Zehntes Kapitel. Einfaches Ereignis, woraus ein sehr außerordentliches entsteht. — Neue Bekanntschaft. — Seltsame Personen. — Die Schauspiele. — Vorzug der Französischen.

Lächerlicher Tadel der Ausländer. — Was darauf geantwortet werden kann. — Die Marquisin von C..... — Der Prinz von Broglie. — Vorfall des Herrn von Serne mit seinem Obersten. — Herr von Serne erschießt sich. — Ueber die militärische Subordination. — In welchen Fällen man sie übertreten darf. — Der Prinz von B . . . und Herr von Bos . . . — Anekdote, den Vicomte de Noailles betreffend. — Meine Grundsätze weichen von denen des Prinzen von Broglie ab. — Danton. — Mein Zusammentreffen mit ihm. — Meine Liebschaft mit Cäcilien. — Sie nimmt ein tragisches Ende. — Ich schlage mich in ihrem Zimmer mit Herrn de la T . . . — Er wird gefährlich verwundet; ich gleichfalls. — Cäcilie will uns trennen, erhält eine Wunde; sie verläßt Paris. — Ich gehe nach Brüssel. — Das österreichische Militär. — Betrachtungen über das französische Militär. — Schöne Landhäuser. — Der Prinz von Ligne. — Ich begebe mich im Mietswagen zum Regiment in Metz. — Der Marschall von Broglie schickt mich in Arrest. — Der Graf von Caraman. — Dessen Familie. — Madame de Pons , Intendantin von Metz. — Der Graf von Damas. — Der Vicomte de Segur. — Dessen Werke; dessen Person. — Der Prinz von Hessen-Rothenburg. — Fenelon. — Tragisches Ereignis in der Familie eines meiner Freunde. — Die Liaisons dangereuses; kurze Zergliederung des Buches. — Herr de Laclos. — Ich mache seine Bekanntschaft bei dem Herzog von Orleans. — Der Prinz von Wales. — De Laclos entdeckt mir das Geheimnis seines Buches. — Meine Meinung darüber. — Ich veräußere einen Teil meines Eigentums. — Unzufriedenheit meiner Familie. — Beschwerden meines Vaters. — Er liegt dem Prinzen von Poix an, mich zum Regiment zurückzurufen. — Torheit meines Vaters, sich die Stelle eines Grand Bailly d'Epée vom Prinzen von Guémené zu kaufen. — Bonmot der Gräfin von Tesse. — Ich werde ein Spieler. — Der Graf von Genlis. — Sein Haus, — Seine Beredsamkeit. — Der Präsident von Champ . . . — Der Marquis von Genlis, Bruder des Grafen. — Tod des Grafen (nachherigen Marquis de Siliery). — Ich verliere mein Geld im Spiele. Herr von Poinçot gewinnt es für mich wieder. — Herr Necker. — Herr Taboureau. — Die Nation wird unruhig. — Herrn Neckers Einrichtungen, Pläne, Neuerungen; sein System, sein Stolz, sein Tod; seine Tochter; sein Grabmahl. — Der Prinz von Poix und ich auf dem Opernball. — Der wachhabende Offizier Mazoyer. — Folgen meines Streites mit dem Prinzen. — Lord Mountnorris in Paris. — Sein Selbstmord. — Seine Rede im Parlament von Irland. — Er führt mich in eine Restauration. — Ich stoße auf ein Ungeheuer. — Folgen der Eifersucht. — Betrachtungen darüber. —; Ich reise nach England (1783)

Le plus exercé ne trouve pas facilement un fil pour sortir du labyrinthe de quelques perfides enchanteresses. L’adresse, la fourberie, les faux sermens, la feinte, le désespoir simulé, la fausse assurance d’une tendresse éternelle, sont des détours dans lesquels on ne saurait se retrouver.


Meine Gesundheit war wieder hergestellt. Ich fühlte mich zu allem hingezogen, wozu das Jünglingsalter verleitet, dieses Alter der Kraft, wo das Leben, sozusagen, ein Uebermaß von Leben und Kraft ist. Ich jagte dem Vergnügen nach, ich suchte mein Herz anzubringen. Glück und Zufall bedienten mich besser, als es Gewandtheit und ein angelegter Plan getan haben würden.

Ich kam von Passy, saß im Kabriolett, fuhr mit der Raschheit, welche Ludwig den Fünfzehnten einst bewog, unköniglich zu sagen: „Wäre ich der Lieutenant de police, wäre ich Herr von Sartines, ich würde das Schnellfahren der Kabrioletts und die Kabrioletts selbst verbieten.“ Unweit der großen Allee begegne ich einem Wagen. Er bricht, wie durch plötzlichen Zauber, in meiner Nähe. Drinnen saß eine Dame, die einen lauten Angstschrei ausstieß. Ihre Leute waren um sie beschäftigt, halfen ihr aussteigen; sie kam mit dem Schreck davon. Ich habe nie etwas Schöneres, etwas so vollkommen Schönes gesehen; ich war ihr zu Hilfe geeilt, bot ihr den Arm an; noch wußte sie nicht, so schwer kam sie zu sich, ob sie nicht beide gebrochen hätte, und hatte schon alle meine Fragen beantwortet, ehe sie mich gefragt, wer ich sei.

Sollte sie dieses Kapitel lesen, sollte dieser Eingang sie erschrecken, so mag sie sich schnell beruhigen; ich setze nicht einmal den Anfangsbuchstaben ihres Namens her. Was ich von ihr zu sagen habe, paßt auf tausend andere; ... z.B. daß sie seitdem die Gattin eines Mannes von Weltkenntnis und Erfahrung geworden ist, der der festen Ueberzeugung ist, daß es noch keiner Frau gelungen ist, in Liebeshändeln ihn hinters Licht zu führen. Diesem feinen Fuchs hat sie, um das Gleichgewicht wieder herzustellen (denn das Gleichgewicht regiert die Welt), alles, was er anderen geliehen, mit Wucher zurückgezahlt; ... von ihr sind ihm alle Streiche gespielt worden, worin er es zu einer Doktor- und Professorvollkommenheit gebracht zu haben geglaubt hatte. – Ebenso wenig soll man den Namen der Stadt von mir erfahren, wo diese Dame sich aufgehalten, ehe sie nach Paris gekommen; ebenso wenig den höchst traurigen Umstand, der sie zwang, ihren Aufenthalt in der Provinz zu verlassen, und die Art, wie sie ihren Gatten verlor, bevor sie noch Zeit gewonnen hatte, ihn zu hassen. Ebenso wenig ... doch ich halte ein! Beruhigt euch alle, ihr schönen, aber etwas weltlichen Damen! Ich schreibe kein Libell; und sollte ich auch hie und da eine von euch so deutlich bezeichnen, daß man sie vielleicht wiedererkennen möchte, so soll es immer geschehen, ohne die Ehre zu verletzen.

Du aber, schöne Unbekannte, weder dein Name, noch was dich sonst kenntlich machen könnte, soll über meine Lippen kommen, soll meiner Feder entschlüpfen. Die Natur hat alle Menschengesichter nach einem Modell gebildet; und doch unterscheidet sich jedes derselben durch einen einzelnen und einzigen charakteristischen Zug von allen andern: den unterscheidenden Zug, der dich verraten würde, will ich nicht bezeichnen. In dieser Schrift soll niemand gebrandmarkt werden, als wer es schon im voraus, entweder von den Zeitgenossen oder der Nachwelt, ward. Ich nenne dich Cäcilie (ein schöner Name! Du magst ihn immer für den deinigen gelten lassen) und fahre in meiner Erzählung fort.

Cäcilie war in der Straße Saint-Dominique zu einem Besuche gewesen. Sie fuhr nach Passy zurück, wo sie ein kleines Haus hatte. Das erzählte sie mir mit noch bewegter Stimme. Ich wußte das übrige. Bescheiden, sehr bescheiden buchstabierte ich ihr meinen Namen. Ebensogut hätte ich mich Pompejus oder Cäsar nennen können: ich war ihr völlig unbekannt. Lernet es von mir, ihr, die ihr mit euren Namen prunkt und mit ihm Eroberungen zu machen gedenkt; lernt es von mir: es ist oft ein großes Glück, wenig gekannt zu sein ... besonders von Frauen, deren Phantasie gern in unentdeckten Räumen umherzuschweifen und mit Chimären Umgang zu haben liebt.

„Sie sehen das Kabriolett da, Madame; wollen Sie sich mir anvertrauen? Ich verstehe mich so ziemlich aufs Fahren. Ich werde die Ehre haben, Sie in Ihrer Wohnung abzusetzen, und anstatt mir einen Lohn zu verdienen, mir einen Kummer bereiten, – den Schmerz, Sie so bald wieder verlassen zu müssen.“ – Die Dame stammelte einige wohlgesetzte Worte, die mir entfallen sind. ... Mit einem Sprung war sie im Wagen, und ich mit einem zweiten ihr zur Seite. – „Mein Herr, wenn ich bitten darf, etwas weniger schnell.“ – „Schritt vor Schritt, Madame, wenn Sie es befehlen; mein Glück wird desto länger dauern.“ – „Meine Leute sind unausstehlich; sie sehen nach nichts; ich habe große Lust, den Kutscher wegzujagen; er allein ist schuld. ...“ – „Madame, so nehm’ ich ihn in meine Dienste.“ – „Warum das, mein Herr?“ – „Weil ich ihm mein Glück schuldig bin.“ – „Welch Glück?“ – „Das Glück, diese Frage aus Ihrem Munde zu hören.“ – „Wollten Sie die Güte haben, Ihr Pferd in Trab zu setzen?“ – „Nicht doch, Madame!“ – „Warum nicht?“ – „Ich würde mich einer zu großen Verantwortlichkeit aussetzen. Haben Sie aber die Güte, die Zügel zu führen (ich bot sie ihr an); es würde ein Glück für mich sein, mich von Ihnen leiten zu lassen; ich überlasse mich Ihnen ganz und gar.“ – „Ich habe schon bisweilen gefahren; aber geputzt, wie ich bin, würde man mich für eine Närrin halten ... und dann in Gesellschaft eines Mannes, den zu kennen ich nicht die Ehre habe; ... gleichwohl, geben Sie her. ...“ Sie ergreift die Zügel, biegt sich vornüber, senkt den Kopf, fährt im stärksten Trab, lenkt in einen Hof ein, hält vor einer Freitreppe, alles mit einer unnachahmlichen Grazie, mit einer allerliebst ernsthaften Miene. Zwei Herren, die auf der Terrasse spazieren, tun zu gleicher Zeit einen Schrei der Verwunderung. Sie springt aus dem Kabriolett. „Mein Herr, wollen Sie mir die Ehre erzeigen, mit uns zu speisen ?“ – „Muß ich, Madame?“ – „Sie müssen nicht, mein Herr, aber es würde mir sehr lieb sein.“ – „Und mir ebenfalls, Madame.“ Ich bot ihr die Hand; sie erzählt den Herren auf der Terrasse im Gehen ihre Geschichte, und wir gelangen in den Salon. Einer der Gäste, Monsieur l’Abbé, ist entzückt, mich zu sehen; der andere, ein dicker Herr im grünen Rock, war nahe daran, mich zu umarmen, wenn ich es hätte geschehen lassen wollen. ... Ich würde gern sein Porträt zeichnen, aber ich tue mir Gewalt an, und widerstehe einer Versuchung, die mir Gefahr bringen könnte.

Man setzte sich zu Tische; man sprach wenig; der dicke Herr am wenigsten; er aß nicht, er verschlang. Der Abbé übernahm die Rolle des Spaßmachers, aß aber dabei ebenfalls für viere. „Kennen Sie,“ fragte mich die Dame, „den Oberst de la Tour-du-Pin?“ – „Ja, Madame.“ – „Kennen Sie auch seine Gemahlin?“ – „Nicht genau; ich habe sie in Gesellschaften angetroffen; weiß auch, wer sie ist.“ – „Nicht wahr? Eine Tochter des verstorbenen K ... gs.“ – „Hat Herr De la Tour die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein, Madame?“ – Hier nahm der Abbé das Wort. „Ehedem sahen wir uns alle Tage.“ – „„Wie?“ sagte hier der andere, „Sie erinnern sich seiner noch, und daß Sie sich mit ihm schlagen wollten? Das wäre lustig gewesen; ein Abbé, der sich mit einem Obersten schlägt!“ – „Weniger lustig als lächerlich,“ sagte Cäcilie, „und toller als der Oberst im Cercle.*) Der Abbé schnitt ein Gesicht, beugte sich über seinen Teller, sprach kein Wort. Der dicke Herr würde gelacht haben, wenn das Hauptgeschäft seines Mundes es ihm erlaubt hätte.

