Ton und Manieren

Ganz allgemein ist in jenen Jahren, zumal in Frankreich, die Klage, dass die Revolution mit den Unterschieden von Rang und Stand auch die guten Manieren, den Takt und das artige Benehmen der einstigen guten Gesellschaft unterdrückt habe. Der Spott über die schlechten Manieren der neuen Reichen, über die in die Höhe gekommenen Parvenüs nimmt kein Ende und macht nicht einmal vor dem Throne halt. Napoleon selbst, dem nichts heilig ist, dem das Leben von einer Million Menschen gar nichts gilt, fürchtet sich vor dem Spott, dem Gillray einen so ätzenden Ausdruck zu geben weiß.

Er, dem niemand imponiert, scheut sich vor der Gesellschaft. Weil er mit den Frauen nicht den richtigen Ton finden kann, brüskiert er sie; weil er sich nicht sicher fühlt, wenn er öffentlich eine Rolle zu spielen hat, lässt er sich Reden und Bewegungen von Talma einstudieren und seine Sorge um die Etikette geht so weit, dass der ganze Hof vor seiner Krönung eine — Generalprobe derselben in Notre Dame abhalten muss! Frau von Rémusat fand ihn würdelos und Talleyrand, der ihn doch kennen musste, hat einmal gesagt: „schade, dass ein so großer Mann so schlecht erzogen ist! „Aus diesem Gefühl heraus begreift man seine Unsicherheit in allen Fragen gesellschaftlichen Taktes, er, der alle besiegt hat, kapituliert vor der Etikette. Er nötigt ganz Europa eine neue Ordnung auf, — aber für seinen Hof erholt er sich Rats bei Karolingern und Merovingern und muss bei seiner Hochzeit mit Marie Luise alles genau nach dem Zeremoniell derjenigen von Marie Antoinette richten! Die Damen der Hofgesellschaft, schreibt Frau von Rémusat, nahmen Unterricht bei Despreaux, dem Tanzlehrer Marie Antoinettes. „Erlehrte uns wie wir gehen und grüßen mussten. Wir übertrugen Formen und Manieren in die Welt, die uns überall auszeichneten.“


Die Gesellschaft ist mächtiger als der einzelne, sei er selbst der Größte und Höchste; sie nötigt die Parvenüs, ein gesittetes Benehmen anzunehmen und zwingt sie in ihre Form, Formen nach denen sie selbst erst tastet. Nach dem Thermidor ist es in Paris durchaus guter Ton, zu trauern; die gute Gesellschaft kommt eben aus dem Gefängnis, sieht blass und angegriffen aus — also gibt sich auch die Frau, die nicht dazu gehört, das air, als sei sie lange eingesperrt gewesen und habe den Tod von Verwandten zu beklagen. Zu dem hocharistokratischen „Ball der Opfer“ im Hotel Richelieu wird überhaupt nur zugelassen, wer Eltern oder Geschwister. unter der Guillotine verloren hatte, bloß einen Onkel oder Tante eingebüßt zu haben, war nicht genug! Man rasierte sich die Haare im Nacken, wie vor der Hinrichtung; man grüßte sich mit einem Nicker, als solle der Kopf in den Korb des Scharfrichters fallen und die Damen markierten durch ein ganz schmales rotes Halsband die Stelle ...... na, Sie wissen schon! — Aus dieser Frivolität fiel die neue Gesellschaft in das Gegenteil, die affektierteste Empfindelei.

