Zweites Kapitel. Versailles. — Eindruck auf mich. — Die Hofleute. — Der König. — Gerechtigkeit und Strenge, in einem Monarchen vereinigt, sind das Heil der Menschheit. — Porträt der Königin.

Wenig oder nichts Wahres und Befriedigendes ist über sie und ihre Umgebungen geschrieben worden. — Ihre Herzensgüte. — Pagenschule. — Pagengouverneur. — Meine Fortschritte im Lateinischen und in der französischen Verskunst. — Ich werde in Paris verführt. — Meine Strafe. — Herr Du Chilleau, zugleich verführt. — Teilt die Folgen. — Wir werden entdeckt. — Moralische Seite des Vorfalls. — Die Königin wird gegen mich eingenommen. — Was sich zu meiner Rechtfertigung sagen läßt. — (Ein Wort an die (Erzieher der Jugend. — Ich schreibe ein Drama. — Es wird zur Aufführung angenommen. — Der Prince d'Henin. — Sein Porträt. — Die Königin liest mein Stück. — Herr Campan. — Die Königin verzeiht mir. — Sie will nicht, daß ich mein Stück aufführen lassen soll. — Ihre Gründe. — Ich schlage mich. — Die Königin gibt mir Recht. — Mein Geständnis bei diesem ersten Duell. — Ein paar Worte über die folgenden.

Loin de ces vains apprêts, de ces petits prodiges,
Venez, suivez mon vol au pays des prestiges,
A ce pompeux Versailles, à ce riant Marly,
Que Louis, la Nature et l’Art ont embelli.
C’est là que tout est grand, que l’art n’est point timide;
Là, tout est enchanté; c’est le palais d’Armide,
C’est le jardin d’Alcine, ou plutôt d’um Héros,
Noble dans sa retraite, et grand dans son repos,
Qui cherche encore à vaincre, à dompter des obstacles,
Et ne marche jamais qu’entouré de miracles.


(Dellile, les jardins.)

Ein zweiter Telemach, geführt von einem zweiten Mentor, erreiche ich Versailles, ohne unterwegs auf eine zweite Eucharis zu treffen; die wahren Eucharisse sind in Paris. Ich hatte mir vorgestellt, in ein Feenland versetzt zu werden, und, siehe da! nichts von dem, was ich sah, erregte mein Staunen. So geht’s mit allem, was man sich in der Ferne als bewundernswürdig ausmalt; die Wirklichkeit steht immer der Selbsttäuschung und den Bildern der Phantasie nach. Dadurch, daß man mir Versailles und dessen Herrlichkeiten, den mannigfaltigen und pittoresken Reichtum seiner Umgebungen, die unbeschreibliche Pracht des Schlosses, des Parks, der Gärten, der Statuen usw., den Glanz, der den Thron unserer Könige umstrahlte, als lauter Wunder beschrieben hatte, war mein Kopf dergestalt exaltiert, daß ich mir Unmöglichkeiten erträumte und Schöpfungen verwirklichte, die es dem menschlichen Auge weder zu schauen noch zu erreichen gegeben ist.

Was mich am meisten und gleich im ersten Augenblicke frappierte, war der unermeßliche Abstand von Mensch zu Mensch und die Schmiegsamkeit, mit welcher die Insolenz sich in weniger als einer Minute in die kriechendste Unterwürfigkeit umwandelte. Ebenso auffallend war mir die geschäftige Beeiferung, die glatte Höflichkeit, die Beweglichkeit der Muskeln auf den Gesichtern, die Einförmigkeit in den angenommenen Stellungen und der Uebergang einer affektierten Kälte zu einer ebenso gemachten und erkünstelten Wärme.

Das hatte ich nicht in Büchern gelernt; auch hatte es mir, dem vierzehnjährigen Knaben, niemand gesagt.

Die Person des Königs brachte mich nicht aus der Fassung. Gestalt und Haltung waren nicht, wie ich sie mir gedacht hatte. Er hatte etwas Einfaches und Gutes; ich hätte ihn charaktervoller und majestätischer gewünscht. Sein Blick war der Blick eines Vaters auf seine Kinder; aber man las in seinen Augen nicht die Worte: „Ich werde euch bestrafen, wenn ihr es wagen solltet, Rebellen zu sein.“ Ach! Wir wissen es alle heutzutage: Strenge ist bei einem Könige eine Kardinaltugend; mit Gerechtigkeit verbunden, ist sie der Schutz und Hort einer Gewalt, von welcher Monarchen, als von einem anvertrauten Gute, dem Himmel Rechenschaft abzulegen haben.*) Strenge ist eine Tugend, deren vor allen anderen das Wohl der Menschen bedarf.