Was mich betraf, so merkte ich wohl, daß hier ein Geheimnis obwaltete, wozu ich den Schlüssel nicht hatte; allein, die Natur hat mich mit einer großen Gleichgültigkeit gegen Heimlichkeiten begabt, die man mir nicht anvertraut, und ich konnte nicht voraussehen, daß in diesem Auftritte eine Hauptrolle meiner wartete. – Doch ich erzähle weiter.

Als es den beiden Herren endlich gelungen war, ihren Magen, diesen unersättlichen Tyrannen, der ihnen so viel zu schaffen machte, durch reichliche Spenden zu befriedigen, kam das Gespräch auf die Vortrefflichkeit unserer Schauspiele, und auf die anerkannten Vorzüge unseres Theaters. Ich hatte zwar die erforderlichen Kenntnisse über diesen Gegenstand, um eine Meinung äußern und behaupten zu können; allein, da ich noch wenig in die Tiefen der Kunst eingedrungen, auch wenig gereist war, und da ich nur das zu vergleichen und vorzuziehen oder herabzusetzen liebe, was ich gründlich gelernt habe, und worüber ich aus Erfahrung sprechen kann, so nahm ich an der Erörterung keinen so eifrigen Anteil als ich jetzt wohl tun würde.

Jetzt würde ich, als mir selbst und allen erwiesen, behaupten, daß die Alten keinen Molière gehabt, daß unsere großen Tragiker die Alten übertroffen, und daß sie das von Sophokles und Euripides Entlehnte vervollkommnet haben.

Was das Theater der übrigen Nationen betrifft ... Doch warum sollte ich eine Frage beleuchten wollen, welche der Eigenliebe, der Nationalliebe aller Völker so nahe liegt, und sie so empfindlich berührt? Warum sollte ich für nichts und wieder nichts ihre Empfindlichkeit reizen, und mir von allen Seiten Feindschaft und Erbitterung zuziehen? Warum sollte ich die undankbare Mühe übernehmen, ihnen zu beweisen, daß sie unrecht haben, auf ihre Weise Vergnügen zu empfinden, bewegt und gerührt zu werden, zu lachen oder zu weinen? Wer kann sich über Gefühle oder Anschauungen ganzer Nationen in Hinsicht auf das, was sie für schicklich oder unschicklich halten, zum Richter aufwerfen? Wer darf, im Uebermaß eines vermessenen Stolzes, sagen: „Alles, was ihr billigt, ist mittelmäßig; ich tadle und verwerfe es; nur bei uns sind die Muster und Vorbilder des Schönen, des Großen, des Pathetischen, des Natürlichen zu finden! Eure Tragödien sind schwülstige Ungeheuerlichkeiten; eure Pläne sind ohne Kunst, ohne Wahrscheinlichkeit angelegt, ohne Methode und Regel ausgeführt; eure Komödien sind unbedeutend, farblos, mit schwacher oder fehlerhafter Intrige!“ – Würden sie mir nicht zur Antwort geben: Die Sprache, die du führst, ist beleidigend, deine Eitelkeit empörend, selbst wenn du das Recht hättest; das Absprechen ist fast immer eine Folge der Unwissenheit und ein Beweis der Vorurteile. Wie kommst du zu einer solchen Anmaßung, zu einem solchen Tone? Wer bist du, um aufzutreten, und uns belehren zu wollen, wie wir uns zu ergötzen und zu betrüben haben? Bist du etwa der Mann, der unser Wesen, unsere Empfindungen leiten und lenken soll? Hast du einen so richtigen vollständigen Begriff von unseren Sitten, unserm Verstande, unseren Gebräuchen, unserm Geschmack, daß du imstande wärest, mit Unfehlbarkeit zu wissen und zu entscheiden, was unter dem Himmelstrich, den wir bewohnen, sich für uns schickt und nicht schickt? Sind deine Urteile über uns nach den Grundsätzen unserer Erziehung geformt und modifiziert oder auf despotische Vorurteile gegründet? Bist du der Urheber der Dinge und Menschen? Lebst du in und mit unserm physischen Wesen? Denkst du in und mit unserm moralischen Wesen? Besitzest du das Geheimnis unserer Gewohnheiten, unserer vorausgesetzten Begriffe, unserer feststehenden Ideen, unserer Organisation?

„Aber, die Natur ist doch überall dieselbe. ...“

So denkst du, wir aber glauben es nicht. Behalte deine Natur; genieße die Vergnügungen, die sie dir anbietet; allein, laß uns die unsrige oder das, was wir dafür halten; laß uns die Genüsse, die sie uns gewährt.

„Aber alle unsere Schauspiele, selbst die schlechtesten, sind übersetzt und werden überall auf euren Bühnen dargestellt.“

Das beweist, daß wir keinen so ausschließlichen Geschmack, keine so verächtliche Absicht haben, als ihr; es beweist, daß ein Geschmack neben dem andern bestehen kann, und daß wir dahin streben, den Kreis unserer Genüsse zu erweitern, während ihr ihn gern einengen möchtet; es beweist endlich, daß wir auch einige Gerechtigkeit widerfahren lassen, die ihr uns versagt.

„Aber unsere Ueberlegenheit ist doch unbestreitbar.“

Denkt es, sagt es uns aber nicht; – dächten wir dasselbe von euch, wir würden es euch nicht sagen.

„Aber die meisten guten Schriftsteller des Auslandes haben es anerkannt. Einer der besten Geister Englands, Lord Chesterfield, sagt: There is not, nor ever was, any theatre comparable to the french theatre.“

Lord Chesterfield mag recht oder unrecht haben, so ist es doch immer etwas anderes, wenn man in der Ruhe des Studierzimmers und am Schreibtische einen allgemeinen Satz aufstellt, oder ihn gesprächsweise im gesellschaftlichen Kreise der Menge aufdringen will. Die Behauptung ist von der Art, daß sie kritisch beleuchtet werden muß, mancher Erläuterung bedarf, manchen Einwürfen, Einschränkungen, Gegengründen unterworfen ist. Und selbst, zugegeben, es gehe aus den geschlossenen Akten der Untersuchung hervor, daß das Französische Theater den bestrittenen Vorzug im allgemeinen hat, – haben wir nicht auch unsere dramatischen Vorzüge? Unsere Sagen und Volksmärchen? Unsere Phantasien und Dichtungen? Unsere Sitten und Gewohnheiten? Unsere Begriffe von Schönheit und Poesie? Mit einem Worte, unsere Anklänge und Berührungspunkte, die uns mehr zusagen, tiefer bewegen, besser gefallen, und worüber wir allein kompetente Richter sind, und euch nicht als Richter anerkennen. Behaltet eure Regeln, euren Dichterstolz, eure Vergleichungen, euren Geschmack und Mißgeschmack, eure Eleganz, euer übertriebenes Zartgefühl und alle eure Vorurteile für euch! Behaltet selbst recht, wenn ihr wollt, und habt den Anspruch der Vernunft auf eurer Seite! Laßt uns aber dagegen, wie billig, unsere Art und Weise zu sehen und zu fühlen; laßt uns das, was uns am innigsten rührt, am stärksten bewegt und erschüttert; laßt uns mit einem Worte das dramatische System, das uns am besten anspricht, das uns eigen und eigentümlich ist!

*) Im Cercle , einem kleinen Lustspiel Poinsinets, kommt ein junger Marquis und Oberst vor, der in einer Gesellschaft, wo gespielt, gesprochen, gesungen und vorgelesen wird, einen kleinen Arbeitsbeutel hervorzieht und Blumen ausnäht. Der Verfasser dieser dramatischen Satire wollte die Unterhaltung in gewissen Salons lächerlich machen. Man hat von ihm und seinem Stücke gesagt: Il a écoute aux portes (er hat an der Tür gehorcht) Uebers.



Das und noch mehr hätte ich vorbringen können, als bei Cäcilie über diesen Gegenstand gesprochen wurde. Ich würde die Herren zum Schweigen gebracht haben. ... Aber ich war gescheiter, und fuhr nach der Oper, weil es gerade Zeit war. Ich bat die schöne Dame beim Abschiednehmen nicht um die Erlaubnis, sie wieder besuchen zu dürfen. Sie hatte mich zuerst eingeladen, und eine solche Einladung gilt für einen Befehl, den Besuch zu wiederholen. Ich fand mich nach einigen Tagen ein; und, um hier in keinen Idyllenton zu fallen, und um die Leser mit dem Detail von Schäferszenen zu verschonen, setze ich bloß hinzu, daß ich nach geraumer Zeit der vertraute Freund des Hauses ward. Die Gesellschaft bestand größtenteils aus Provinzialen. Ich erwähne nur zwei andere.

Die eine war eine Marquise von C..., eine geistreiche Frau, früher mehr als galant, über alle Maßen unmoralisch; und doch war sie es, die, als die berüchtigten „Liaisons dangereuses“ erschienen, dem Verfasser, Herrn De Laclos, ihre Tür verschloß. Sie hatte ihn vorher oft und gern gesehen, ließ aber bei dieser Gelegenheit ihren Schweizer rufen, und sagte ihm: „Du kennst doch den großen, schmächtigen, gelbfarbigen Herrn im schwarzen Rock, der so oft herkommt: ich bin künftig nicht zu Hause für ihn; verstehst du mich? Keinen Augenblick könnte ich ohne Furcht allein mit ihm bleiben!“ – Sie mochte glauben, De Laclos habe seine Frau von Merteuil nach ihr gestaltet, und mag sich nicht ganz geirrt haben; sie war wenig besser, und ist in späteren Jahren ebenso häßlich geworden wie jene.

Man hat von ihr ein Bonmot, das einer andern, der Herzogin von Créqui, ohne Grund zugeschrieben worden ist: hier ist es. „Der Baron ist ein Sot, aber wahrhaftig keine Bête.“ (Der Unterschied läßt sich deutsch nicht wiedergeben.)

Von ihr pflegte die Maréchale de Luxembourg zu sagen: „Sie macht die Augen beständig, wie wir sie zu gewissen Zeiten – so gern machen.“

Der andere war der Prinz von Broglie, der kälteste, unbedeutendste Fat von allen, die damals berufen waren, zu den ersten Staatsämtern zu gelangen. Er war Sohn, Enkel und Urenkel von Männern, welche tief aus Piemont nach Frankreich gekommen waren, um ihr Glück zu suchen, und es weit über alle Erwartung fanden. Er war der Neffe eines Mannes, der zu früh gestorben, und vielleicht der einzige von der Familie gewesen ist, der sich durch wirkliche Verdienste emporschwang. Wer hätte nicht gedacht, der Prinz von Broglie würde eine der letzten Stützen der Monarchie sein, die so viel für seine Vorfahren getan hatte, so viel für ihn getan haben würde. Wer hätte es nicht gedacht, wenn man ihn persönlich gekannt hat und nur etwas intim mit ihm verkehrt hat? Bei seinem Stolze, seinem Eigendünkel, seiner individuellen Nichtigkeit, bedurfte kein Mensch in so hohem Grade als er eines Kreditbriefes auf den Ruhm, den seine Vorfahren auf ihn übertragen hatten.

Wie ganz anders hat es sich gefügt! Der Sohn eines Maréchal de France, eines erblichen Herzogs, im Besitz eines Reichsfürsten-Diploms, Das für den Prinzen von Broglie ausgestellte kaiserliche Diplom ist sehr ehrenvoll und die Belohnung für einen erfochtenen Sieg. Der Deutsche Kaiser hielt sich zur Dankbarkeit verpflichtet und drückte sie so aus. vielleicht des einzigen, das in Frankreich den Glanz dieses Titels erhöhen konnte, – ein eitler Narr Narr und Dummkopf drückt es hier nur halb aus, zumal da Sot noch eine Nebenbedeutung hat. Uebers. findet eine Revolution vor, stürzt sich hinein, wie ein Philosoph, wie ein Glücksritter, und bringt sich aufs Schafott, weil er dumm genug ist, nicht zu wissen, daß er ein mittelmäßiger Kopf ist; blind genug, sich einzubilden, daß er innern Wert hat; lächerlich genug, sich zu überreden, man werde ihn noch für jemanden halten, für etwas ansehen, wenn er aufgehört hat, ein Bruchstück der königlichen Macht zu sein.