Als Mme. Tallien einmal in einer ihrer Soireen eine Dame bitten will, ein Lied zu singen, kniet sie vor ihr nieder, hebt die schönen Arme empor und fleht mit gefalteten Händen um diese Gunst, verweilt auch in dieser schönen Attitüde, — mit den seelenvollen Augen an den Lippen der Sängerin haftend — bis die Dame das Lied geendet hat! Alles ist von ihren Bewegungen und ihrem Ausdruck entzückt und — wer sich's traut, macht's nach! Man posiert immer; die Damen empfangen auf ihrem griechischen Bett ruhend, verharren in schönen Stellungen, drapieren sich, immer auf der Suche nach dem Effekt, den sie durch Ohnmachten, Nervenkrisen u. dergl. auf das Interessanteste zu steigern versuchen. Wenn Dlle. Kirchgessner auf der Harmonika konzertiert, dann haben die „nervenerschütternden Töne“ dieses Instrumentes bei den Hörerinnen Nervenzufälle zur Folge; wenn Mme. Chevalier im „Blaubart“ singt, werden alle Damen ohnmächtig; Kotzebues „Menschenhass und Reue“ entfesselt auch in Paris und London wahre Tränenstrome usw. ! Die französische Gesellschaft hatte ihren Stil verloren, diejenige der östlichen Länder hatte ihn überhaupt erst zu gewinnen. Aus Berlin, der Hauptstadt des damals halb slawischen Preußen, wird 1791 berichtet, dass, wenn Höherstehende zu gesellschaftlich unter ihnen Stehenden eingeladen sind, sie sich schlechter anziehen, als sie sonst tun würden, der Herr geht dann ohne Degen, die Dame legt keine Brillanten an und behält den Hut auf. — Melesina Trench, eine Engländerin, die 1800 Berlin besuchte, bemerkt: es kommt mir wie eine Provinzstadt vor mit einer großen Garnison und seine Manieren stehen nicht höher wie seine Moral. Die Frauen sind ganz unglaublich borniert und besitzen nicht einmal äußere Vorzüge. Ich vergebe es ihnen, weil es eine Folge ihrer schlechten Erziehung ist, aber den schlechten Geschmack im Anzug und im Tanzen verstehe ich nicht, denn diese sind das Studium ihres Lebens. — 1806 schreibt Achim von Arnim über die Redoute, bei der die Königin Luise als Titania erschien, dass die Hofgesellschaft gelangweilt, das Publikum groß geworden oder stumm geblieben sei, und wieder Jahre später bleibt auch Gabriele von Bülow dabei, dass eigentliche gesellschaftliche Liebenswürdigkeit in Berlin nicht zu Hause sei, die Leute seien zu schwerfällig und es herrsche ein Mangel an Form. So bereitet Herr von Bonnay, französischer Gesandter in Berlin, seinen Attaché Herrn von Cussy auf Berlin vor: „Sie werden viele brave Leute finden aber nicht einen Menschen, der Takt besitzt.“

Zu neuen Formen des Verkehrs, die sich bilden, tritt auch eine neue Art der Geselligkeit. Die gutbürgerliche Gesellschaft begründet ihre Geselligkeit nicht auf konventionellen Zwang, sondern auf freie geistige Übereinstimmung der Beteiligten; sie bringt dazu als Gegensatz zur Galanterie, dem Hauptelement der aristokratischen Gesellschaft, das Schwergewicht ihres Wissens mit. Der Endzweck ihres Zusammenseins wird Bildung; die Lesekränzchen werden Mode. Man liest Theaterstucke mit verteilten Rollen, oder jemand aus dem Kreise liest vor, während die anderen sich beschäftigen, die Damen mit Vorliebe Handarbeiten machen. So zeigt uns z. B. ein hübsches Bild den Weimarischen Kreis der Herzogin Anna Amalia, so hören wir von Frau Rat Goethe begeisterte Beschreibungen der Kränzchen bei Bethmanns, Schwarzkopf u. a., wo Don Carlos und Wallenstein gelesen werden. Clemens Brentano liest in Jena mit jungen Mädchen die eben erschienene „Lucinde“; Goethe hat seine Mittwochsgesellschaft, wo er seinen Damen Vorträge hält; die Grimms in Kassel ihre Lesegesellschaft alle Freitag; in Berlin sammelt Henriette Herz Gleichgesinnte zu: Schöngeisterei, in Halle ist das Haus des Kapellmeisters Reichardt der Mittelpunkt eines harmlosen Kreises. Wie man in ihm seine Freude hauptsächlich in der Musik suchte, so auch anderwärts; heißt doch „sich wohl fühlen“ für so viele nicht anderes, als laut sein. Der gemeinschaftliche Gesang im Familien- und Freundeskreise wird mit Vorliebe gepflegt. Wir er kennen das auch aus den vielen Liedern, die sich in damalig Romane eingestreut finden und die bei ihrer Veröffentlichung gleich mit Kompositionen erschienen. In den Taschenbüchern und Almanachen fehlen die Musikbeilagen so wenig, wie in Goethes, Arnims u. a. Romanen.

Die Mandoline, die Gitarre sind in jedermanns Hand, Clemens Brentano wandert mit ihr rheinauf und rheinab, sich in die Herzen aller hübschen Madchen singend und wird nur böse, wenn sie den schwarzlockigen Jüngling ungebeten küssen, wie es die Thüringerinnen in Langensalza tun! Caroline von Dacheroden berichtet ihrem Verlobten voll Stolz, wie einer ihrer Courmacher die Mandoline genommen und sie schmachtend angesungen hatte! Die Saiteninstrumente behaupten in der Hausmusik noch durchaus den Vorrang vor dem Klavier. Aus solch gesellig betriebenem Gesang entstand in Berlin die Singakademie, die anfänglich zweimal wöchentlich bei Frau Generalchirurgus Voit geb. Pappritz zusammenkam, 1794 aber in den ovalen Saal der Akademie übersiedelte, wo sie ihre Übungen dann unter Zelter und Fasch hielt. 1797 zählt sie schon 70 Köpfe.