Es ist hier der Ort, von dem Aeußeren der Königin zu sprechen, welche damals in ihrem höchsten Glanze strahlte. Es wird später von ihrem moralischen Charakter die Rede sein.

Ueberhaupt ist dieses Werk nicht für die Politik bestimmt. Ich werde zwar, wenn sich eine Gelegenheit dazu darbietet, politischen Fragen nicht aus dem Wege gehen, sie aber nicht vorzugsweise aufsuchen. Ueberdies will ich mir selbst und dem Gange der Zeit nicht vorgreifen. Folglich werde ich von dieser Fürstin nur dann reden, wenn mein persönliches Verhältnis zu ihr es erfordert; dann aber nicht von ihr sprechen, wie andere; sondern sagen, was ich mit eigenen Augen gesehen und von unverwerflichen Zeugen gehört habe.

Ich werde von ihr sagen, was man nicht in Büchern findet, deren Verfasser zu weit von dem Kreise abstanden, in welchem sie sich bewegte; oder in Schriften von Faktionsmännern, die sich dadurch zu erheben wähnten, daß sie andere in den Kot traten; oder in Tagblättern von Elenden, die ihre Nachrichten aus den Antichambern zusammenrafften, sie in den Provinzen von Frankreich und in dem Ausland verbreiteten, wo sie begierig aufgenommen wurden, und leider nur zu oft für Wahrheit galten.**) Ich werde von der Königin ein Gemälde entwerfen, welches – und ich stehe dafür – der erhabenen Unglücklichen gleichen soll, die sich durch ihr Unglück mit ihren Feinden ausgesöhnt, und sich der Nachwelt auf eine Weise gezeigt hat, welche ihr das Mitleid der gefühllosesten Herzen gewinnen muß. Aber – ich wiederhole es – dieses Gemälde wird kein Standbild aus einem Gusse sein; der Leser wird die einzelnen Teile in diesen Memoiren aufsuchen und selbst die Mühe übernehmen müssen, ein Ganzes daraus zu bilden.

Marie Antoinette von Oesterreich, Königin von Frankreich, behandelte alle, welche um sie waren, mit außerordentlicher Güte; sie wurde von ihrer Dienstumgebung im Innern angebetet; zu dieser Klasse gehörten die Mächte, welche sie, mehr als man wohl glaubte, beherrschten. Für ihre Person war sie ohne Plan und tiefüberlegte Anschläge; hatte nur ein einziges Bestreben, die Sucht, sich von den Fesseln des Hofzwanges, von den Gewohnheiten und Vorschriften ihres Ranges zu befreien, dessen Würde, Majestät und Haltung sie jedoch zeigte, so oft sie es nur wollte; – nur wollte sie es nicht oft.

Ich habe die Schönheit der Königin vielfältig rühmen gehört, muß aber gestehen, daß ich nie ganz und ausschließlich dieser Meinung gewesen bin; dagegen besaß sie was auf dem Throne mehr als die vollkommenste Schönheit gilt, sie besaß das Wesen und die Gestalt einer Königin von Frankreich, selbst in Augenblicken, wo sie am meisten darauf bedacht war, sich nur als schöne Frau zu zeigen. In ihren Augen, obgleich sie nicht schön waren, malte sich jeder Seelenzustand; ich habe nie Wohlwollen oder Widerwillen deutlicher in einem Blicke gelesen, als in dem ihrigen. Ich möchte nicht behaupten, daß die Form ihrer Nase zum Gesichte gepaßt habe. Ihr Mund war entschieden unangenehm gestaltet; die starke, vorliegende, bisweilen hängende Lippe hat oft dafür gelten sollen, als gäbe sie ihrer Physiognomie etwas Edles und Ausgezeichnetes; allein sie schien eher noch dazu gemacht, Zorn und Unwillen auszudrücken, zwei Züge, welche nicht geeignet sind, den gewöhnlichen Ausdruck der Schönheit zu bezeichnen. Haut und Teint von unvergleichlicher Weiße, Weiche und Feinheit, besonders Schultern und Hals; die Brust etwas zu voll; die Taille hätte eleganter sein können. Nie habe ich so schöne Arme und Hände wieder gesehen. Sie hatte einen doppelten Gang; der eine war fest auftretend, etwas pressiert, dabei immer edel; der andere weicher, schwebender, ich möchte fast sagen, dem Schmetterlinge gleich, der die Blumen küsst,***) – doch immer dabei die ihr gebührende Ehrerbietung erheischend. Ich habe nie jemanden so anmutsvoll grüßen gesehen; mit einer einzigen Verneigung fertigte sie zehn Personen zugleich ab, die eine mit einem Kopfnicken, die andere mit einem Blicke, die dritte mit einer Bewegung der Hand, mit einem Winke, einem Lächeln; „Jedem das Seine.“ Mit einem Worte: Wenn sie auftrat, wäre man fast immer geneigt gewesen, wie einer anderen Frau einen Stuhl, so ihr einen Thronsessel zu bieten.