Ich erinnere mich, daß ich einst mit ihm bei Cäcilie einen sehr lebhaften Streit über die Mißbräuche der Gewalt führte. Er nannte diese Mißbräuche „die Weisheit der Regierungen“. Damals war er der Ritter des Despotismus, und ich ein Freund der Freiheit.

Uebrigens bin ich das beständig gewesen: nur muß man über den Sinn beider Wörter einig sein. Er ist von seinem politischen Glauben gewaltig abgewichen; ich bin dem meinigen und meinen Bekenntnissen unverändert und standhaft treu geblieben. Ich hatte feste, uneigennützige Grundsätze; die seinigen richteten sich nach Zeit und Umständen, und nach seinem Egoismus. Ich bin stets der Meinung gewesen, daß es für ein ganzes Volk das größte Unglück sei, wenn es gewaltsamerweise die Macht umstürzt, von der es beherrscht wurde. Ich bin von jeher überzeugt gewesen, daß eine bestehende Regierung, mit allen ihren Mängeln, besser ist, als alle Abstraktionen einer vollkommenen Regierung, die erst durch Anarchie und durch alle Uebel, die sie erzeugt, erkauft werden muß. Zugleich aber ist mir immer die Tyrannei der Willkür ein Greuel, die Macht der Unterdrückung ein Abscheu gewesen. Ich habe stets die Gleichheit der Gesetze der Ungleichheit der Privilegien vorgezogen und, obwohl ein Anhänger der bürgerlichen Hierarchie, die Mißbräuche verdammt, die aus der Verschiedenheit der Stände entstehen, sobald sie die von der Vernunft und der ewigen Gerechtigkeit aufgestellten Schranken überschreiten.

Ich komme auf meinen Streit mit dem Prinzen von Broglie zurück. Die Veranlassung dazu war folgende: Ein Herr de la Serne, Kapitän in einem Infanterie-Regiment, glaubte von einem Stabsoffizier tödlich beleidigt zu sein, dessen Kredit bei Hofe und Ansehen beim Publikum eben nicht hervorragend war. Herr von Serne griff ihn eines Abends auf der Straße mit dem Degen an und forderte ihn zum Zweikampfe heraus. Er, der beleidigte, an seiner Ehre gekränkte Herausforderer hatte sich zu diesem gewaltsamen Verfahren und zur Ueberschreitung aller Regeln berechtigt geglaubt. Jener, obschon bewaffnet, weigert sich zu ziehen, weil Ordnung und Subordination in seinen Augen zugleich übertreten sind, und hält es für seine Pflicht, den Vorfall anzuzeigen. Der Kapitän wurde eingezogen, nach der Abtei Saint-Germain gebracht, und jagte sich eine Kugel durch den Kopf.

Die Sache hat zwei Seiten; es ist kein Wunder, wenn die Meinungen geteilt waren.

Ich will versuchen, das Für und Wider auseinanderzusetzen.

Früher wagte es nur selten ein Offizier, wenn er weiter nichts war, als Offizier, von seinen Vorgesetzten Genugtuung zu fordern, weil diese ihn um seine Stelle und bisweilen um die Freiheit bringen konnten, die ihm noch teurer war als das Leben. Es gab nur eine Ausnahme: wenn man nämlich auf eine Weise beleidigt worden war, die der Ehre einen unauslöschlichen Flecken anhing. Hatte sich der Chef so weit vergangen, daß die Verzweiflung des Beleidigten, dem nur dies eine Mittel übrig blieb, gerechtfertigt war, so traten das Publikum und die Armee als Richter auf und übten Strafgericht gegen den Feigen, der eine Genugtuung versagt hatte, die er schon im voraus entschlossen war, nicht zu leisten.

In diesem sehr seltenen Falle und nach einer sehr schweren Beleidigung nahm der Offizier seinen Abschied, trat wieder in den Zivilstand, in eine Privatstellung, forderte seine Ehre von dem zurück, der sie verletzt hatte, und schlug sich mit ihm. So war es bei dem großen Condé der Fall. Er hatte einen Grand-Mousquetaire in der Schlacht von Steinkerke beschimpft, und erbot sich großmütig zur Genugtuung. Beide trafen zusammen, beide zogen den Degen, aber der Offizier legte den seinigen dem Prinzen zu Füßen. Der Prinz von B..., Oberst eines Dragonerregiments, das seinen Namen führte, hatte einst seinem Offizierkorps vorgeschrieben, ein besonderes Abzeichen zu tragen. Es war kein schriftlicher Befehl ergangen; die Offiziere gehorchten nicht. Einige Tage nachher kommt der Prinz auf die Parade, ereifert sich und erklärt endlich sehr bestimmt, es solle ihm leid tun, wenn er in der Hitze eines Manövers sich versähe und aus Mangel am Abzeichen einen Offizier für einen Gemeinen hielte und den Säbel an ihn legte. Tags darauf erscheint Herr von B..., einer der ersten Offiziere des Regiments, vor der Front und hat die Pistolen auffallend hoch aus den Halftern vorstehen. Den Prinzen von B... befremdet das; er fragt, was dies zu bedeuten habe. „Mein Prinz,“ gibt B... zur Antwort, „Ihre gestrige Warnung hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Sollten Sie sich versehen, so schwöre ich Ihnen, ich würde es nicht.“

In diesen äußerst seltenen Fällen wurde der Oberst oder Stabsoffizier, der sich an die höchste Behörde wendete, um sein Opfer zweimal zu treffen, vor das furchtbarste Strafgericht – vor den Richterstuhl der öffentlichen Meinung – gezogen und verdammt.

Was würde aber auf einer andern Seite, besonders in Frankreich, die Folge sein? Welche Quelle von Mißbräuchen, welcher Umsturz aller Grundsätze und Regeln der militärischen Hierarchie, und des passiven Gehorsams, der das Wesen und die Kraft eines Kriegsheeres ausmacht, würde daraus entstehen, wenn der erste beste junge Schwindel- und Brausekopf, den Eingebungen seines kranken Gehirns, seiner überspannten Phantasie Gehör gebend, ein Recht hätte, die Stellvertreter der Gewalt, seine gesetzmäßigen Vorgesetzten, denen er, Kraft der Heiligkeit seines Eides, in allem was den Dienst betrifft – wie dem Könige selbst – Gehorsam und Ehrfurcht schuldig ist, unbestraft vor die Klinge zu fordern! Aus diesem Gesichtspunkt erlaube ich mir, den überspannten Rittersinn des Vicomte de Noailles zu tadeln. Er kommandierte das Dragonerregiment des Königs. Einst, an öffentlicher Tafel, im Beisein der Offiziere des Regiments, sagte er, er würde einen Obersten verachten, der sich weigerte, einem Offizier, den er beleidigt hätte, Genugtuung zu geben. Er bediente sich hier eines Ausdrucks, dem es an Bestimmtheit fehlte: er hätte sich nicht des Ausdrucks beleidigt (offensé), sondern beschimpft (insulté) bedienen und lieber überhaupt nicht so sprechen sollen. – Dann setzte er aber hinzu: „Ich würde ohne Nachsicht den Offizier unglücklich machen, der mich im Regiment selbst und in der Garnison forderte; in Paris hingegen, im grauen Ueberrock, stehe ich jedem, der Lust hätte, einen Gang im Boulogner Wäldchen mit mir zu machen.“ (Diese an sich liberale Rede war im Munde eines Regimentschefs sehr unpassend.) Ein Kapitän, Herr von Bray, hatte kein Wort davon verloren. Er findet sich einige Zeit darauf beleidigt (offensé), fordert Genugtuung, erhält sie und verwundet seinen Chef. Dieser übt die edle Rache, ihn, als er selbst bald nachher das Garde-Chasseurregiment erhielt, zur Majorstelle vorzuschlagen. Der Kriegsminister, Herr von Brienne, macht Einwendungen, aber der Vicomte besteht darauf. Herr von Bray, einer der besten Offiziere seines vorigen Regiments, sei ihm unentbehrlich, und nur unter dieser Bedingung könne er das Kommando der Chasseurs übernehmen. Nur wenige sind einer solchen Rache fähig!

Der Entschluß, seinen Vorgesetzten zu fordern, darf nur höchst selten gefaßt werden; ja, es wäre zu wünschen, daß er in der französischen Armee beispiellos bliebe. Auf alle Fälle muß er der allgemeinen Vernunft, die in letzter Instanz entscheidet, dem Gewissen, das nie trügt, der öffentlichen Meinung, die sich verirren kann, aber früh oder spät die wahre Richtung nimmt, der absoluten Notwendigkeit, die wahrhaft verletzte Ehre wiederzugewinnen, untergeordnet werden. Daher bezog sich denn auch mein Streit mit dem Prinzen von Broglie nicht sowohl auf die einzelne Ehrensache des Herrn von Serne, von der ich nie ganz genau unterrichtet worden, als auf einen allgemeinen Satz des militärischen Despotismus, dem er huldigte, und den ich verwarf.

Der Prinz ist später von der Höhe seiner Grundsätze bedeutend herabgestiegen; denn, nicht zufrieden damit, in den Reihen der Freiheit zu fechten, wo er mich zum Nebenmann gehabt haben würde, ist er zu den Fahnen der Rebellion übergegangen, und hat sich selbst als Rebell proklamiert. – Das erstemal, als er, zur Zeit des Terrorismus, verhaftet wurde, begab sich eine Frau zu Danton und erbat sich den Prinzen von Broglie von ihm zurück. „Sie sollen ihn haben“, erwiderte dieser Athlet der Demagogie, „aber unter der Bedingung, Madame, daß Sie ihm mit dürren Worten sagen, er solle sich schlafen legen; er solle machen, daß man ihn vergessen; er solle uns die schwere Arbeit der Demagogie und das schmutzige Machwerk des Sansculottismus überlassen.“ Das nenne ich deutlich sprechen und klaren Wein einschenken; das nenne ich Loyalität und Energie; das nenne ich der Kraftmann sein, der seinen Platz einnehmen und behaupten will und den schwachen Gliedermann mit Verachtung belegt, der den seinen verlassen möchte. Aber ich habe sie auch beide gekannt, Danton und den Prinzen von Broglie. Welche ungeheure Kluft hatte die Natur zwischen dem energischen und großen Empörer und dem farblosen Undankbaren gelegt! Jener ist einer der ersten gewesen, welche die Revolution begründet haben, und von derselben ausgebildet worden; dieser einer der größten Schwächlinge, die der Hof emporgehoben hat und die den Hof zugrunde gerichtet haben. <br> Ich habe Danton zwölf Stunden vor meiner Abreise von Paris gesprochen; meine Hand hat in seiner blutigen gelegen, ohne daß ich zurückgeschaudert wäre. Ich habe, im Beisein des Abbé d’Espagnac, seine furchtbare Stimme gehört; diese Stimme hatte etwas Dumpfes, aber auch etwas Menschliches; der Ton, mit welchem er mir seinen Schutz versprach, war nicht abschreckend. <br> Danton hatte viel Böses wieder gutzumachen; er wollte es auch. Der Prinz von Broglie hatte nur wenig Böses tun können; aber selbst seine Reue darüber war nichtig!!!

