Die Milchstraße

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Max Valier, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Milchstraße, Himmel, Sterne, Planeten, Sternenstraße, Himmelsbeobachter,
Unter allen Wundern am Sternenzelte hat von jeher die Milchstraße die Aufmerksamkeit der Himmelsbeobachter in ganz besonderem Maße auf sich gezogen. Aber nicht nur diese mit der Überwachung des Firmamentes betrauten Jünger Uranias, sondern auch die Völker der Erde in ihrer Gesamtheit haben einst das sternenflimmernde, nebelhafte Band mit heiliger Ehrfurcht vor der erhabenen Größe dieses kosmischen Rätsels betrachtet. Sicherlich hat der Höhlenbewohner der letzten Eiszeit, ja der Urmensch vergangener Jahrhunderttausende, da noch die Saurier die Erde bevölkerten, seinen Blick öfter und andächtiger zu der milchig schimmernden Sternenstraße erhoben als der heutige sogenannte Kulturmensch unserer Großstädte, der, geblendet von einer augenmörderischen, nervenzerrüttenden Lichtreklame, gar nicht zu reden von der gewöhnlichen Straßenbeleuchtung durch starke elektrische Lampen, selbst die hellsten Fixsterne nicht mehr zu sehen vermag. So kommt es, dass heute wohl die meisten Menschen in den Kulturländern das Wunder der Milchstraße lediglich noch vom Hörensagen kennen. Und wirklich, nur fern von jedem störenden Licht, fern auch von allen Dünsten, vom Staub des Alltags, auf freier Bergeshöhe oder auf hoher See, in mondloser, sternklarer Nacht, offenbart sich die Milchstraße in ihrer vollen Pracht und überirdischen Herrlichkeit. Nur dort, wo die Erde dem Auge, das sich nach oben wendet, versinkt, wird sie zum innersten Erlebnis eines Schauens, das mehr als bloßes Sehen ist.

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Bedenken wir, dass an jedem Punkte der Erde in irgend einem Augenblick stets nur die eine Hälfte des uns rings umgebenden Himmelsraumes überblickt werden kann, dass weiter die Teile der Milchstraße, die am steilsten zu unseren Häuptern stehen, stets wesentlich besser zu erkennen sind als die gerade dem Horizont naheliegenden, so sehen wir sogleich, dass zur Gewinnung eines vollständigen Übersichtsbildes des Milchstraßenzuges sehr viele, über das ganze Jahr verteilte Beobachtungsnächte notwendig sind. Aber auch bei völliger Ausnützung aller Gelegenheiten wird in unseren Breiten der nördlichen Erdhalbkugel doch stets ein Teil des Milchstraßenbandes unsichtbar bleiben müssen, nämlich jener Bogen, der dem Südpol des Himmels am nächsten kommt.

Bevor die großen Weltumsegler auf ihren Entdeckungsfahrten über den Äquator tief nach Süden vorgestoßen waren, wusste man nichts über den Verlauf des Bandes in jenen Zonen, konnte also auch nicht irgendwelche Schlüsse über seinen Zusammenhang ziehen, zumal schon der bei uns sichtbare Teil so große Helligkeitsunterschiede und Unregelmäßigkeiten der Gestaltung aufwies. Es war also keineswegs ausgemacht, ob die Milchstraße wirklich ein geschlossener Reifen sternflimmernden Schimmers ist, der den ganzen Himmel umspannt, oder bloß ein hufeisenartig geöffnetes Gebilde oder sonst irgendeine kosmisch rätselvolle Gestaltung.

Heute wissen wir, dass die erste Annahme, die des Reifens, tatsächlich zu Recht besteht, wenn er auch kein größter Himmelskreis ist, sondern etwa um drei Bogengrade von einem solchen abweicht, und wenn auch nahe der südlichsten Stelle das Lichtband außerordentlich matt und schmal wird, so dass auf den ersten Blick der Eindruck einer Lücke entsteht, während der bei uns sichtbare, dem Himmelsnordpol nahegelegene Bogen sehr hell, breit und in mehrere Arme gespalten erscheint.