Was die Unterscheidungszüge ihres Charakters betrifft, den ich hier, wie gesagt, nicht erschöpfend entwerfe, so will ich deren nur zwei hervorheben, weil sie scharf gezeichnet sind, sich in allen Gewohnheiten ihres öffentlichen und Privatlebens wieder finden lassen, und man sie als die Quellen ihrer Irrtümer und ihres Unglücks ansehen muß, eines Unglücks, das in seiner Art und in seinem Umfange unter den Völkern beispiellos ist. Diese beiden Züge sind: erstlich, ihr Widerwille gegen die Formen, womit sich die Königswürde umgibt, und in Frankreich mehr als in irgend einem andern mir bekannten Reiche sich umgeben muß; und zweitens, ihr unheilvolles Vorurteil für oder wider diejenigen, die ihr von anderen, oder auch wohl von ihr selbst ohne Ueberlegung, als Gegenstände des Wohlwollens oder des Hasses bezeichnet worden waren; ohne Ueberlegung, sage ich, denn im ganzen genommen, war ihr Gemüt unentschlossen und schwankend.

Sie behandelte mich, sobald ich angekommen war, wie alle übrigen jungen Leute, die ihre Pagen waren und denen sie mit vorzüglichem Wohlwollen begegnete, bald mit fast mütterlicher Güte, bald mit einer zugleich würde- und zuneigungsvollen Freundlichkeit, welche, wo möglich, die ihr schuldige Ehrerbietung durch einen Zusatz von Liebe verstärkte.

„Haben Sie“ – so wird mich der Leser fragen – „haben Sie alle diese Beobachtungen beim ersten Eintritte ins Pagenleben gemacht, in einem Alter, wo Sie selbst noch halb Kind waren?“ – Ich antworte: Ja; denn in meinem fünfzehnten Jahre taugte ich mehr als jetzt. Mein damals noch unverdorbener Verstand war unendlich viel richtiger und schärfer; weiter will ich nichts von ihm sagen, da ich überhaupt nicht sonderlich viel, sowohl von dem meinigen als von dem der anderen halte, wenn das übrige fehlt.

Beiläufig überlasse ich es denen, die meine Memoiren lesen werden, zu beurteilen und zu entscheiden, ob die Natur mich mit dieser Ware (drogue) versehen hat, welche übrigens heutzutage ziemlich gemein und fast immer unheilbringend ist. Sie mögen entscheiden, ob mir diese gütige Mutter einiges Talent geschenkt hat – welches von Verstand und Witz sehr zu unterscheiden ist – oder einige Geisteskraft und Geisteswärme, – zwei von Verstand und Witz noch weit verschiedenere Attribute, weil sie wesentlich zum Gebiete der Seele gehören.