Drei Monate verflossen mir in Cäciliens Umgang, im Schoße einer Ruhe, eines Glückes, dessen Ende ich nicht voraussah, nicht einmal ahnte. Ihr liebenswürdiges Gesicht drückte zwar bisweilen eine Unruhe aus, die ich mir nicht erklären konnte; ihr Herz schien mir von einer Last gepreßt, die ich nicht zu erleichtern vermochte. Hätte ich ihr Geheimnis auch teilen wollen, so konnte ich es nicht, denn sie hatte mir erklärt, sie habe keines. Es war ihr sogar gelungen, meine Besorgnisse zu stillen, so viel Güte und Kunst wußte sie in ihre Versicherungen zu legen. Zweimal hatte ich zwar ihre Türe verschlossen gefunden: aber noch tobte die Tyrannei der Liebe nicht in meinem Herzen, noch kannte ich die Raserei, die Eifersucht des Liebhabers nicht, die späterhin – ich gestehe es zu meiner Beschämung – vielleicht kein Mensch auf Erden so weit getrieben hat als ich. Dieses Bekenntnis macht mich, indem ich es niederschreibe, erröten, obschon die Zeit vorüber ist, wo ich wieder in diesen Fall des Errötens kommen könnte. Sie hatte mir mehr als einmal versichert, daß bloße Familienverhältnisse die Veranlassung dessen wäre, was meine Besorgnisse erweckte; sie sei glücklich; sie sei mir ihr ganzes Glück schuldig. ... Es ward ihr so leicht, es mich glauben zu machen! Die Eigenliebe ist ein Mitschuldiger, den man so gern schont und begünstigt ... und um mich hier des Ausdrucks eines unserer beliebtesten und liebenswürdigsten Dichter zu bedienen:

„je croyais surtout aux caresses!“

Es war mir nicht entgangen, daß eine ihrer Frauen, und zwar diejenige, die vor allen anderen ihr Vertrauen besaß, sich weder durch glatte Worte, noch durch Geschenke von mir gewinnen lassen wollte. Warum? Das wußte ich nicht, und erfuhr es nur, als es zu spät war. Sie haßte mich, weil sie schon einen andern begünstigte, von dem sie viel erhalten und noch mehr zu erwarten hatte.

So befand ich mich, ohne es zu ahnen, schon im letzten Akt dieses Schäferstücks, dem, wie man sehen wird, ein tragisches Ende bevorstand. Ich werde mich, um dieses Tableau auszumalen, derselben Farben bedienen, von denen ich schon in einem andern Werke Gebrauch gemacht (als von diesen Memoiren noch kein Gedanke in mir war). In jenes habe ich Wahrheit und Dichtung gebracht, Beschreibungen und Ereignisse aus verschiedenen Zeiten zusammengetragen und Abenteuer verzeichnet, die mich und einen mir ewig teuren Freund bestrafen. Den Marquis von Sennecterre.

Es war Nacht. Nach dem ersten Rausche beglückender Liebe überließ ich mich, in das Andenken der zu schnell verschwundenen, seligen Augenblicke versunken, der Ruhe, als ich plötzlich mit starkem Geräusch den Vorhang wegschieben höre, der eine Tapetentüre bedeckt. L. T... tritt ein. „Du wirst,“ sagte er, „allem Anschein nach deinen Triumph nicht lange überleben. Steh auf! Wehre dich! Ich weiß, du hast deinen Degen bei dir!“

Ich sprang auf. Zugleich stürzte Cäcilie vom Lager herab auf ihn zu. Er stieß sie mit Entrüstung und gewaltsam von sich. Das verdoppelt meine Wut. Ich ergreife mein Schwert, und wie zwei losgelassene Tiger fallen wir uns wütend an. Ich brauche nicht zu betonen, wie ungleich das Gefecht zwischen uns war. Ich befand mich in einem Aufzuge, den ein keuscher Pinsel keuschen Augen nicht beschreiben dürfte.

Auch wurde ich verwundet, noch ehe ich Zeit gehabt, zu mir selbst zu kommen. Cäcilie, zur Besinnung gelangt, erfüllte das Zimmer mit ihrem Geschrei, warf sich zwischen uns, wollte uns trennen, als ich, der indessen kälteres Blut gewonnen, weniger blind vor Wut als mein Gegner, und meinen Stoß sicherer auf ihn führend, ihn mitten in die Brust treffe ... Er wankt, fällt und vergießt einen Strom von Blut.

Wie ward mir aber, als ich Cäcilien, den Gegenstand meiner Liebe und unseres Kampfes, zu meinen Füßen liegend, verwundet, in ihrem Blute schwimmend, erblickte! Welche Hand hatte es vergossen? ... Noch immer weiß ich es nicht. ...

Beim ersten Schrei, den sie ausstieß, war diejenige von ihren Frauen, welche, von Herrn de L. T ... verführt, ihm das Geheimnis ihrer Gebieterin verraten und mich mit meinem längst nicht mehr begünstigten Rival zusammengebracht hatte, verschwunden. Sie war zu einer anderen Kammerfrau geeilt, um Hilfe zu holen. Man denke sich, wo möglich, meine Lage! Die teure Geliebte meines Herzens überströmte mit ihrem Blute das Liebeslager. Auf dem Boden ausgestreckt lag der halbtote Leichnam eines Mannes, den ich genau kannte, den ich von jeher geschätzt hatte; sein Blut strömte über das Getäfel hin; meines floß; unsere blutigen Schwerter lagen auf der Erde; Stühle, Leuchter waren umgestürzt. ... Es sind jetzt seit diesem Auftritt zwanzig Jahre vor mir vorübergegangen, und immer noch ist er meinen Sinnen und meinem Gedächtnis gegenwärtig; noch immer schwebt mir jene Blutnacht vor Augen; noch immer ergreift mich ein kalter Schauder! – Bald sah ich nichts mehr; ich verfiel in fürchterliche Krämpfe und gleich hernach in eine leblose Abspannung. Dieser todesähnliche Zustand dauerte zwölf Stunden. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich auf meinem Zimmer, von Arzt und Wundarzt umgeben, die Kunst und Kräfte erschöpften, mich in mein Leben zurückzurufen, das mir verabscheuungswürdig schien. Der Wundarzt berichtete, als ich meiner Sinne mächtiger geworden: Mitten in der Nacht sei er von einem Menschen geweckt und zu einem Wagen geführt worden, worin ich gelegen hätte. Er habe meine Wunde auf der Stelle untersuchen wollen, der fremde Mann habe ihm aber nicht Zeit gelassen, sei mit ihm und mir in meine Wohnung geeilt, habe mit meinem Kammerdiener nur ein paar Worte gesprochen, und sei mit dem Versprechen verschwunden, am Abend wiederzukommen.

Er kam auch wirklich. Es war einer von Cäciliens Leuten. Er brachte mir gute Nachrichten von ihr, sie war außer Gefahr; aber, setzte er hinzu, der Urheber des Unglücks werde allem Anschein nach seine Schuld mit dem Leben büßen; er liege noch immer schwer verwundet in Cäciliens Hause; man wolle versuchen, ihn diese Nacht fortzubringen.

Herr de L. T ... ist einige Jahre nachher, ich weiß nicht woran? weit von Paris entfernt gestorben. Er hätte es verdient, als Opfer dieses Duells, oder vielmehr dieses nächtlichen Ueberfalls zu fallen; er allein war schuld an den Folgen; alles Unrecht war auf seiner Seite, denn ich kann mir nichts Unedleres und Ungereimteres denken, als wenn man eine Frau zwingen will, eine Kette zu schleppen, die sie nicht mehr tragen mag, und wenn man alle Gunstbezeugungen für ein Recht hält, sich neue zu erstehlen.

Cäcilie verlangte mich nach unserer Genesung wiederzusehen. Sie weinte viel; beteuerte mir, daß sie mich anbete (das heißt bei den Frauen lieben); gab mir so ungenügende Aufschlüsse über alles, was vorgegangen, daß ich nicht klug daraus werden konnte, und bestimmte mir ein Rendezvous für den folgenden Abend, zu dem sie sich aber nicht einstellte, denn als ich ankam, war sie abgereist. Wir haben uns später oft wiedergesehen; es schien ein geheimer, stummer Vertrag zwischen uns obzuwalten; nie haben wir versucht, die Asche einer, Liebe wieder anzufachen, die ein so trauriges Ende genommen hatte, und von der ich, was mich betraf, völlig geheilt und entnarrt Désinfatué war.

Damals tat mir eine Zerstreuung not. Ich hatte wie ich glaubte, mit einem Engländer, der gegenwärtig Parlamentsmitglied ist, eine enge Freundschaft geschlossen. Er reiste nach Brüssel. Ich begleitete ihn. Wir durchzogen diese schönen, vom Himmel und mit Priestern gesegneten Fluren, welche zur Hauptstadt führen, und untersuchten (Ich weiß selbst nicht, warum?) das Innere des Oesterreichischen Flandern und Brabant mit einer Sorgfalt und einem Fleiße, als wäre es der klassische Boden Italiens gewesen. Ueber meinen Aufenthalt in Brüssel habe ich wenig zu sagen; zu dieser Zeit (1784) wurden die schönen Künste ziemlich vernachlässigt, der gesellschaftliche Ton war noch zurück; in der Liebe ging alles schlecht und recht zu; die Frauen zeigten sich nicht hinterlistig, die Männer nicht prahlerisch.

Ich sah viele Offiziere und schöne Truppen. Sie galten für besser und unterrichteter als die unsrigen. Unser Militär, so hieß es, sei nicht mehr das alte unter Condé, Turenne, Luxembourg, Villars und den übrigen Helden, welche die lange Regierung Ludwigs XIV. hervorgebracht hatte; unser Militär, hieß es weiter, habe viel von seinem Glanz und seinem Wert verloren, was mir jedoch aus zweierlei Gründen nicht recht einleuchten will. Denn erstens finde ich, daß wir unter Ludwig XV. Schlachten gewonnen haben, und lasse mich von dem ewigen Zuruf: „ Roßbach! Roßbach!!Roßbach!!!“ nicht irremachen, wohl wissend, daß bei Roßbach ein persönlich tapferer, aber am Geiste mittelmäßiger General, von Friedrich dem Großen, der allein mehr galt als ein ganzes Heer, erdrückt Assommé, zermalmt worden ist; – zweitens weiß ich ebenso gewiß, daß sich in einem Heere wie dem französischen, alle Elemente zu hohen Kriegstaten finden müssen; in einem Heere, von dessen Wesen die Bravour unzertrennlich ist; in einem Heere, das mit dem Mute die Intelligenz und den National-Ungestüm verbindet; in einem Heere, worin zwei Waffenarten sich von jeher so ausgezeichnet, so vollkommen erwiesen haben – die Artillerie und das Geniewesen.

Mögen übrigens die französischen Heere die für verloren gegebene Kriegskunst und Taktik verloren haben, – sie haben sie wiedergefunden; ... oder ist es, eine neue, nun so steht sie der alten wahrlich nicht nach.

Ich besuchte die Gärten und Umgebungen von Brüssel, die benachbarten Lustschlösser und Landsitze, unter anderem Laeken und Beloeil; Laeken, berühmt durch die Schönheit und den Reiz seiner Gärten; Beloeil, noch berühmter durch seinen Eigentümer, durch einen Mann, der sich in jeder Gattung von Verdiensten hervorgetan, dessen Liebenswürdigkeit den Neid über seine Vorzüge und hervorragenden Eigenschaften verstummen macht, – mit einem Worte, durch den Fürsten von Ligne.

Ich verließ den angenehmen Aufenthalt in den Niederlanden, kehrte nach Paris zurück, brachte einen ganzen Monat in der Hauptstadt zu, und begab mich so spät als möglich und auf eine Weise zum Regiment in Metz, auf die vielleicht vor mir kein Kavallerieoffizier verfallen ist, – nämlich im Mietswagen.

Diese Art des Transports kann als ein Gegenstück des Mittels angesehen werden, dessen sich der Prinz von Nassau bediente, als er die Postpferde auf jeder Station mit Wechseln bezahlte.

Nicht ganz so lustig war das Los, das in der Garnison auf mich wartete; denn so wie ich ankam, mußte ich, auf des Marschalls Broglie Befehl, auf zehn Tage in Arrest wandern; gerade so viel, als ich mich in Paris über meinen abgelaufenen Urlaub hinaus aufgehalten hatte. Ich verdiente die Strafe durch meinen Leichtsinn, der diese Verzögerung veranlaßt hatte. Ich war nämlich über die Zeit geblieben, um die Debüts einer jungen Schauspielerin abzuwarten, welche Anlage und Talent versprach, aber nicht Wort gehalten hat. Ich mag sie hier nicht nennen, um ihre Eigenliebe nicht zu verletzen, zumal da es ihr doch zu nichts helfen würde, denn sie hält sich für vortrefflich, und würde besser sein als sie ist, wenn ihre Mittel mit ihrem Fleiße Schritt hielten.

