der Nahe gehabt hätte.

Der Seeraub wurde damals aus einem schönen Vorrecht der Barbareskenstaaten des Mittelmeers zu einer Einrichtung, welche englische Kaufleute in offener Handelsgesellschaft trieben, man spekulierte an der Londoner Börse in Kaperschiffen, wie sonst in Terrains und manch ehrlicher Kaufmann in Stettin, Hamburg, Bremen hat damals durch privilegierte Seeräuber sein Vermögen eingebüßt, aber ganz so unterhältlich, wie Kapitän Marryat sie in seinen Romanen schildert, war die Sache für die Betroffenen nicht. Hunderttausende verarmten und an ihrer Stelle wurden neue Leute reich; in jenen Jahren, als alles drüber und drunter ging, haben die Torlonia, Rothschild, Hope, Eichthal u. a. den Grund zu ihren Reichtümern gelegt.

Dieses Schwanken aller Verhältnisse prägt sich in den Schicksalen der Individuen in geradezu abenteuerlicher Weise aus. In einem Zeitraum von 30 Jahren sieht Europa selbst die allerangestammtesten Fürsten ihrer Kronen beraubt, ermordet, hingerichtet, auf der Flucht oder im Gefängnis, der stolzeste Adel Frankreichs zieht bettelnd in der Fremde umher oder fristet seine plundrige Existenz durch die Verwertung seiner Talente. Herzoge, Grafen und Marquis, einst bei Hofe in allen Lakaienkünsten unterwiesen, trugen nun als Tanzmeister, Köche, Friseure, Fechtlehrer die französische Kultur zu den deutschen und englischen Bären, ja, ein Prinz von Geblüt, der Herzog von Chartres, hebt sich gar als Schulmeister für eine Zukunft auf dem Thron auf.

Das Schicksal aber, das seinen bisherigen Lieblingen so hart mitspielt, füllt die geleerten Plätze mit den übelsten Parvenüs; Bauern, Stallknechte, Kommis werden Marschalle, Fürsten, Herzöge; ein Kellner wird König von Neapel, ein Schreiber König von Schweden, der große Korse spielt mit Kronen und Reichen wie ein Jongleur mit Orangen. So bunt wie die Geschicke der Großen sind die der Kleinen; wird doch sogar ein preußischer Regierungsrat als Theaterdirektor einer Schmiere umhergetrieben und fällt erst beim Platzen der großen Seifenblase als Kammergerichtsrat wieder auf die Füße!

Wie ein Erwachen aus wüstem Traum muss es den Menschen zumute gewesen sein, als endlich nach jahrelanger Unruhe das Kaisertum Napoleons mit all seinem lärmenden Glanz erlosch wie das Geprassel eines blendenden Feuerwerks; verwundert sahen sie sich um, nichts war geblieben und Fürsten und Regierungen beeilten sich zu versichern, es sei überhaupt nichts gewesen. Es wurde alles wieder wie es war; auf dem Wiener Kongress bestimmten wie einst vor Jahrhunderten in Münster und Osnabrück, Fremde die Geschicke Deutschlands. Russland rettete Baden, Frankreich Sachsen die Selbständigkeit, das griechische Russland, das protestantische Preußen erhielten dafür dem Kirchenstaat seine Existenz.

Die Wünsche der Völker begruben die Herren mit dem Schutt ihrer Verträge, aber wie viel Mühe sie sich auch gaben, die Fürsten mit Richtern, Soldaten, Zensoren und Polizisten — der Gedanke der Freiheit war mächtiger als sie alle, sie haben den Fortgang der Ideen vielleicht aufgehalten, hindern haben sie ihn nicht können. Unaufhaltsam steigt die Flut der Demokratie, und wie bei einer Überschwemmung sich die Bedrohten auf immer höhere Punkte zurückziehen müssen, so nötigt sie die herrschende Klasse bei einer immer enger beschrankten wirklichen Macht zu immer höheren Titeln zu greifen, aus Herzögen wurden Großherzoge, aus Kurfürsten Könige, aber wenn erst alle Freiherrn Grafen, alle Grafen Fürsten und alle Boofkes Barone sein werden, was dann? Welche neuen Titel werden die Gefährdeten dann über den alles verschlingenden Strom hinausheben? Das Bürgertum sah nach den Freiheitskriegen alle seine Hoffnungen vernichtet, nur an eine einzige Errungenschaft, die ihm geworden, hat auch die Reaktion nie gerührt und nie die Hand zu legen gewagt — an das Ordensband!

Lahde, Friedrich VI. von Dänemark mit Familie 1810

Dähling, Tod der Königin Luise 1810