Das erste Jahr meines Pagendienstes verfloß ohne merkwürdige Begebenheit. Ich machte meine Beobachtungen. Ich suchte meine Bemerkungen unter ein Ganzes zu bringen, um sie zum Leitfaden für mein künftiges Leben zu machen. Aber was den Erfolgen, die ich mir von meinem theoretischen Systeme versprechen durfte, praktisch in den Weg trat, war – der grenzenlose Leichtsinn meines Charakters. Ich hatte Lehrer in allen Zweigen der Wissenschaften; dennoch waren meine Fortschritte nur mittelmäßig, weil ich keinen inneren Zug zu irgendeiner derselben fühlte. Man hatte meinen Charakter aus einem durchaus falschen Gesichtspunkte aufgefaßt, und übergab mich der kurzsichtigen Beschränktheit eines Pagen-Hofmeisters, welcher, Gott weiß wie, im zweiundzwanzigsten Jahre das Ludwigskreuz erhalten hatte. Er sprach von nichts als von diesem Kreuze, welches ihm wenig, und denen, die ihn damit dekoriert hatten, noch weniger Ehre machte. Auch die Art, wie man die Pagen im ersten, gleichsam Noviziatjahre behandelte, war meinen Begriffen von Gerechtigkeit schnurstracks zuwider, und flößte mir Abscheu gegen eine Vorbereitungsschule ein, welche meiner Meinung nach mehr Nachteile als Vorteile darbot. Ich lernte, wie alle meine Kameraden, reiten, tanzen, fechten; brachte es aber nie weit in der Mathematik und im Zeichnen. Von meinem Lehrer in der deutschen Sprache habe ich weiter nichts gelernt und behalten, als den Namen, und entsinne mich noch heute, daß er mir nach dreijährigem Unterricht diesen Namen vorbuchstabieren mußte. Er hieß Guérault de Palmfeld ****) und ich nannte ihn fast immer Herr Gérau. – Dagegen übte ich mich selbst im Lateinischen und lernte diese Sprache sowohl als den Mechanismus des französischen Versbaues aus dem Grunde. Ich fühlte mich damals mächtig zur Poesie hingezogen. Späterhin habe ich, doch ohne diesen Anreiz, eine Menge Verse gedichtet; aber es ist so weit mit mir gekommen, daß es mir jetzt nur möglich ist, vorzüglich gute Gedichte zu lesen, und selbst von den besten nicht über hundert Verse hintereinander.

Im zweiten Jahre erhielt ein Stabsoffizier, welchen ich nicht nennen werde, die Erlaubnis, mich auf acht Tage nach Paris mit sich zu nehmen. Er war ein Freund meines Vaters gewesen und hatte mich zufällig in Versailles bei Hofe gesehen. Man vertraute mich ihm an, und tat nicht wohl daran. Er gab mir ein Zimmer in seinem Hotel und führte mich in gute Männergesellschaft ein, aber in desto schlechtere weibliche. Er unterhielt eine sehr hübsche Mätresse, der zuliebe er einen für sein Vermögen allzu großen Aufwand machte, die aber, wie sich’s versteht, seiner von ganzem Herzen überdrüssig war. Ich warf ihr einige Liebesblicke zu, die sie mit Aufmunterungsblicken erwiderte. Sie behauptete, ich sähe einem hübschen Mädchen von ihrer Bekanntschaft ähnlich; ich behauptete, daß ich (wenigstens sagte man es damals von mir) eine hübsche, junge Mannsperson sei. Keine 24 Stunden waren vergangen, als mein Wirt – denn die Eifersucht hat Luchsaugen – erriet, was unter uns vorging. Er wollte sich mit mir schlagen; allein man machte ihn auf das Lächerliche dieses Entschlusses aufmerksam, und die Fehde ward in Strömen von Champagner ersäuft, welche mich um meine schwache Vernunft brachten, – die sich in die Arme einer gefälligen Nymphe rettete, bei der man Vergnügen und allzu späte Reue holen konnte. Einer meiner Mitpagen, der Graf du Chilleau, war zu seinem und meinem Unglücke denselben Tag nach Paris gekommen; ich führte ihn zu meiner Priesterin der gebrechlichen Tugend; er teilte ihre Geschenke mit mir.

Als wir nach Versailles zurückgekehrt waren, mußte ich meine gewohnte Lebensart wieder aufnehmen. Sie fiel mir in dem Zustande schwer, in welchen mich der Gesang meiner Sirene versetzt hatte. Ich wendete mich an einen Winkel-Aeskulap. Mein Freund gebrauchte denselben unwissenden Scharlatan; es erging ihm ärger als mir; seine Krankheit nahm einen so schlimmen Charakter an, daß er dem Tode nahe war. Was uns zu verbergen so sehr am Herzen lag, wurde entdeckt; man übergab uns der Pflege eines Arztes. Ich ward bald wieder gesund, aber mein Freund mußte sich einer langen und schmerzhaften Kur unterwerfen.