Wir alle kennen den Marschall Broglie, die Schlacht von Bergen, seinen Eigensinn, seine Frömmelei.

Der Kommandierende in den drei Bistümern war der Generalleutnant, Graf von Caraman. Es eröffneten sich ihm die schönsten Aussichten in der militärischen Laufbahn. Mehr als einmal hieß es, er würde Kriegsminister werden. Diese höchste Stufe in seinem Departement schien ihm gewiß. Ohne Gelegenheit gehabt zu haben, sich glänzend auszuzeichnen, und die seltenen Talente und Kenntnisse zu entwickeln, die er in einem langen, tiefen und durchdachten Studium seines Faches gesammelt hatte, waren ihm gleichwohl alle Stimmen und die allgemeine Meinung des Volkes und der Armee günstig. Er gehört zu den Männern, welche, von der Revolution in ihrem Laufe plötzlich gehemmt, das Ziel in dem Augenblicke verfehlt haben, wo sie schon die Hand nach der Palme ausstreckten. Er hatte bei Hofe, mehr als andere, mit Hindernissen zu kämpfen; die Königin war ihm nicht gewogen; dazu kam noch, daß Neid und Mißgunst über sein Glück und sein Vermögen, ihm das einzige zum Vorwurf machte, was nicht von ihm abhing, seine Geburt, denn er stammte nicht aus einem alten Hause ab. Er war ein Mann von den strengsten Grundsätzen, von den reinsten Sitten, und hatte eine der achtungswürdigsten Frauen zur Gemahlin, der man die vornehme Abkunft gewiß nicht absprechen konnte, denn sie war eine geborene Chimay, eine Schwester des Fürsten dieses Namens und des Prince d’Hénin. Sie bildete mit ihren liebenswürdigen Töchtern eine Familie von Engeln. Der Graf von Caraman machte damals in Metz ein großes Haus, was ihm bei seinem bedeutenden Vermögen leichter wurde als vielen anderen. Er machte sein Haus zum Sammelplatz für alle, die für den Wert dieser Wohltat und den Reiz einer auserlesenen Gesellschaft Gefühl hatten.

Der Ordensritter, Graf von Damas, war ebenfalls in dieser Provinz angestellt; ein ausgezeichneter Stabsoffizier; ein Mann von Ehre, von Rechtlichkeit, von einem musterhaften Benehmen gegen die ihm Untergebenen. Ich bin später in trüben Zeiten in Berlin mit ihm zusammengetroffen. Er blieb einfach, fest und edel im Unglück, und bewies, daß er der Glücksgöttin und ihrer Gunst entbehren konnte.

Die liebenswürdigste aller Intendantinnen, der auch nicht die geringste kleine Lächerlichkeit, die man den Damen, die diesen Titel führen, zuzuschreiben gewohnt ist, anklebte, Frau von Pons, machte ebenfalls ein Haus, dessen höchste Zierde sie selbst war. Zu Paris lebte sie in den allerersten Kreisen, deren Ton und Anstand auf sie übergegangen war. Ohne zu den vollkommenen Schönheiten zu gehören, besaß sie eine Menge Reize und einnehmende Eigenschaften, welche einen Mann (den Grafen de Grand) sehr lange fesselten, der jetzt für Frankreich verloren ist, der mit Kenntnissen und Unterricht leichte Grazie, mit liebenswürdigen Talenten die heiterste Laune und ein offenes, gefälliges Benehmen verbindet. Ich wünsche und hoffe, daß in Madrid, oder in Valencia, oder in Granada, wo er sich jetzt aufhalten mag, seine Kollegen, die Granden von Spanien, ihn ebenso sehr lieben und schätzen und würdigen werden, als wäre er in ihrer Mitte geboren. Sollten diese Zeilen ihm vor Augen kommen, so finde er hier den Ausdruck meiner Freundschaft für ihn; er finde hier ein schwaches Denkmal der Gesinnungen und Gefühle, die er in mir erregt hat und die ich ihm bis an meines Lebens Ende erhalten werde.

In diesem Bildersaal von Erinnerungen darf ich einen Mann nicht vergessen, mit dem ich sehr wenig Beziehungen hatte, den ich nicht liebte, gegen den ich aber, eben deswegen, gerechter sein werde. – Dieser Mann ist der Vicomte de Ségur . ... Sein Vater, der Kriegsminister, hatte sich bei der Armee nicht beliebt gemacht, weil er sich in seinem Departement nicht so zu benehmen wußte, wie im Felde, wo ihn ein glänzender Mut auszeichnete. Der Sohn stand beim Regiment Noailles als Oberstleutnant, besaß ebenfalls nicht die Liebe des Korps, weiß es aber ebensogut als ich, daß sich daraus nichts gegen ihn schließen und beweisen läßt. Er dichtete allerliebste Chansons, mitunter auch wohl manche mittelmäßige, sang sie nicht so gut als er sich’s einbildete, hatte einen unvergleichlichen Gesellschaftston, wenn er nicht spöttelte, und unendliche Grazie, wenn er nicht in den Fehler verfiel, den ich bei einem anderen – Geckenhaftigkeit nennen würde.

Im ganzen war er ein überaus angenehmer Mann, was ihm um so mehr zum Lobe gereicht, da man ihn in seiner Jugend über alle Maßen verzogen hatte. Wir haben von ihm eine unzählige Menge Schriften, worin mehr Eleganz als Kunst, mehr Leichtigkeit als Talent herrscht, die ihm aber unter denen, die zugleich als Weltmänner und Schriftsteller aufgetreten sind, eine ehrenvolle Stelle einräumen. Seit meinem Aufenthalt im Norden ist mir ein Band Gedichte, die er in Paris herausgab, in die Hände gefallen. Sie enthalten manches Vortreffliche aus der guten Zeit und vom besten Geschmack. Ich habe ebenfalls sein Werk: „ Sur les femmes“ gelesen; niemand war wohl mehr geeignet als er, über diesen Gegenstand zu schreiben, da niemand von den Frauen mehr begünstigt worden ist. Es war billig, daß eben derjenige, der über so viele von ihnen gesiegt hatte, es übernahm, sie zu preisen und ihnen Anbeter zu verschaffen. Sein Werk muß als ein Denkmal der Erkenntlichkeit angesehen werden. Er war es dem schönen Geschlecht schuldig; er arbeitete in seinem Beruf; nur hat ihn das Talent nicht immer unterstützt. ... Ich sehe sein Werk als ein solches an, das – noch zu machen wäre.

Wenige Tage vor meiner Abreise – vor meinem Abschiede von Frankreich! – las er mir auf seinem Zimmer Fragmente aus einer Oper vor, die mir überaus gefielen. Ich hoffe, er wird dem Publikum ein angenehmes Geschenk mit dieser Dichtung gemacht haben.

Ich entsinne mich noch einer Unterhaltung mit ihm in den Tuilerien, beim Könige. Er trug gesunde, loyale Meinungen vor, erklärte sich aber bestimmt und freimütig gegen den Grundsatz der Emigration. Möge hier das Zeugnis meiner Erfahrung sein Urteil bestätigen! Ich versichere ihm auf meine Ehre, daß ich geradeso denke wie er. Noch mehr: Ich beteuere, wenn es ihm lieb sein kann, ohne meinem Gewissen und der Achtung zu nahe zu treten, die ich seinem Geist und seinen Schriften schuldig bin, daß dieser Ausspruch über die Auswanderung in meinen Augen seinem Verstande weit mehr zur Ehre gereicht, als sein ganzer literarischer Ruf.

Ich mag hier einem Manne keine Stelle einräumen, den ich genau gekannt habe, und der damals ein fremdes Regiment in Metz kommandierte. Ich habe nie viel von ihm gehalten, obgleich es ihm keineswegs an Anlagen und Mitteln fehlte; aber ich war weit davon entfernt, ihn der Scheußlichkeit für fähig zu halten, womit er in allen Szenen der französischen Revolution sein Leben befleckt und seinen Namen geschändet hat. Dieser Mann ist noch mehr das Brandmal seiner Partei, als der Abscheu der entgegengesetzten gewesen. Das Haus, aus welchem er abstammt, das einer großen Nation einen König gegeben, und mit fast allen Thronen Europas verwandt und verschwägert ist, hat ihn aus seiner Mitte verstoßen und macht es mir zur Pflicht, das Andenken an ihn und an die Schmach, womit er sich bedeckt hat, und worüber selbst seine Mitschuldigen erröten, zu unterdrücken. Es war Prinz Karl von Hessen-Rheinfeld-Rothenburg, der spätere „citoyen Hesse“ der Revolution.



Ich näherte mich dem Augenblicke, wo ich Paris wiedersehen sollte, und sehnte mich danach wie ein Liebhaber, der nach einer langen Abwesenheit in die Arme seiner Geliebten fliegt. Der Neffe des Schwanes von Cambray, der junge Fénelon, nicht ganz so engelrein, so tugendhaft wie sein Oheim, bot mir einen Platz in seinem Wagen an, und wir gelangten zusammen in die Hauptstadt.

Meine Freude war von kurzer Dauer. Mit Bestürzung und Schmerz erfuhr ich bei meiner Ankunft ein trauriges Ereignis, das sich soeben begeben hatte, und glücklicherweise, anstatt großes Aufsehen zu machen, nie ins Publikum gekommen ist. Einer meiner Jugendfreunde hatte eine Schwester. Sie war um einige Jahre älter als wir beide; ich hatte sie oft gesehen, sie hätte auf eine der größten Verbindungen Anspruch machen können. Schön, geistreich, talentvoll, wurde sie in einem Kloster zu Arras, in der Nähe ihrer Tante, erzogen, die auf ihren Gütern lebte und ihr ganzes sehr ansehnliches Vermögen der Nichte zudachte. Ein junger Edelmann aus Artois, von einnehmendem Aeußeren, dem später seine Wohlgestalt zu einem großen Glücksstande an einem nordischen Hofe verhelfen hat, war so glücklich oder unglücklich Eut triste bonheur, die Mauern des heiligen Asyls zu ersteigen oder vielmehr sich ohne viele Umstände in den Schafstall des Herrn durch die offene Tür Eingang zu verschaffen. Sei’s auf diese oder jene Weise, genug, das Resultat seiner Besuche war, daß zwei Fräulein aus vornehmen Häusern, und vielleicht auch ein Paar Nönnchen, die es nicht werden verlautbaren lassen, mit Pfändern seiner Liebe und Kühnheit beschenkt wurden.

Die junge Person, von welcher hier die Rede ist, schrieb an ihre Tante: Der schlechte Zustand ihrer Gesundheit mache ihr den Genuß der Landluft notwendig. Die Tante nahm sie aus dem Kloster. Kaum im Schlosse angelangt, verschluckte sie ein überaus subtiles Gift, das sie sich, man weiß nicht wie, zu verschaffen gewußt hatte, und wurde am Fuße eines Baumes im Park auf sehr romantische Weise tot aufgefunden. Ihr Bruder wütete, wollte verzweifeln, lechzte nach Rache; aber die Verwandten zwangen ihn aus Grundsätzen der Ehre und des Zartgefühls, von seinem blutigen Vorhaben abzustehen, ihrem Beispiele zu folgen und zu schweigen. „Man müsse,“ hieß es, „über diese Familienschmach einen dichten Schleier ziehen.“

Des Bruders Freundschaft für mich lüftete diesen Schleier. Er entdeckte mir alles. Mit Recht für ihn besorgt und seinem stummen Schmerze mißtrauend, ließ ich ihn sechs Wochen lang nicht aus den Augen, wachte über ihn, wie über ein Kind in Lebensgefahr. Mir ist kein so tiefes Leiden, wie das seinige vorgekommen. Er war höchst unglücklich: Ich kenne nur einen auf Erden, der es noch mehr werden sollte als er!

