Empfindelei
Im Verkehr macht sich eine Gefühlsseligkeit geltend, eine ins All verschwimmende Rührung, welche die schönen Geister zwingt, sich beständig mit den Gefühlen und Gefühlchen des eigenen Ich zu beschäftigen. Man muss ein Tagebuch des eigenen Herzens führen, damit man es Freunden mitteilen kann; man ist auf Weinen trainiert, denn es schickt sich bei jeder Gelegenheit in Tränenstrome zu zerfließen!
Die Überschwänglichkeit ist guter Ton, sie verlangt eine gesteigerte Ausdrucksweise und so ist vieles, was uns in den schriftlichen Aufzeichnungen jener Zeit so geschraubt vorkommt, nichts als der Niederschlag der gesellschaftlichen Konvention von damals; heute posiert der Snob mit Skeptizismus, damals mit Gefühl. Karoline von Dacheröden schreibt über sich selbst an ihren Bräutigam: „Trage sie mit erbarmender Liebe in Deiner heiligen Seele“ und Wilhelm von Humboldt antwortet ihr: „Still anbetend kann ich Dich nur in tiefer Seele empfinden.“ Diese überstiegene Empfindung hindert beide nicht, einige Zeilen weiter ganz kalt und praktisch über die Behandlung von Papa und Mama, über Köchin, Bügeleisen, Wäsche u. dergl. zu verhandeln; derlei „Überschwänglichkeiten hindern vor allem die hochbegabte Schreiberin nicht daran, eine vorzügliche Gattin und Mutter zu werden, die, als der Überschwang nicht mehr de rigueur ist, wundervolle Briefe voll wahrer Empfindung und feinster Beobachtung schreibt.
Diese überzarte Empfindsamkeit ist dann gelegentlich auch nichts anderes, als Maske für die Rohheit. Als z. B. Kotzebue auf einer Reise nach Paris Weimar besucht und seine Frau dort lebensgefährlich erkrankt, da reist er sofort weiter, als der Arzt ihm mitteilt, dass sie sterben werde, denn es würde sein Herz brechen, müsste er beim Tode der über alles geliebten Gattin zugegen sein. Oder die Frivole hüllt sich in Empfindsamkeit, wenn eine der anmutigsten und liebreizendsten Frauen jener Zeit, Karoline (von Schelling, geschiedene Schlegel, nicht verheiratete Forster, verwitwete Boehme, geborene Michaelis), als sie mit 30 Jahren glücklich den vierten Mann hat, an eine Freundin schreibt: „Ach, ich war zur Treue geboren!“ Vielleicht dachte auch Karoline von Lengefeld so über sich, die, an Herrn von Beulwitz verheiratet, erst Schiller glühend liebt, dann Dalberg, und sich schließlich scheiden lasst, um — Wolzogen zu ehelichen.
Empfindelei und Empfindsamkeit nehmen ganz eigene Formen an, wenn es sich um den Verkehr zwischen den Geschlechtern handelt, da entstehen so besondere Verhältnisse, so zärtliche Beziehungen, dass sie um so schwerer zu beurteilen sind, je verschiedenartiger Gefühl und Geist, Sinnlichkeit und Seele in diese zwischen Mann und Weib unmöglichen Freundschaften hineinspielen. Man denke nur an die wunderliche Mischung von platonischer und sinnlicher Liebe in den Beziehungen von Hölderlin und Susette Gontard, Creutzer und der Günderode, Schleiermacher und Henriette Herz, Tiedge und Elise von der Recke, Alfieri und der Gräfin Albany. Die einen sind daran zugrunde gegangen, die andern in diesen Gewissensehen ergraut. Die Moralbegriffe der Zeit waren äußerst weitherzig, sie achteten die Liebe als Band, aber nicht die Ehe. In Frankreich sprach man ganz ernsthaft von dem Sakrament des Ehebruchs, waren doch in dem ersten Jahr, nachdem 1791 eine Scheidung als gesetzlich zulässig anerkannt war, bereits 6.000 Ehen geschieden worden! Der Französin genügte als Scheidungsgrund die Maxime: car tel est notre bon plaisir!, so wechselt u. a. die schöne Thérèse de Cabarrus ihre Männer, weil die Veränderung ihr Freude macht. Wenn aber die Deutsche das gleiche tut, weil in ihrem Herzen der Richtigere dem Rechten folgt, wie es Therese Heyne-Forster-Huber; Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel; Sophie Schubert-Mereau-Brentano u. a. taten, so schwärmt und philosophiert sie über diesen Schritt, bis ,die Unbeständigkeit ganz hinter den herrlichsten und edelsten Gefühlen verschwindet.