Ich bitte meine Leser – und Leserinnen – um Verzeihung, einen Vorfall dieser Art so umständlich vorgetragen zu haben; er hat aber einen sehr direkten Einfluß auf meinen Pagenruf und vielleicht in gewisser Hinsicht auf mein ganzes Leben gehabt. Ich habe Bekenntnisse und die Wahrheit versprochen. Ich muß alles sagen, ohne mich entschuldigen zu wollen. Untersuchen wir folglich die Sache näher. Ein Mann von Ansehen verleitet einen fünfzehnjährigen Jüngling durch böses Beispiel, durch überraschende Verführung, zu Ausschweifungen, die ihre gerechte Strafe mit sich führen. Der Bestrafte macht einen ebenfalls jungen Freund mit dem Gegenstande seiner sinnlichen Neigung bekannt, weil er keine Gefahr weder für sich noch für ihn ahnt; beide berauschen sich aus dem Becher der Wollust, und dieser Becher wird für beide zu Gift. Ihr Zustand erheischt Hilfe; sie wollen ihn vor den Vorgesetzten verbergen, suchen fremden Beistand, der das Uebel ärger macht, und endlich wird das furchtbare Geheimnis offenbar.(Et le voilà connu, ce secret plein d’horreur. Corneille) – Gehen wir nun zu den Folgen dieses Ereignisses über.

Man wird von der Sache sprechen, man wird sie der Königin selbst vortragen (denn alles läßt sich ja in Erzählungen verschleiern); man wird ihr sagen, daß ich unter einem falschen Vorwande in Paris gewesen bin, daß ich mich dort mit Ausgelassenheit einer Leidenschaft hingegeben, die nicht für mein Alter gemacht war; daß ich mich geschlagen; daß ich alle Schlupfwinkel des sittenlosen Babylons besucht; daß ich es, mit den Hefen der Sünde befleckt, verlassen; daß ich einen bis dahin tugendhaften Jüngling zu einer Buhlerin, der Schande ihres Geschlechts, wider seinen Willen geführt; daß ich der Urheber seines Unglücks, der Zerstörer seiner vielleicht auf immer verlorenen Gesundheit bin; daß ich sein Herz zur Unbußfertigkeit verhärtet habe, indem ich ihn abgehalten, seine Schuld und seinen Zustand zu entdecken, und ihn bewogen, sich heimlich den Händen eines schamlosen Quacksalbers anzuvertrauen; daß hier alles zusammenkommt: Liederlichkeit, Lug und Trug, Ränke, Immoralität aller Art; daß sich alle Zeichen von Verderbtheit vereinigen, alle Keime sichtbar sind, aus welchen einst ein vollständiger Taugenichts sich entwickeln wird. Man wird hinzusetzen, daß ich alle mir auferlegten Strafen mit Verstocktheit, mit gleichgültiger Verachtung erduldet habe; – aber man wird nicht sagen, daß ich aus Verachtung schwieg, weil man mich mit größtenteils unverdienten Vorwürfen überhäufte, weil ich statt derselben, in gewisser Hinsicht, auf Lob rechnen durfte, da ich edel genug gewesen war, weder den Stabsoffizier, der meine Aussage lächerlich gemacht haben würde, noch meinen jungen Freund zu verraten, der meine Schuld geteilt hatte, aber meine Strafe nicht teilen sollte. Ich war nicht der Verführer seiner Unschuld gewesen.

O ihr, denen die Sorge obliegt, die Jugend zu erziehen, lernet das Gemüt eurer Zöglinge kennen; nehmt das Maß des Ehrgefühls, des Zartsinnes, das in ihnen ist; berechnet den Grad der Empfindlichkeit ihrer Seelen; bringt die noch nicht ausgewachsene Beschaffenheit ihrer physischen und moralischen Organisation in Anschlag; bedenket, daß eine erste Züchtigung, zumal eine öffentliche, mit Ueberlegung, mit Mäßigung erteilt werden muß; bedenket, daß es Gemüter gibt, die man nicht niederdrücken darf, und welche, unempfindlich gegen ungerechte Herabsetzung, das ihnen angetane Unrecht durch Gleichgültigkeit erwidern und, sich über unverdiente Schande erhebend, sie denen überlassen, von welchen sie falsch beurteilt worden sind!

Einige Monate verflossen in meiner Verdammungslage. Was mich am meisten schmerzte, war, daß ich in den Augen der Königin las, wenn die Dienstreihe an mich kam, wie sehr sie die Vorurteile der übrigen teilte. Endlich zeigte sich eine Gelegenheit, mir ihre gute Meinung zum Teil wiederzugewinnen, und ich ergriff sie.