Teegesellschaften verdrängen den Kaffeeklatsch; in den neunziger Jahren ist die Teestunde 7 Uhr. Bei Mittagsessen wird noch in „Trachten“ serviert, d. h. mehrmals nacheinander kommt ein nach unseren Begriffen ganzes Diner auf den Tisch, 7 — 8 Schüsseln, Braten, Fisch, Geflügel, Pasteten, Salate, alles auf einmal; der Wirt legt vor und nötigt. Diese Besetzung wird zwei bis dreimal erneuert und am Schluss wird der Tisch nochmals mit einer Tracht verschiedener süßer Speisen besetzt. Natürlich waren Gemüse und Obst nur außerhalb ihrer Jahreszeit geschätzt; in Petersburg ließ sich der Herzog von Vicenza im Winter Kirschen das Stuck 5 Rubel und Birnen 1 Louisdor kosten! Die zunehmende Teuerung schränkte diesen Luxus allerdings allmählich ein; 1800 schreibt eine Hamburger Dame, sie könne ihren Gästen nur noch Karpfen und Kalbsbraten vorsetzen, die Zeiten seien zu schlecht.

Als Mittelpunkt der bürgerlichen Geselligkeit bilden sich Etablissements, die Lesezirkel, Leihbibliothek, Spielsaal und Konditorei vereinigend, von den Unternehmern „Museum“ genannt werden. Solcher gibt es 1802 schon recht viele: Pinther in Dresden, Beygang in Leipzig, Campe in Hamburg, Eßlinger in Frankfurt a. M. erlauben ihren Stammgästen für einen Jahresbeitrag, der 1796 in Leipzig 12 Taler betrug, an allen Veranstaltungen ihres Instituts teilzunehmen.

Der antikisierende Zug, der durch die Zeit geht, macht sich vor allem in den Festen geltend. Schon vor der Revolution veranstaltete die schöne Malerin Vigée-Lebrun Symposien, wo alle Gaste antik gekleidet erscheinen mussten, auf Ruhebetten lagen, statt zu sitzen, wo man den Wein aus Vasen trank und schöne Knaben bedienten. Diese Spielereien brachte David dann bei den Aufzügen, die er in Paris arrangierte, in großem Maßstab zur Geltung und ihr Stil behauptete sich dann für Jahrzehnte, kein öffentliches Fest in Paris, Berlin, München, Pyrmont oder sonstwo ohne Tempel, Priesterinnen, Nymphen u. dgl.

Das setzt sich bis in die Familien fort. Als der alte Herr von Manteuffel in Kurland seinen Geburtstag feiert, da planen die Tochter als Höchstes einen künstlichen Hain mit Altar, an dem sie selbst opfern wollen; Goethe und Wolf werden in Helmstadt beim Essen von schönen Madchen bekränzt; Fürst Borghese lässt bei einem Ball, den er 1810 in Paris gibt, ganz wie in der römischen Kaiserzeit, Saal und Gartenwege mit Rosenblättern bestreuen; Kostümbälle wickeln in ihren Maskenzügen, wie sie Goethe in Weimar, Hofrat Hirt in Berlin entwerfen, ganze allegorisch-mythologische Programme ab. Der übertriebene Wert, der im Leben auf Bildung gelegt wird, bringt auch in das Vergnügen einen leicht doktrinären Zug, der sich u. a. auch in dem neuen Gesellschaftsspiel: dem Stellen lebender Bilder nach berühmten Meistern äußert. In Wien aufgebracht, hat diese Unterhaltung zumal 1814 bei den großen Hoffesten des Kongresses Furore gemacht und sich von dieser Zeit an in alle Kreise verbreitet; die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft auf sich allein lenken zu können, welch Triumph der Eitelkeit!

Um sich von der arbeitenden Mittelklasse zu unterscheiden, bevorzugt die gute Gesellschaft die späten Stunden. „Morgen“besuche darf man 1803 in Paris nur von 2—5 Uhr nachmittags machen; zum Souper beim Grafen Lucchesini wird man um 2 Uhr des Nachts geladen; das Mittagessen nimmt man in London zwischen 6 und 7 Uhr abends, ja, Lady Giorgina Gordon lässt ihr Diner erst um 3 Uhr morgens servieren! Die Gräfinnen Osmond und Boigne gehen zu einer Soirée in Hertfort House nach Mitternacht und sind die Ersten! 1807 beginnt in Wien ein Ball beim Grafen Palffy erst um 11 Uhr und endet um 8 Uhr mit einem Frühstück, dazu passt es dann, wenn man in Hamburg zu Mittagessen vier Wochen vorher eingeladen wird!

1816 The Repository, London
Debucourt, Die Tanzkrankheit
Lefèvre, Pauline Duchambje
L. F. Aubry, Miniaturbildnis 1817
Opitz, Eislaufen nächst der Stubentorbrücke in Wien (aus Leisching, Der Wiener Kongress)