Die freie Liebe predigten nicht nur die Großen: Schlegel in der Lucinde, Achim von Arnim in Hollin, Goethe in den Wahlverwandtschaften, weit pikanter schilderten sie die kleinen Erzähler und weit selbstverständlicher lebten sie die Unbekümmerten. An Goethes Verhältnis mit Christine Vulpius hat nur die Eifersucht der Frau von Stein etwas zu tadeln gefunden, des Dichters Mutter hatte ihre Freude daran. Die berühmte Giftmischerin Sophie Ursinus lebte jahrelang mit Wissen der Beteiligten in einem dreieckigen Verhältnis mit ihrem Mann und dem Kapitän Ragay; Marianne Jung gehört Willemer lange, ehe sie seine Frau ist.
Wie dann die Ära der Napoleonischen Kriege zu schnellerem Leben trieb, zum Genusse förmlich peitschte, das erfährt man u. a. aus den ergötzlichen Erinnerungen von C. Friedrich, jenem hessischen Offizier, den seine Feldzüge in allen Ländern Europas einen frischen und fröhlichen Ritt durch die Ehebetten aller Nationen machen lassen. Er erzählt auf jeder Seite, dass zu langem Besinnen keine Zeit war und so dachte auch Frl. Bethmann, als sie sich auf der Frankfurter Hauptwache die Nacht über zu dem Grafen Flavigny einsperren ließ, um ihre Familie zur Einwilligung in die Hochzeit zu zwingen; so dachte Auguste Bußmann, als sie 1807 Clemens Brentano entführte. Diese laxen Anschauungen kennzeichnet auch der erstaunte Ausruf Davousts, als ihm eine deutsche Fürstin ihre Kinder vorstellte : „on voit bien que vous demeurez à la campagne, tous vos enfants se ressemblent!“
Gräfin Marianne von der Mark, Tochter Friedrich Wilhelms II. und der Lichtenau, war dreimal geschieden, ihr erster Gatte Graf Friedrich Stolberg hatte sich ebenfalls dreimal scheiden lassen. Die Fürstin Amalie Hohenlohe geborene Gräfin Hoym, Mutter von 6 Kindern, lief mit dem Leutnant von Sacken davon. An die Abenteuer der Elise Burger geborene Hahn, die ihrem unglücklichen Mann schon im ersten Monat ihrer Ehe die Treue brach, braucht man nur zu erinnern, ebenso wie an Zacharias Werner, der bevor er Geistlicher wurde, dreimal verheiratet und dreimal geschieden war.
1795 Gallery of fashion, London
Fürst Metternich
Boilly, Ankunft der Post (Ausschnitt)
1795 Gallery of fashion, London
Debucourt, Les petits messieurs à la mode
Die Überschwänglichkeit ist guter Ton, sie verlangt eine gesteigerte Ausdrucksweise und so ist vieles, was uns in den schriftlichen Aufzeichnungen jener Zeit so geschraubt vorkommt, nichts als der Niederschlag der gesellschaftlichen Konvention von damals; heute posiert der Snob mit Skeptizismus, damals mit Gefühl. Karoline von Dacheröden schreibt über sich selbst an ihren Bräutigam: „Trage sie mit erbarmender Liebe in Deiner heiligen Seele“ und Wilhelm von Humboldt antwortet ihr: „Still anbetend kann ich Dich nur in tiefer Seele empfinden.“ Diese überstiegene Empfindung hindert beide nicht, einige Zeilen weiter ganz kalt und praktisch über die Behandlung von Papa und Mama, über Köchin, Bügeleisen, Wäsche u. dergl. zu verhandeln; derlei „Überschwänglichkeiten hindern vor allem die hochbegabte Schreiberin nicht daran, eine vorzügliche Gattin und Mutter zu werden, die, als der Überschwang nicht mehr de rigueur ist, wundervolle Briefe voll wahrer Empfindung und feinster Beobachtung schreibt.
Diese überzarte Empfindsamkeit ist dann gelegentlich auch nichts anderes, als Maske für die Rohheit. Als z. B. Kotzebue auf einer Reise nach Paris Weimar besucht und seine Frau dort lebensgefährlich erkrankt, da reist er sofort weiter, als der Arzt ihm mitteilt, dass sie sterben werde, denn es würde sein Herz brechen, müsste er beim Tode der über alles geliebten Gattin zugegen sein. Oder die Frivole hüllt sich in Empfindsamkeit, wenn eine der anmutigsten und liebreizendsten Frauen jener Zeit, Karoline (von Schelling, geschiedene Schlegel, nicht verheiratete Forster, verwitwete Boehme, geborene Michaelis), als sie mit 30 Jahren glücklich den vierten Mann hat, an eine Freundin schreibt: „Ach, ich war zur Treue geboren!“ Vielleicht dachte auch Karoline von Lengefeld so über sich, die, an Herrn von Beulwitz verheiratet, erst Schiller glühend liebt, dann Dalberg, und sich schließlich scheiden lasst, um — Wolzogen zu ehelichen.