Der Verlauf der Milchstraße lässt sich an Hand der Übersichtskarten sehr leicht verfolgen. Beginnen wir links am Rande des oberen Streifens, so ist der helle Stern dort Capella im Fuhrmann. Von ihm senkt sich der hellste Teil des Bandes etwas gegen den Perseus her, um längs dessen Sternenkette dann wieder nach rechts anzusteigen und auf das einprägsame Sternbild der Cassiopeia zuzustreben, deren fünf Hauptsterne die Gestalt eines großen lateinischen W bilden. Von dort zieht das Band dann über Cepheus und Eidechse auf das große Kreuz des Schwanes zu, wo es sich schon merklich in zwei hellere Arme spaltet, die einen matteren Zwischenraum zwischen sich lassen. Der untere Arm zieht dann über das kleine Bildchen des Pfeils auf den Adler zu, der obere trennt sich völlig und biegt zum Ophiuchos ab, um dort zu verschwinden. Unweit unterhalb des Himmelsäquators, der zwischen Adler und Schild überschritten wird, erlangt die Milchstraße ihre größte Helligkeit im Sternbild des Sobieskischen Schildes und des Schützen. Die helle Stelle im Längsbalken des Kreuzes im Schwan ist nach neueren Messungen nicht die überhaupt lichtkräftigste, sondern gehört in den dritten Rang. Im Skorpion ist die Milchstraße sehr breit und in viele Wolken aufgelöst, so dass es sehr schwierig ist, ihren Zug anzugeben. Offensichtlich ist bloß, dass sich hier der im Ophiuchos verlaufende obere Ast wieder aus dem dunklen Himmelsgrunde erhebt und dem Gesamtzuge anschließt. Über die bei uns schon nicht mehr sichtbaren Sternbilder des Altars und Winkelmaßes, über Wolf, südliches Dreieck und Zirkel geht es dann auf die Hauptsterne des berühmten Zentauren zu. Von dort zum Kreuz des Südens ist es nicht mehr weit. Hier erreicht das Milchstraßenband seine dem Südpol des Himmels nächste Stelle. Es ist im allgemeinen matt und schmal und weist inmitten seines Zuges dunkle Stellen, die „Kohlensäcke“, auf. Mit dem Eintritt in das ausgedehnte Sternbild des Schiffes Argo beginnt der Emporstieg wieder. Hier hat das Band seine geringste Breite und seinen schwächsten Glanz. Die erste nimmt freilich rasch wieder zu, je mehr der Zug zum Bilde des Großen Hundes heraufführt, das wir in unseren Breiten wiedersehen können. Aber der Lichtschein bleibt immer noch blass, auch links vom Orion über das Einhorn herauf, bis in die Zwillinge. Erst in diesem letztgenannten Bilde zeigen sich wieder einige eiförmige, hellere Stellen, worauf mit dem Übergang in das Sternbild des Fuhrmanns der Ring sich schließt, dessen Beschreibung wir mit Capella begonnen haben.