Ungefähr um diese Zeit erschien ein Buch, das ein ungeheures Aufsehen im Publikum machte und in den Köpfen mehr Unheil anrichtete, als die schlüpfrigsten Gemälde und die unzüchtigsten Geisteserzeugnisse; ein Buch, das seinen Verfasser zwischen Tadel und Lob, zwischen Verachtung und Achtung stellte, ihm zwischen den ausgezeichnetsten Schriftstellern und denen, die einen verderblichen Gebrauch von ihren Talenten machen, zwischen den großen Malern einiger auffallenden Laster und den Verderbern und Vergiftern aller Tugend einen Platz anwies; – ein Buch, dem der Verfasser sich erfrechte, einen moralischen Zweck unterzulegen, während es eine offenbare Beleidigung aller Nationalmoralität war; – ein Buch endlich, wovon alle Frauen bekennen und beichten, es gelesen zu haben, das alle Männer hätten streben sollen zu vertilgen, und das verdiente, von Henkershand öffentlich verbrannt zu werden, obschon es in seiner Gattung wert ist, in den ausgesuchtesten Sammlungen einen klassischen Platz einzunehmen. Ich glaube die Liaisons dangereuses nicht erst nennen zu brauchen.

Ich rede heute von diesem Werke anders, als ich bei dem ersten Erscheinen darüber dachte; denn ich gestehe und werfe es mir vor, zu dessen leidenschaftlichsten Bewunderern gehört zu haben. Noch mehr; ich habe es damals, als es neu war, zwei oder drei Frauen geliehen, die es insgeheim verschlangen und sich sorgfältiger beim Lesen versteckten, als sie es später bei der praktischen Befolgung seines Inhalts getan haben.

Mir war außerordentlich viel daran gelegen, die Bekanntschaft des Herrn de Laclos zu machen; aber dieser Wunsch schwand bald, wie alle Wünsche, die auf keiner festen Grundlage beruhen. Ich fand viele Jahre später Gelegenheit, ihn zu sehen, und wieder eine geraume Zeit nachher die Veranlassung, mich mit ihm über seinen berüchtigten Roman zu unterhalten, der aber eigentlich kein Roman ist, da ich aus seinem eigenen Munde erfahren habe, was in diesem zugleich so eleganten und so zynischen Werke Dichtung und Wahrheit ist.

Und da ich einmal hier von den Liaisons zu reden angefangen habe, so will ich mich nur gleich in den Zeitraum versetzen, wo meine Unterredung mit Herrn de Laclos stattfand und die chronologische Ordnung (wie schon oft), auch dieses Mal hintenansetzen.

Im Jahre 1789 gab mir der Herzog von Orleans (welchen ich um einen Dienst ersucht hatte, der ihn nur ein paar Briefzeilen kostete), in seinen kleinen Zimmern des Palais-Royal ein frühes Morgen-Rendezvous. Ich stellte mich zwischen neun und zehn Uhr ein und traf schon die Herren Heymann, de Travanet und einen dritten an, den ich nicht kannte. Travanet nannte ihn mir; es war Herr de Laclos.

Welche sonderbare Vereinigung (dachte ich) von Männern, die so wenig im Charakter und infolge ihrer ursprünglichen Stellung zueinander, und noch weniger zum Umgang mit dem ersten Prinzen vom Geblüt passen! Gleichwohl versäumte ich die Gelegenheit nicht, mich Herrn de Laclos zu nähern, dessen Liaisons dangereuses ich über meine eigenen beinahe ganz vergessen hatte. Kaum gewann ich Zeit, ein paar Höflichkeiten mit ihm zu wechseln, als unser kurzes Gespräch schon ein Ende nahm, weil man mich ins Kabinett des Herzogs rief. Hier blieb ich einige Minuten, begleitete alsdann den Herzog in das erste Zimmer, wo sich unterdessen mehrere Personen eingefunden hatten. Ein neues Werk des Herrn von Calonne bildete den Gegenstand der Unterhaltung; die Meinungen waren, wie immer, geteilt. Ich dachte nicht weiter an Herrn de Laclos, und traf ihn erst zwei Jahre später in England wieder, wohin er den Herzog von Orleans begleitet hatte, als dieser, aus dem Salon der Herzogin von Coigny, von Herrn de la Fayette, in außerordentlicher Sendung nach London geschickt wurde, um dorthin die Nachricht zu bringen, „daß man ihn nicht länger in Paris haben wolle“.

Es ist hier nicht der Ort, auf die einzelnen revolutionären Maßregeln und Schritte einzugehen, womit sich Herr de Laclos befaßt hat, und sich mit der Gewalt zu beschäftigen, die er über einen Prinzen geübt, den seine Freunde und seine Feinde auf einem und demselben Wege dem Blutgerüste zugeführt haben, nämlich durch die Vorspiegelung eines Thrones, den er nur mit Schauder – und noch mehr mit Befremden – bestiegen haben würde. Ich habe es hier nur mit dem Verfasser der Liaisons dangereuses zu tun. Ich versuchte es ein- oder zweimal in London, von ihm selbst das ganze Geheimnis seines Buches herauszubringen, indem ich überzeugt war, daß ein Werk wie dieses, ohne wirklich bestehende Originalcharaktere, die der Verfasser benutzen und zugrunde legen konnte, niemandem in den Sinn gekommen sein würde. Er entzog sich, obwohl mit vieler Artigkeit, meinen Fragen, und gab mir keine befriedigende Antworten.

Endlich aber lieferte ihn die Langeweile in meine Hände und bediente mich besser als meine Neugierde und seine Eigenliebe es getan hatten.

Wir waren beide einmal beim Lever des Prinzen von Wales, der aus zwei Ursachen erstaunlich lange auf sich warten ließ; einmal, weil es Fürstensitte ist; zweitens, weil die Toilette eines der schönsten Männer von Europa viel Zeit erforderte. Herr de Laclos, weniger aus Mangel an Kenntnis der Hoftaktik, als infolge der finsteren Ungeduld eines Philosophen oder eines Staatenumwälzers, anstatt seine Laune hinter einem angenommenen Phlegma zu verbergen, anstatt nach der Uhr zu sehen oder auf und ab zu gehen, suchte sich die Zeit durch Plaudern zu vertreiben. Er unterhielt sich mit mir, und Sprach ungefähr wie folgt:

„Ich stand in Garnison auf der Insel Ré, und langweilte mich wie in diesem Saale. Ich hatte zum Zeitvertreib ein paar Elegien auf Tote verfertigt, die nichts davon erfahren werden; ich hatte einige Episteln gedichtet, welche zu meinem und der Leser Glück, ungedruckt geblieben sind; kurz, ich hatte ein Geschäft betrieben, von dem ich mir wenig Beförderung und wenig Achtung versprechen konnte, so daß ich mich entschloß, an einem Werke zu arbeiten, das sich von der gewöhnlichen Bahn entfernen, Aufsehen machen, und mir noch lange nachhallen sollte, wenn ich schon tief im Grabe liegen und schweigen würde. Das waren seine eigenen, etwas rhetorischen Ausdrücke, deren ich mich noch, wie von gestern her, erinnere. Sie frappierten mich um so mehr, da sie von dem Ton und der Farbe seiner gewöhnlichen kalten und methodischen Unterhaltungssprache so sonderbar abstachen. Ich hatte einen literarischen Freund, der sich in den Wissenschaften einen großen Namen gemacht und in seinem Leben eine Menge Abenteuer bestanden hatte, denen es nicht an Glanz und Eklat, nur an einem Rahmen und einem Schauplatz fehlte. Dieser Mann war im eigentlichsten Sinne für die Frauen geboren, und in alle Falschheiten und Treulosigkeiten, worin es das weibliche Geschlecht soweit gebracht hat, eingeweiht. Mit einem Worte: Wäre er ein Hofmann gewesen, er würde den Ruf eines Lovelace erreicht und denselben im guten Gesellschaftstone noch übertroffen haben. Er hatte mich zu seinem Vertrauten gewählt; ich lachte über seine Streiche, Espiégleries. half ihm aber bisweilen mit meinem Rate. So kannte ich z.B. eine seiner Mätressen, die der Frau von Merteuil so ziemlich nahe kam; aber erst in Grenoble fand ich das eigentliche Original, welches zu meiner Schilderung gesessen und von welcher meine Frau von Merteuil nur eine schwache Nachbildung ist; es war eine gewisse Marquise de L.T.D.P.M., von der die ganze Stadt Züge wußte und erzählte, die in der Geschichte der berüchtigtesten Kaiserinnen des alten Rom eine Hauptstelle eingenommen haben würde. Ich zeichnete mir das Merkwürdigste auf und nahm mir vor, zu seiner Zeit Gebrauch davon zu machen. Prévans Geschichte war lange Zeit vorher einem Stabsoffizier bei den Mousquetaires, Herrn von Rochechouart, begegnet. Der Vorfall brachte ihn um Ruf und Ehre. Heute würde man darüber lachen. Ich hatte einen Vorrat pikanter Abenteuer und Geschichtchen aus meinen Jugendjahren. Ich verschmolz alles, machte aus den heterogenen Teilen ein Ganzes, erdichtete das Fehlende und schuf insbesondere den Charakter der Frau von Tourvel, auf den ich viel halte und der mir nicht zu den gewöhnlichen zu gehören scheint. Ich verwandte großen Fleiß auf den Stil, und nachdem ich an meinem Werke ein paar Monate gefeilt hatte, schickte ich es ins Publikum. Seitdem habe ich es fast aus den Augen verloren und weiß nicht, hat es Glück gemacht oder nicht; nur so viel hat man mir gesagt, daß es noch am Leben sei.“

Ich habe meine Antwort vergessen. So viel aber ist gewiß, seine Rede steht hier Wort für Wort.

Und da ich einmal diesen Exkurs gemacht habe, so will ich auch, ehe ich acht bis neun Jahre zurückgehe, in wenigen Worten meine Meinung über das Werk selbst sagen, das ich hier (wohlverstanden!) nur nach seinem literarischen Werte untersuche, und in Hinsicht auf die Art und die Gefahr der darin enthaltenen Gemälde beurteile.

Was hier folgt, ist ganz meine Ansicht. Ich habe mich nie darüber mit anderen auf Erörterungen eingelassen, die meine Ansicht bestimmt haben könnten.

Fürs erste hat der Verfasser auf seine Frau von Merteuil viel Kunst verwendet; er hat sie absichtlich verderbt geschildert, damit sie desto mehr mit der engelhaften Reinheit der Frau von Tourvel kontrastiere und selbst gegen Valmont absteche, der bei weitem nicht so arg ist wie sie. Der Verfasser zeigt sich als Menschenkenner und befolgt die Regel. In der Regel nämlich sind die Frauen besser und mehr wert als wir; weichen sie aber einmal von dem Pfade der Tugend und Weiblichkeit ab, so geht’s mit ihnen desto rascher und desto weiter auf der Bahn des Lasters und der Sittenlosigkeit fort. Dagegen ist es ein großer Fehler, daß er jeder Person ihren besonderen Stil im Sprechen und Schreiben beilegt. Er hätte sich damit begnügen sollen, ihnen eine unterscheidende Physiognomie zu geben. Durch diese Verschiedenheit ist der Uebelstand veranlaßt worden, daß neben vortrefflich geschriebenen Stellen man auf andere stößt, die durch übel angebrachte Naivetäten oder nicht zu entschuldigende Nachlässigkeiten auffallen und nicht als Kontraste, sondern als wahre Flecken anzusehen sind. Die Schilderung der Frau von Tourvel ist das Schönste, was man lesen kann, und hat der Jugend von beiden Geschlechtern Ströme von Tränen gekostet. Welches junge Mädchen würde nicht lieber sterben wie sie, als leben wie ihre verabscheuungswerte Rivalin! Welches junge Mädchen würde der Tugend nicht diesen Zoll bringen! Welcher Jüngling hat sich nicht eine Geliebte geträumt wie sie, hat nicht das Knie vor ihrem Bilde gebeugt, und ihrem Schatten die Huldigung seines Herzens dargebracht! Das ist der Zoll, welcher der wahren Liebe gebührt! Aber hiermit ist es auch abgetan; weiter nehme die Jugend an diesem Buche keinen Anteil. Das übrige ist ein strafwürdiges Erzeugnis; es sind Gemälde, tadelnswerter als Aretins Bilder; aber die meisten sind elegant, einige wahr, mehrere übertrieben und mit stark aufgelegten Farben ausgemalt. Für diejenigen, welche die große Welt nur vom Hörensagen kannten, hat dieses Werk für eine glänzende Schilderung der allgemeinen Sitten einer gewissen hohen Klasse gegolten, und ist in dieser Hinsicht eine der tausend Wogen im revolutionären Ozean geworden, die den Hof verschlungen haben, einer der tausend Blitze im Ungewitter, das den Thron zerschmettert hat. – Das ist meine feste Ueberzeugung. Man wende mir nicht ein, daß niemand vor mir auf diesen Gedanken verfallen, man finde meine Behauptung nicht übertrieben, nicht lächerlich, man frage mich nicht: „Haben Sie es von dem Verfasser?“ – Nein, er hat es mir nicht gesagt, aber er, der Mitarbeiter an einem so tief angelegten Verschwörungsplan, sollte es nicht gewußt haben? – An einem so weit ausgedehnten Plan, wo jedem im voraus, am Hofe, in der Hauptstadt, in den Provinzen, in der Armee seine Rolle vorgeschrieben war? Selbst Valmonts Tod ist kein Schluß, keine Ehrenrettung für die Moral, weil er, streng genommen, zu verdammen ist: die Dazwischenkunft des Pater Anselm ist eine Verspottung seines heiligen Amtes. Selbst für die unteren Klassen sind die Liaisons ein Unterricht in der Schamlosigkeit, eine Aufmunterung zur Sittenverderbnis. Was soll ich endlich von der Rolle der jungen Unschuldigen Innocente. sagen, die alles tat, was die erfahrensten Buhlerinnen tun können, die ihre Mutter lächerlich macht, den jungen Mädchen das schlimmste Beispiel gibt, kurz, die der letzte Pinselstrich dieses mit einer dreifach strafbaren Kunst ausgemalten Tableaus ist?