Ich hatte, nach einer Erzählung von Marmontel, ein kleines Schauspiel in drei Akten gezimmert, und es „Laurette, oder die von der Liebe gekrönte Tugend“ betitelt. Ich war noch weiter gegangen und hatte, sitzend in einem Lehnstuhl, neben mir ein Glas mit Zuckerwasser, vor mir vier brennende Kerzen, mein Stück dem dramatischen Areopagus von Versailles vorgelesen. Noch mehr: das Stück war zur Aufführung angenommen und der Verfasser mit Lob überschüttet worden. „Ich würde“ (so hieß es aus dem Munde der Herren und Damen dieses Vereins), „ich würde die komische Muse, die seit Piron und Gresset geschlafen hatte, wieder aufwecken und zu Kräften bringen.“ Ein Mann, dessen Verstand nur von der einen Seite gelähmt, aber von der andern nicht abgestorben war, der Prince d’Henin, 5) hatte der Vorlesung beigewohnt. Er versicherte, das Stück sei entzückend, die Porträts vom besten Farbenton, und erklärte, ich sei ein junger Mann, der zu den höchsten Erwartungen berechtigte. „Man ist,“ setzte er hinzu, „von den ungereimten gotischen Vorurteilen gegen das Studium der schönen Wissenschaften zurückgekommen. Nur talentlose Dummköpfe verschreien es im Gefühle ihrer Ohnmacht und meinen, um recht hochadelig zu sein, müsse man sich durch grobe Unwissenheit und Geistesschwäche auszeichnen. Fahren Sie fort, mein Herr! Fahren Sie fort; treten Sie ohne alle Einschränkung in die Bahn, welche ein so sichtbarer Beruf Ihnen eröffnet. Franz I. machte Verse. Was mich betrifft, so würde ich morgenden Tages ein Lustspiel schreiben, wenn ich Talent dazu hätte; und wollte man mich durch Widerspruch aufbringen, so würde ich mein Stück gar aufführen.“ Der gute Mann hatte zur Hälfte recht, konnte aber nicht, wie man sieht, zu rechter Zeit innehalten. Später ist er in einem großen Trauerspiele aufgetreten, dessen fünfter Akt immer mit dem Revolutionsbeile schloß, unter welchem auch sein Kopf gefallen ist, ohne daß es jemals klar geworden, zu welcher Partei er gehörte und zu welchen Meinungen er sich bekannte. Bisweilen fing er eine gewichtige Rede an, bald aber schlichen sich in dieselbe alle Irrtümer einer falschen Urteilskraft ein, angetan mit einer falschen Philosophie. Er war von hoher Geburt; sein Stolz gab derselben nichts nach, aber er hatte das Unglück, immer sich dem zu überlassen, was ihr entgegenstand. Er brüstete sich mit einer albernen allgemeinen Menschenliebe, welche ihn zum Allerweltsfreunde machte, gerade weil sein Herz kein Gefühl für Freundschaft hatte. Er hat Antworten gegeben 6) und Handlungen getan, von welchen man auf Kraft und Würde hätte schließen sollen, und doch brachte er, obschon einer der ersten Diener des Reiches, sein Leben unter den schlechtesten Schauspielern, unter dem erbärmlichsten Schlage von Leuten, unter den verrufensten Buhlerinnen zu, deren Schutzherr und guter Bruder (wie sich die Könige untereinander nennen) er war. Das Lustigste dabei ist, daß es ihm sogar an physischer Entschuldigung für sein unmoralisches Leben fehlte; bei gänzlichem Mangel an Manneskraft, die ihm einigermaßen zur Rechtfertigung hätte dienen können, besaß er alle Schwächen, die das verdammende Urteil über ihn noch erschweren mußten.

Welche lange Dissertation über den Prince d’Henin, wird man sagen, und das bei Gelegenheit eines Drama! – Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu gekommen bin, oder, besser gesagt, ich weiß es gar wohl; denn mir ist nie ein ähnlicher Charakter aufgestoßen, ein solches Gemisch von Vernunft und Torheit, von Würde und Versunkenheit, von gesundem Verstande und Ungereimtheit. In dieser Hinsicht war er in seiner Art einzig.

*) Wenn ein Staat einmal wieder auf feste Grundlagen gestellt ist, muß jeder Versuch, die höchste Gewalt umzustoßen, als ein vollständiger Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung angesehen werden, wäre auch die Absicht an sich die beste. Strafbare verderbliche Erfahrungen setzen dieses außer allen Zweifel. Die Häupter der Völker sind für die Macht Rechenschaft schuldig, die sie von der Vorsehung erhalten oder mit Hilfe derselben erobert (†) Man vergesse nicht, daß dieses 1804 geschrieben ward. Uebers. haben. Nichts in der Welt geschieht ohne den übermächtigen Willen einer geheimen Kraft; in diesem Sinne sind die Monarchen Souveräne von Gottes Gnaden, der sie vor Fallstricken und Schlingen bewahrt, und der, sobald sie aufhören wollten, in die einzelnen Teile seiner Absichten einzugreifen, sie unter den Streichen der niederträchtigsten oder der ungeschicktesten ihrer Feinde dahinsinken lassen würde. – Wenn den Beherrschern der Völker alles gelingt; wenn Taten, Talente und Glück sich dahin vereinen, mit jedem Tage ihre Macht zu konsolidieren; wenn alles ihrem Übergewicht weichen muß; wenn alles vor ihrem Stern erblaßt: so ist dies ein Beweis, daß sie die Auserwählten des unerforschlichen Urhebers der Welt, der alles hienieden leitet, und die Werkzeuge seiner Wahl zur Regierung der Völker sind. Verf.