Empfindelei und Empfindsamkeit nehmen ganz eigene Formen an, wenn es sich um den Verkehr zwischen den Geschlechtern handelt, da entstehen so besondere Verhältnisse, so zärtliche Beziehungen, dass sie um so schwerer zu beurteilen sind, je verschiedenartiger Gefühl und Geist, Sinnlichkeit und Seele in diese zwischen Mann und Weib unmöglichen Freundschaften hineinspielen. Man denke nur an die wunderliche Mischung von platonischer und sinnlicher Liebe in den Beziehungen von Hölderlin und Susette Gontard, Creutzer und der Günderode, Schleiermacher und Henriette Herz, Tiedge und Elise von der Recke, Alfieri und der Gräfin Albany. Die einen sind daran zugrunde gegangen, die andern in diesen Gewissensehen ergraut. Die Moralbegriffe der Zeit waren äußerst weitherzig, sie achteten die Liebe als Band, aber nicht die Ehe. In Frankreich sprach man ganz ernsthaft von dem Sakrament des Ehebruchs, waren doch in dem ersten Jahr, nachdem 1791 eine Scheidung als gesetzlich zulässig anerkannt war, bereits 6.000 Ehen geschieden worden! Der Französin genügte als Scheidungsgrund die Maxime: car tel est notre bon plaisir!, so wechselt u. a. die schöne Thérèse de Cabarrus ihre Männer, weil die Veränderung ihr Freude macht. Wenn aber die Deutsche das gleiche tut, weil in ihrem Herzen der Richtigere dem Rechten folgt, wie es Therese Heyne-Forster-Huber; Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel; Sophie Schubert-Mereau-Brentano u. a. taten, so schwärmt und philosophiert sie über diesen Schritt, bis ,die Unbeständigkeit ganz hinter den herrlichsten und edelsten Gefühlen verschwindet.
Die freie Liebe predigten nicht nur die Großen: Schlegel in der Lucinde, Achim von Arnim in Hollin, Goethe in den Wahlverwandtschaften, weit pikanter schilderten sie die kleinen Erzähler und weit selbstverständlicher lebten sie die Unbekümmerten. An Goethes Verhältnis mit Christine Vulpius hat nur die Eifersucht der Frau von Stein etwas zu tadeln gefunden, des Dichters Mutter hatte ihre Freude daran. Die berühmte Giftmischerin Sophie Ursinus lebte jahrelang mit Wissen der Beteiligten in einem dreieckigen Verhältnis mit ihrem Mann und dem Kapitän Ragay; Marianne Jung gehört Willemer lange, ehe sie seine Frau ist.
Wie dann die Ära der Napoleonischen Kriege zu schnellerem Leben trieb, zum Genusse förmlich peitschte, das erfährt man u. a. aus den ergötzlichen Erinnerungen von C. Friedrich, jenem hessischen Offizier, den seine Feldzüge in allen Ländern Europas einen frischen und fröhlichen Ritt durch die Ehebetten aller Nationen machen lassen. Er erzählt auf jeder Seite, dass zu langem Besinnen keine Zeit war und so dachte auch Frl. Bethmann, als sie sich auf der Frankfurter Hauptwache die Nacht über zu dem Grafen Flavigny einsperren ließ, um ihre Familie zur Einwilligung in die Hochzeit zu zwingen; so dachte Auguste Bußmann, als sie 1807 Clemens Brentano entführte. Diese laxen Anschauungen kennzeichnet auch der erstaunte Ausruf Davousts, als ihm eine deutsche Fürstin ihre Kinder vorstellte : „on voit bien que vous demeurez à la campagne, tous vos enfants se ressemblent!“
Gräfin Marianne von der Mark, Tochter Friedrich Wilhelms II. und der Lichtenau, war dreimal geschieden, ihr erster Gatte Graf Friedrich Stolberg hatte sich ebenfalls dreimal scheiden lassen. Die Fürstin Amalie Hohenlohe geborene Gräfin Hoym, Mutter von 6 Kindern, lief mit dem Leutnant von Sacken davon. An die Abenteuer der Elise Burger geborene Hahn, die ihrem unglücklichen Mann schon im ersten Monat ihrer Ehe die Treue brach, braucht man nur zu erinnern, ebenso wie an Zacharias Werner, der bevor er Geistlicher wurde, dreimal verheiratet und dreimal geschieden war.
1795 Gallery of fashion, London
Fürst Metternich
Boilly, Ankunft der Post (Ausschnitt)
1795 Gallery of fashion, London
Debucourt, Les petits messieurs à la mode
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Mode - Menschen und Moden im neunzehnten Jahrhundert. 1790 bis 1817