Der Stil ist natürlich, bisweilen zu natürlich, daher schwach, doch fast immer elegant, graziös und gedrängt. Alle Teile der Intrige gehen mit einer Leichtigkeit ineinander über, hinter der Arbeit und Mühe sich künstlich verbergen. Was bei der Reflexion zum scheußlichsten Laster wird, erscheint beim Lesen ganz einfach. Der Verfasser reißt die Leser mit sich fort, man trennt sich nur dann von ihm, man macht sich vom Interesse, das er einflößt, von dem Einverständnis mit ihm nur dann los, wenn man die ganze Bahn durchlaufen hat und am Ziele steht. Mit einem Worte, sein Werk ist das Werk eines Kopfes ersten Ranges, eines in Fäulnis übergegangenen Herzens und – des Genius des Bösen.

Unter dem neuen Gesellschaftszustande hat das Buch an Interesse verloren; gleichwohl wird es so lange bestehen als die Sprache, in der es geschrieben ist.

Sollte sich jemand über diese lange Diatribe wundern und nicht begreifen, warum ich ein altes Werk neu untersuche und zergliedere, so fühlt er nicht wie ich, so hat das Werk nicht auf ihn eingewirkt wie auf mich, so hat er die Folgen, die es hervorgebracht, nicht gesehen wie ich; – so geschieht’s, entweder weil er zu unempfindlich ist, oder ich zu eindrucksfähig; Impressionable; ein neu geprägtes Wort. – so geschieht’s, weil er die Liaisons dangereuses als einen Roman ansieht, den man in der Jugend von sich legt, wenn man ihn gelesen hat, und ich sie als eines von den verderblichen Meteoren, als eines von den Unheil verkündenden Zeichen der Zeit betrachte, welche gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts an dem in Flammen stehenden Himmel erschienen sind.

Ich führe meinen Leser mit mir nach Paris zurück; – nach Paris, wo ich einen unglücklichen Freund wieder aufsuche – nach Paris, das ich mit diesem Freunde verlasse, um ihm ein paar Wochen auf seinem Landgute Gesellschaft zu leisten. Dort überlasse ich den Halbgeheilten der Zeit ... denn was vermag nicht die Zeit, die heilsamste Trösterin im Unglück? Von da gehe ich nach der Provinz Maine, auf eine Besitzung, die ich, noch immer minderjährig, nicht veräußern darf, wo ich aber einem lachenden Käufer einen bedeutenden Holzschlag für ein Spottgeld verkaufe. Mit dem Kaufpreis in dem Portefeuille geht’s wieder nach Paris. In diesem bodenlosen Abgrund, in dieser Hauptstadt, die alles verschlingt, werde ich bald mein Geld verschwendet haben, habe ich doch mit noch größerem Leichtsinn meine Jugend dort vergeudet ... meine Jugend, deren schöne Tage wie ein Traum verschwanden!

Jener Holzverkauf mißfiel meiner Familie. Mein Vater, dem seine eigenen Angelegenheiten genug zu schaffen machten, hielt es für gut, sich bei diesem Anlaß in die meinigen zu mischen. Doch das konnte mir sehr gleichgültig sein, weil ich über den Ertrag meines Vermögens bis zur Vollbürtigkeit verfügen konnte. Er schrieb sogar an den Prinzen von Poix, und bediente sich seines väterlichen Ansehens, um ihn zu ersuchen, mir einen Verweis zu geben und mich zum Regimente zu berufen. Sein Brief blieb ohne Folgen. Um sich zu trösten, kaufte mein Vater vom Prinzen von Guémenée die Hofstelle eines Grand-Bailli d’épée in der Apanage Monsieurs, Bruders des Königs, mit der Anwartschaft für mich. Er tat diesen Schritt, ohne mich zu befragen, denn er mochte wohl wissen, wenn ich mein Gutachten zu geben gehabt hätte, wie es ausgefallen wäre, und daß ich die Familie vermocht haben würde, ihm diese Ungereimtheit hart vorzurücken. Le faire gronder de cette absurdité. Der Handel hat ihn viel Geld gekostet, und ihm von der Gräfin von Tessé das Kompliment zugezogen, sie könne ihm zu seiner neuen Würde nicht Glück wünschen, weil es nur noch im Molière Seneschälle gäbe. Groß-Seneschall und Grand-Bailli dapée sind zwei gleichnamige Titel. Die Sache ist veraltet; die Rechte waren ehedem bedeutend. In schwierigen Fällen besorgte der Seneschall das Kriegsaufgebot des Adels; in ruhigen Zeiten hatte er nichts weiter zu tun, als, so oft es ihm gefiel, unter einem reich mit Fransen und Federn geschmückten Thronhimmel in dem Hauptorte seinen Umzug zu halten, begleitet von einer zahlreichen Dienerschaft in Staatslivree, mitunter auch von einem Teil des Magistrats usw. Es hatte freilich so ziemlich das Ansehen einer Mummerei, wobei der Seneschall die Hauptrolle spielte mit seinem Federhut, seiner goldenen Kette, seinem langen Degen, seinem kurzen Mantel usw. usw. Ich würde um nichts diese Hauptrolle gespielt haben. Verf. Nichtsdestoweniger veranstaltete mein Vater bei dieser Gelegenheit in seiner Provinz große Festlichkeiten, welche ihn viel Geld kosteten. Ebenso teuer kam ihm die Taufe eines Söhnleins aus der zweiten Ehe zu stehen, wobei Monsieur und Madame Elisabeth Patenstelle vertraten. Das brachte die schon zerrütteten Finanzen meines Vaters vollends in solche Unordnung, daß an keine Hilfe und Rettung zu denken war.

Der Herzensangelegenheiten und großen Leidenschaften müde, suchte ich leichtere Zerstreuungen, und vor allem den Umgang der Musen. Ich machte eine Menge Verse und brachte meine neugeborenen Kinder in einigen Tagesblättern zu Grabe. Um aber in nichts zurückzubleiben, ward ich ein Spieler, ohne je das Spiel geliebt zu haben. Der Graf von Genlis erhielt mein Handgeld. Er wohnte damals auf der Place Vendome. Bei ihm fanden sich Spieler aus der guten Gesellschaft ein – aber auch aus solcher, die diesen Namen nicht verdiente. Dame Fortuna, welche den Anfängern immer eine Zeitlang zuzulächeln pflegt, so wie Dame Venus gern mit jungen Liebhabern kokettiert, legte mir ihren gewöhnlichen Fallstrick und ließ mich gewinnen; aber früh genug mußte ich ihre vorübergehende Gunst teuer bezahlen. Ich bin dem Grafen Genlis die Gerechtigkeit schuldig, daß ihm meine Jugend und Unerfahrenheit Sorge machten, daß er mich warnte, daß er mir über das Spiel und die verderblichen Streitigkeiten, deren Tummelplatz sein Haus war, heilsame Lehren gab, daß er mich sogar bat, mich bei ihm zu amüsieren, mit ihm zu speisen, aber mein Geld zu behalten. Leider aber war die Gelegenheit da, und die Verführung stärker als seine Beredtsamkeit, obschon sie damals kräftiger und eindringender war, als jene, die er auf der Rednerbühne vortrug, vielleicht auch aufrichtiger und gutgemeinter.

Meine Besuche bei ihm und beim Präsidenten von Champ... (der ungefähr dieselbe Gesellschaft und außerdem eine Menge Frauen aus allen Ständen, Farben und Jahren sah) wurden von Personen von Rang und Achtung, die mir wohlwollten, und zum Teil zu meiner Familie gehörten, übel ausgelegt. Ich hörte nicht auf sie, ließ mich bei ihnen nicht sehen, und sie erlaubten sich nun die Freiheit, mich ein mauvais sujet zu nennen, eine Benennung, mit welcher man ratsamer zu Werke gehen sollte als gewöhnlich geschieht, besonders wenn man sie jungen Leuten erteilt, denn diese werden anfangs zu stark dadurch gereizt, woraus folgt, daß sie sich darüber hinwegsetzen und durch ihre Gleichgültigkeit den Beinamen verdienen.

Wie mancher macht sich dadurch, daß er im Anfang des Lebens die öffentliche Meinung verachtete, der Verachtung wert! Erst späterhin ist es dem Menschen erlaubt, sich über die Meinung zu erheben, sie für das zu halten, was sie ist, und über Richter zu lächeln, die oft weniger gelten als die Opfer, denen sie das Brandmal aufdrücken.

Während ich mich so in diesen beiden Häusern umhertrieb, dabei kleine Liebschaften im Dunkeln anknüpfte, sie bald wieder auflöste, mich von Zeit zu Zeit wider Willen in guten Gesellschaften sehen ließ, wo man keinen Gefallen an mir fand, und wo ich durch unanständiges Gähnen zu erkennen gab, daß sie mir nicht gefielen – verging der Winter.

Der Graf von Genlis und nachherige Marquis von Sillery Gatte der Gräfin von Genlis. war eben kein liebenswürdiger Mann. Er galt in der Hofwelt für unterrichtet, so wie er nachher in der Revolution für einen Staatsmann gegolten hat. In beiden Urteilen hat man sich, wie das so oft der Fall ist, geirrt. Ebenso ungereimt war aber auch die Behauptung, daß es ihm an Mut fehle. Seine Wunden haben das Gegenteil bewiesen; er hat in Ostindien glänzende Beweise der Tapferkeit abgelegt, und sich in Ouessant sehr zu seinem Vorteil gezeigt, so sehr man sich auch bemüht hat, bei Gelegenheit dieser Seeschlacht ihm sowohl als dem Herzoge von Orleans, dessen Gardekapitän er war, Feigheit anzudichten.

Sein Bruder, der Marquis von Genlis, war in meinen Augen nicht nur weit liebenswürdiger, sondern auch weit unterrichteter. Seine Liebenswürdigkeit ist wohl von niemandem in Zweifel gezogen worden. Was seine geistige Bildung betrifft, so besaß er allerdings die erste aller Wissenschaften, die nützlichste und anwendbarste von allen: das große und seltene Geheimnis, zu gefallen. Ein zweites Kunst- und Meisterstück, welches man an ihm bewundern mußte, bestand darin, daß er mitten in der Revolution den gebildetsten Ton beibehalten hat, einen Ton, der des allerfeinsten Hofes würdig war; daß er, mitten unter gemeinen Weibern lebend, die Sprache der ausgezeichnetsten Frauen nicht verlernt hat, daß er, mitten unter den gröbsten Unordnungen, beständig ein Muster des feinen und guten Geschmacks geblieben und zu einer Zeit nicht rostig geworden ist, wo jeder andere, der es in der einschmeichelnden Urbanität, in der attischen Grazie, in der natürlichen Eleganz des Umgangs nicht so weit gebracht hatte, unfehlbar Schiffbruch gelitten haben würde. Er sprach ohne alle Anmaßung, es war aber immer ein glückliches Ereignis, wenn man ihn reden hörte; bisweilen zeigte er aber auch eine Unwissenheit, worüber er selbst gelacht haben würde, wenn man sie ihm bemerkbar gemacht hätte. Ich kann den Eindruck, den er auf mich gemacht und in mir hinterlassen hat, nicht besser beschreiben, als wenn ich von ihm sage: er glich jemandem, der viel weiß, dem man es aber ansieht und anhört, daß er nichts gelernt hat.