†) Man vergesse nicht, daß dieses 1804 geschrieben ward. Uebers.

**) Man hat nur zu lange, vermöge einer mit dem kritischen Geist der Nation unvereinbar scheinenden Leichtgläubigkeit, in Deutschland den schändlichen, über den Charakter der Königin verbreiteten Lügen sowie einer Menge die Revolution betreffender Märchen Glauben beigemessen, nachdem in Frankreich längst die Wahrheit am Tage lag. Die mit kritischem Scharfsinn geschriebene Geschichte der Französischen Revolution von Herrn Menzel (Geschichte unserer Zeit, seit dem Tode Friedrichs des Zweiten, von Carl Adolf Menzel. 2 Teile. Berlin, 1824 und 1825. Bei Duncker und Humblot) unterscheidet sich auch darin von den meisten Schriften über diese Zeit, daß sie den Charakter der Personen anders als nach den Verleumdungen der Revolutionsmänner aufzufassen gewußt hat. S.

***) Im Originale démarche caressante. Uebers

****) Man hat von ihm eine französische Anleitung zur deutschen Sprache, in zwei Bänden mit Beispielen, wo das Deutsche in Zwischenzeilen über den französischen Text gesetzt ist. Uebers.

5) Mademoiselle Arnould nannte ihn durch ein doppeltes Wortspiel: le prince des nains und le nain des princes. Uebers.



Die Königin hörte von meinem Schauspiele sprechen; sie bekam Lust, es zu lesen. Herr Campan, ihr Kabinettssekretär, der die ganze äußere Wichtigkeit eines verzogenen Unterbeamten besaß, dabei aber besser war als die Airs, die er sich gab, erhielt den Auftrag, mir das Stück abzufordern. Als die Königin es gelesen hatte, war er artig genug, mir einen Wink zu geben. Ich ging unter einem Vorwande auf das Schloß. Die Königin erzeigte mir die Ehre, mir zu sagen: „Herr von Tilly, hier sind Ihre Hefte zurück; ich wünsche aber, – ich befehle sogar, wenn es ja eines Befehls bedarf, – daß Sie das Drama nicht aufführen lassen.“ Während ich eine Antwort suchte, fuhr sie fort: „Wie kann man mit so viel Geschmack für die Poesie und mit einer solchen Leichtigkeit, Gefühle der Tugend auszudrücken, einer so schlechten Aufführung beschuldigt werden?“ –

Von Schmerz zerrissen, konnte ich lange nicht anders als mit einem Strom von Tränen antworten. Als ich mich endlich erholt hatte, legte ich in allgemeinen und gemessenen Ausdrücken und in einer schnellen Schilderung der Königin das Unglück meiner Lage vor, die Verleumdungen, deren Gegenstand ich gewesen, die Unrichtigkeiten im Berichte meines Gouverneurs, daß der Schein zwar gegen mich sei, daß ihn aber seine Kurzsichtigkeit für Wahrheit gehalten habe. Ich wagte es nun, mit etwas festerer Stimme sie zu fragen, ob es in meinem Alter unverzeihliche Fehler, unerläßliche Sünden gebe, sobald sie nur nicht die Ehre verletzten? „Sie haben recht,“ erwiderte die Königin, mich fixierend; „ich selbst halte Herrn von Pedreauville*) für einen höchst mittelmäßigen Kopf. Vergessen wir, was geschehen ist; führen Sie sich gut auf, und Sie werden mich Ihnen stets wohlgeneigt finden.“ –

Sie entließ mich mit unaussprechlicher Grazie und mit der beigefügten Versicherung, daß sie mir ihre vorige Gnade wiederschenke. Ich bin auch fortdauernd im Besitze derselben geblieben, bis sich ein zweiter Vorfall**) ereignete, der mir ihre Huld auf immer entzog, eine Ungnade, auf welche dieser frühere Umstand ohne Zweifel mit eingewirkt hat.

