Die Kirche

Empfindung und Gefühl mussten diesem Geschlecht auch den Zusammenhang mit der Kirche ersetzen, der völlig verloren gegangen war. Die Anschauungen der englischen Deïsten hatte Voltaire in seinem berühmten „ècrasez l'infame“ über ganz Europa hingeschrien, mit einem solchen Erfolg, dass der Unglaube der guten Gesellschaft als Modeton auch die weitesten Schichten des Bürgertums durchdrungen hatte. Nicht nur die hohe Geistlichkeit selbst war ungläubig — der letzte Kurfürst von Mainz war ein ausgesprochener Freigeist; Graf Trautson, Erzbischof von Wien, galt für einen heimlichen Protestanten; die Domherren der deutschen Hochstifte ersetzten in ihren Wohnungen die Marienbilder durch Büsten von Voltaire und Rousseau — , auch bei der Allgemeinheit hatten die Bekenntnisse sich so verwischt, dass man allen Ernstes eine Vereinigung der Konfessionen in einer Gesamtkirche mit Napoleon als Oberhirten für möglich hielt!

Die Gebildeten legten gar keinen Wert auf ein bestimmtes Bekenntnis. Wilhelm von Humboldt lässt seine Kinder lutherisch, anglikanisch oder katholisch taufen, wie es gerade passt; Savignys lassen ihre Söhne erst zu verständigem Alter kommen, damit sie sich selbst die Konfession wählen können und der eine von ihnen wird katholisch, weil — in Berlin ja ohnehin jeder dumme Junge protestantisch sei!


Die Toleranz der Geistlichen wetteifert mit der Gleichgültigkeit der Gemeinde. Die Theologen disputieren so heftig gegen alle Wunder und Mysterien des Glaubens, dass von dem ganzen Christentum nichts als die Zweckmäßigkeit übrig bleibt; mit Dogmen und Symbolen verfällt die Bibel der Geringschätzung. Der Prediger Hufnagel in Frankfurt entnimmt die Texte seiner Predigten aus Hermann und Dorothea; andere behandeln zu Weihnachten den Nutzen der Stallfütterung. In Berlin predigte der Pastor Schulz, der „Zopfschulz“ über die Wunder des Neuen Testaments nach der Disposition: 1. Diese Geschichte ist nicht wahr. 2. Wenn sie wahr wäre, so hatte sie kein Interesse für uns. Die Trauung von Kügelgen und Lilla wird improvisiert, wie die von Vossens Luise; die Totenfeier des Herzogs Georg von Meiningen begehen 1804 Nymphen und Genien an blumengeschmückten Altären; der Religionsunterricht legt es in seiner schematischen Art förmlich darauf ab, die Gemüter der Kinder gegen das Christentum zu erkälten.

Bosio, Blindekuh (aus „Le bon Genre“)

Schenker, Blindekuh (aus „Le bon Genre“)

Marguerite Gérard, Eheglück. Um 1805