Ist die Milchstraße in der Gesamtheit ihrer Erscheinung, wie sie schon vom freien Auge wahrgenommen werden kann, wundersam und geheimnisvoll, so wird sie umso rätselhafter, je mehr wir sie nach Verlauf und Lage mit unseren sonstigen, bis heute erarbeiteten Kenntnissen über den Bau der Fixsternwelt in Verbindung bringen. Zum Verständnis sei hier folgendes eingeschaltet: Unter dem „Apex“ versteht man jenen ausgezeichneten Punkt der Himmelskugel, auf den hin sich unsere Sonne mit der ganzen Heerschar ihrer Planeten nach unseren heutigen Kenntnissen mit einer Geschwindigkeit von etwa zwanzig Kilometersekunden geradlinig hinbewegt, das heißt den „Zielpunkt des raumdurcheilenden Sonnenfluges“. Unter Antiapex aber verstehen die Sternforscher seinen Gegenpunkt, die Richtung also, aus der die Sonne herkommt. Es ist nun höchst auffällig, dass die Milchstraße unweit links vom Apex ihre größte Breite und Gesamthelligkeit, unweit links vom Antiapex aber ihre schmalste und fadenscheinigste Stelle hat. Dies allein deutet schon darauf hin, dass zwischen unserer Sonne (einschließlich ihres Planetenreiches) und dem flimmernden Milchstraßenbande irgendein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen muss. Das wäre schon bewunderungswürdig genug, allein es zeigt sich, dass auch fast alle sonstigen Gattungen von Fixsternen und Himmelskörpern in irgendeiner Weise zur Milchstraße oder doch ihrer räumlichen Lage in Beziehung stehen. So lieben die großen, sogenannten Gasnebelflecke die Ränder der Milchstraße, auch die „neuen Sterne“ bevorzugen diese Gegenden, die Sternhaufen, besonders die kugelförmigen, beobachten zu ihr ein eigenartiges Verhalten, und die Spiralnebel scheinen sie wie einen Feind zu fliehen, denn sie sind gerade an den Polen des glitzernden Bandes am häufigsten. Erschiene es noch verhältnismäßig leicht begreiflich, dass ein so gewaltiges Gebilde wie die Milchstraße zu unserem Sonnensystem in irgendeiner ursächlichen Verknüpfung steht, so will es doch im Rahmen des Weltbildes der heutigen Wissenschaft noch keineswegs recht einleuchten, wieso die Milchstraße auch noch für die Verteilung der fernsten Himmelsgebilde, der Gasnebel, Kugelsternhaufen und Spiralnebel, eine so maßgebende Stellung einnehmen kann.

Rätsel über Rätsel und Wunder über Wunder tun sich auf, je näher man die Milchstraße untersucht, ins besonders, wenn man dem blassen Schimmer, der dem freien Auge nur wie lichter Nebel in unbestimmten Umrissen erscheint, mit den stärksten Riesenfernrohren und besonders Spiegelteleskopen in vielstundenlangen Fotoaufnahmen zu Leibe rückt. Je stärker die angewandten Mittel sind, umso mehr schwindet der unbestimmte Schimmer und wird ersetzt durch Hunderttausende, ja Millionen und aber Millionen von einzelnen Lichtpünktchen (vergleiche unser Bild nach einer Aufnahme Barnards am Bruceteleskop bei dreieinhalb Stunden Belichtung, darstellend das Milchstraßengebiet nördlich vom Fixstern Theta Ophinuchi). Zu denken, dass all diese winzigsten Leuchtpunkte Fixsterne sind, das heißt Körper von der Größe unserer Sonne und darüber, mindestens ein jeder Punkt ein Ball, Millionen Mal so groß wie unsere Erde, sträubt sich schier die Vernunft - und dennoch weiß die fachwissenschaftliche Forschung vorläufig keinen anderen Ausweg. Nichts hindert ja, den Weltenraum so groß zu denken, als es beliebt und nötig ist, dieses Millionenheer von Sternen unterzubringen. Auf Grund der Forschung ist man zu der seit Herschels Zeiten bis auf den heutigen Tag im Großen und Ganzen in Geltung gebliebenen Anschauung gekommen, dass die Milchstraße in ihrer Gesamtheit ein kosmisches Gebilde höherer Ordnung ist, dass alle uns sichtbaren Einzelfixsterne und auch viele Sternhaufen und Nebelflecke umfasst. Mitglied eines solchen Fixsternhaufens von etwa vierhundert bekannten Körpern ist auch unsere Sonne, die sich nicht weit von dem Mittelpunkt des ganzen Riesensystems der Milchstraße befinden soll. Für den Größenvergleich von Sonnenreich und Milchstraßensystem und zur Erleichterung des Vorstellungsversuchs können am besten die Zeiten dienen, welche das Licht braucht, die beiderseitigen Grenzen zu durchmessen: acht Stunden beim Sonnenstaat, sechzehntausend Jahre mindestens beim Milchstraßengefüge.

Wunder des Weltalls, Ein Ausschnitt aus der Milchstraße

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