Der Grund, welcher meine ersten Schritte in der dramatischen Laufbahn hemmte, war von der Art, daß ich mich leicht darüber trösten konnte. Ueberdies gibt es in dem Alter, in welchem ich mich damals befand, keine dauerhaften Eindrücke. Gleichwohl nahm ich mir einige Zeit nachher die Freiheit, die Königin zu fragen, ob sie auf ihrem Verbote bestehe. – „Freilich,“ gab sie zur Antwort; „und dies wundert Sie?“ – „Ja, Ihre Majestät; liegt denn etwas Böses darin, ein Stück aufführen zu lassen?“ – „Etwas Böses? Nein; aber es schickt sich nicht. Ein Mann von Stand, ein junger Mensch in Ihren Jahren muß sich nicht zur Schau stellen.“ – „Sie wissen aber, Königin,***) daß der Kardinal von Bernis, daß Herr von Boufflers, daß Herr von Guibert****) selbst, der doch auch ein Mann von Welt und Oberster ist – so gut wie andere, Schauspiele geschrieben, sie vorstellen und drucken...“ – „Es soll mir lieb sein,“ unterbrach mich die Königin, „wenn Sie nicht weiter daran denken!“ – Ich dachte daran, aber ich schwieg.

Vier Jahre später ward mein Drama Laurette von meinem Kammerdiener durch Zufall beim Anzünden einer Wachskerze verbrannt. Ich habe die Asche gesehen, aber keine Träne darüber vergossen. Und so verflossen jene Tage, welche so tiefe Spuren zurücklassen, und so schnell verfliegen und verschwinden!

Meine Jugend sollte auf eine neue Probe gestellt werden; hier aber siegten Vernunft und Ehrgefühl über den animalischen Instinkt.

Herr von N... war im Begriffe, die Pagen zu verlassen, um in ein Kavallerie-Regiment zu treten. Er war älter und weit ausgebildeter als ich. Er behauptete einst, insofern mich mein Gedächtnis nicht trügt, Mademoiselle Allard, eine bekannte Operntänzerin, sei eine sehr imposante, tragische Künstlerin, und Mademoiselle Arnould, eine ebenso bekannte Opern sängerin, eine durch Leichtigkeit und Gewandtheit ausgezeichnete Tänzerin. Die Verwechslung war zu auffallend, um einer ernsthaften Zurechtweisung zu bedürfen. Nichtsdestoweniger gerieten wir darüber aneinander, trieben es bis aufs äußerste, und das Urteil fiel dahin aus, die Sache sei auf den Punkt gekommen, wo „die beleidigte Ehre Blut verlange“. (Où l’honneur outragé devait verser du sang. Voltaire.)

Wir schlugen uns mit ziemlicher Erbitterung. Er versetzte mir einen Stoß oben in die Brust; ich mußte zweimal zur Ader gelassen werden. Dagegen kam er leichteren Kaufs davon und erhielt nur eine Schramme am Hals. Die Königin erfuhr den Handel; sie erklärte sich bestimmt für mich, besonders da mein Gegner an Jahren und an Kräften mir so überlegen war. Vor dem eigentlichen Zweikampfe hatte ich einen früheren mit der Natur zu bestehen gehabt, die mich – ich will’s nur bekennen – nicht hat tapfer geboren werden lassen; ich überwältigte sie aber und mich selbst; und seitdem habe ich ihre furchtbare Stimme nicht wieder vernommen.

Warum sollte ich über dieses Eingeständnis verlegen sein, oder mich dessen schämen? Es hat im Gegenteile etwas Pikantes in dem Munde eines Mannes, der das Unglück gehabt, in der Folge mehr als ein ernsthaftes, blutiges Duell zu haben, aus dem er sich, wie er glaubt, mit Ehre und Mut gezogen. Heutzutage lege ich so wenig Wert auf das Leben, daß ich es für nichts Verdienstliches ansehen würde, es auf eine Degenspitze zu setzen.

*) Den Pagen-Gouverneur. Uebers.

**) Der öffentliche Umgang des Verfassers mit der Schauspielerin Adeline. Uebers.

***) Eine französische Wendung für „ Ihre Majestät wissen“. Im Originale: Mais la Reine sait, zur Abwechselung mit dem ewigen Votre Majesté sait usw. Uebers.

****) Dessen Connétable de Bourbon die Königin in Versailles und Fontainebleau aufführen ließ. Uebers.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band