Die beiden Brüder achteten einander sehr, wurden aber von wenigen geachtet. Dagegen gab es wohl keinen, der sich dem verführerischen Wesen des Marquis hätte entziehen können, der ihn nicht hätte lieben müssen, so unwiderstehlich war er. Auf der Rednerbühne des Lasters würde er dem größten Kanzelredner die Spitze geboten, das Laster liebenswürdig, die Tugend hassenswert gemacht haben. Man hat von ihm eine Menge Bonmots, die ich zum Teil anführen könnte, zum Teil aber auch nicht, obschon sie in gewissem Sinne und für gewisse Ohren der Anführung vollkommen wert wären. Seine Philosophie war die der Alltäglichkeit, des Augenblicks. Sie hat ihm in der Revolution gute Dienste geleistet; er hat noch im fünfzigsten Jahre die Schönen nichts weniger als grausam gefunden, hat es aber auch nie übel genommen, wenn seine Gattin nicht die Grausame spielte.

Seit dem Kanzler von Sillery, der zu seiner Zeit sicher kein Dummkopf war, hat diese Familie stets Männer von Geist hervorgebracht.

Aber auch eine Frau hat derselben in dieser Hinsicht keinen geringen Glanz gegeben. Frau von Genlis, so berühmt durch ihre Erziehungsgaben, durch ihre Schriften, durch ihre Liebhaber (wohlverstanden, durch die Liebhaber eines Teils dieser Schriften) hat gleichwohl weniger Erzeugnisse ihrer Feder aufzuweisen, als ihr Gatte (Genlis-Sillery) in den ersten Jahren der Revolution zutage gefördert. Ich speiste oft bei ihm, als die konstituierende Nationalversammlung ihren Sitz noch in Versailles hatte. Er ermahnte mich immer, alles ziehen zu lassen und zu bleiben, De survivre à tout le monde. er las mir Aufsätze vor (denn er besaß die traurige Leichtigkeit, über alles Aufsätze zu machen). Ich weiß kein Wort von ihrem Inhalt; so viel weiß ich nur, sie wiegten mich in einen sanften Schlummer, Und ich muß ihm noch in diesem Augenblick für die Höflichkeit danken ... artiger konnte sich in der Tat kein Wirt gegen seinen Gast benehmen. Es würde ihm vielleicht diese Liebe durch eine ähnliche erwidert werden, wenn er meine Memoiren lesen könnte; aber er schläft einen festen, eisernen Er ist 1793 guillotiniert worden. Uebers Schlaf, aus welchem ihn alle Albernheiten und Torheiten der Welt nicht wecken könnten.

Er war einer von den Ratgebern des unglücklichen Fürsten, der in meinen Augen mehr den Namen eines verworfenen Menschen als eines abscheulichen Ungeheuers verdient, obschon man es der Nachwelt nicht ganz wird verdenken können, wenn sie an ihm irre werden sollte; er selbst hat sie dazu berechtigt. Uebrigens hat der Marquis von Sillery seinem Gönner wenig geschadet. Sein Gönner schenkte ihm von Anfang an wenig Vertrauen, und bediente sich seiner gegen das Ende als eines alten, schlechten Instruments, auf welchem man nur noch aus Gewohnheit fortklimpert. Herr von Sillery> starb auf dem Blutgerüste, nachdem er sich tief gegen das Pariser Volk verneigt hatte (was ich bei einem Hofmanne sehr natürlich finde) und seinem Beichtvater die Hand gereicht (was mir von einem Freigeiste nicht so gut gefallen will).

Ich sagte weiter oben, daß ich in des Grafen von Genlis Hause mein Geld verlor; ich hatte es so ganz verloren, daß mir gegen das Ende des Winters nichts übrig blieb, und ich an meinem Spieltisch ebenso schlechte Geschäfte machte, als Herr Necker, welcher eben seine Stelle als General-Kontrolleur der Finanzen angetreten hatte, der Monarchie vorbereitete.

Eines Abends hatte ich mich selbst, meine Zeitleere und dreißig Louis zum Präsidenten von Champ... gebracht, dessen Haus ich früher erwähnt habe. Es blieben mir nur noch fünf, als die Marquise de Soudeille, Nichte des Präsidenten, mir zur Tafel die Hand bot. Ich führte sie mit dem edlen Gleichmut des Spielers, den die Gegenwart zu Boden drückt, der aber aus Gewohnheit gegen eine Schöne aus der vergangenen Zeit artig ist; denn sie schien mir in der Tat schon zur Vergangenheit zu gehören und mit ihren Jugendreizen etwas sehr geeilt zu haben. Einem gewissen Herrn von Poinçot, der sich in Versailles beim Spieltisch der Königin als Croupier eingeschoben hatte, Fourré. war meine bedrängte Lage nicht entgangen; meine Jugend und das Unglück im Spiel, das mich verfolgte, hatten seine Teilnahme erregt. „Gehen Sie zur Tafel,“ sagte er, „geben Sie mir Ihre fünf Louis.“ – Ich besann mich keinen Augenblick; ja, ich wußte nicht einmal recht – so sehr war ich gewohnt, zu verlieren – ob ich sie nicht schon verloren hätte, und sie ihm noch geben könnte. Er nahm sie. Ich setzte mich zur Tafel, er an den Spieltisch. Nach einer Stunde kam ich wieder, sah ihn, und vor ihm einen großen Haufen Goldes, worauf ich nicht den geringsten Anspruch machen zu können glaubte. Ich dachte so: „Er hat deine armseligen Louis bald zum Opfer gebracht, und dann das Spiel auf eigene Kosten fortgesetzt und das viele Geld gewonnen.“ Er indessen spielte immerfort, pointierte mit unglaublicher Kaltblütigkeit, ohne mir ein Wort zu sagen, ohne mich anzusehen. Erst nach einiger Zeit kehrte er sich zu mir, und fragte: „Sind Sie nicht der Meinung, daß es töricht von Ihnen gehandelt sein würde, die in den letzten Zügen liegende Bank vollends sprengen zu wollen? Ich gebe Ihnen den Rat, sich zurückzuziehen.“ – „Mein Herr?“ – „Sie gewinnen viel.“ – „Ist denn das Geld ...“ – „Es ist Ihr Geld; ich habe den ganzen Abend nicht für meine Rechnung gespielt.“ – „Sie scherzen!“ – „Nun, so wäre es wenigstens kein Scherz, den Sie übel deuten könnten. ... Seien Sie aber ganz ruhig; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, das Geld hier gehört Ihnen.“

Ich schüttete es in meinen Hut; es waren über zwölfhundert Louis. War das nicht ein edler Zug eines edlen Mannes? War es nicht eine allerliebste Art, aus wenigem viel zu machen?

Der Name des Herrn Necker und dessen Eintritt ins Ministerium ist mir in die Feder gekommen; ich setze sie also wieder an, um weitläufiger über ihn zu schreiben.

Herr Necker hatte klein angefangen. Er war erst Buchhalter, dann Handelsgenosse des Herrn Taboureau, welchem er bald das Geschäft verleidete und Lust machte, es zu verlassen. Ehrgeizige wissen nicht allein, wie man zu Stellen gelangt, sie verstehen sich auch darauf, wie man andere daraus vertreibt. Alle Welt kennt sein Debüt, das Glück, das er gemacht, und den Weg, den er uns hat machen lassen. Es ist aber wohl nicht zur Unzeit, wenn hier bemerkt wird, daß es vielleicht der erste Fall in seiner Art ist, wo ein großes Schriftstellertalent, verbunden mit einem großen Rechnertalent, einen Mann zu den höchsten Ehren und ins Ministerium gebracht hat. Necker vereinigte das Talent eines scheinbar vollkommenen Finanziers und eines beredten und ernsten Schriftstellers. Seine Feder schien ganz der Tugend gewidmet; er schien die Farben, mit welchen sein Pinsel sie schilderte, aus dem Herzen zu nehmen, und seine Gemälde würden noch glänzender ausgefallen sein, hätte ein gewisser Stolz, der fast immer durchscheint, ihnen nicht einen Teil ihrer Frische benommen.

Schon fing die Nation an, in Bewegung zu kommen, als er alle Keime von Uneinigkeit, alle Urstoffe des Faktionsgeistes, allen Sauerteig des Zwiespaltes in den Ministerrat brachte – lauter Bestandteile, die unter seinen Händen zur Gärung kommen sollten, lauter Erzeugnisse seiner Rechtlichkeit und seiner Ansprüche, seiner Verwaltungstalente und Verwaltungsfehler, der geraden Absichten seines Herzens und der Pläne seiner Eitelkeit!

Frankreich war seines Glücks müde, weil es ein langweiliges, ruhiges Glück war, ohne Glanz, folglich auch keinen Wert in den Augen der Franzosen hatte. Alle Köpfe waren mit der Gegenwart unzufrieden, stürmten auf die Zukunft ein und nahmen die Ruhe für Sklaverei. Die Gemüter, denen es zu sehr an Beschäftigung fehlte, brachten ihre Muße mit Untersuchungen, mit Erörterungen zu; man sprach über alles, entschied über alles. Wir waren nicht unglücklich; aber wir fühlten, daß wir nicht mehr glänzten, und die Nation wollte ihre alte Stelle wieder einnehmen. – Unglaublich und doch wahr! Unter einer Regierung der Sanftmut und des Friedens gebärdete sich alles und nahm eine feindliche Stellung an, als sei schon zwischen Knechtschaft und Tyrannei die offene Fehde ausgebrochen.

Die Hand, die man gewählt hatte, einen der Staatszügel zu halten, war nicht imstande, den Lauf des bergabrollenden Wagens zu hemmen. Es war nicht schwer, vorauszusehen, daß ein Mann, gewöhnt an die kleinlichen Forschungen einer enggeistigen Philosophie, ein Mann, der durch die niederen Gassen der Subalternstände gewandert war, ein Rechenkopf, ein schöner Geist, nicht viel Gutes oder Böses, und allenfalls nur das letztere, stiften würde. Es war klar, daß ein Republikaner kein warmer und gewandter Freund der Monarchie sein konnte, daß ein Protestant wenig Eifer für ein katholisches Land, ein Bürger von Genf keine blinde Vorliebe für den Adel zeigen, – daß mit einem Worte ein Mann wie Necker, welcher der Königin und dem Hofe (mit Ausnahme seiner Partei) verhaßt war, suchen würde, sich zu einer Art von König zu machen, und wenn man ihn vom Konseil ausschlösse, für sich allein ein Konseil bilden würde.

Uns allen sind die letzten Blätter seiner Geschichte bekannt, wir alle haben gesehen, wie das Reich unter seinen Versuchen zugrunde gegangen, wie der Staat unter seinen Neuerungen und Heilmitteln Todes verblichen ist.

Das ist das Tagewerk, das er vollendet, die Aufgabe, die er gelöst, das Schicksal, das er gehabt, kurz alles, was er gemacht hat. – Doch nein, noch etwas: die Frau von Staël ist sein Werk.

Ich weiß, daß er sich das Unglück, woran er schuld war, zu Herzen genommen; ich weiß aber auch, daß seine Reue nicht schuld an seinem Tode gewesen ist und diesen nicht schneller herbeigeführt hat. Er hat das Geschehene tief und aufrichtig bereut, und die selbstgemachten Vorwürfe haben ihn in das Grabmal begleitet, das er für sich und für die Gefährtin seines unbezwinglichen Stolzes errichtet hat. Ein Beweis, daß, wenn es ihm gelingen sollte, in jener Welt Minister zu werden, er sich weiser benehmen und vor allen Dingen unverheiratet bleiben würde, nur würde er dadurch nicht wieder gut machen, was er in dieser verbrochen hat.

Dieses Jahr zeichnete sich für mich durch ein seltsames Abenteuer aus, das ich mit meinem damaligen Obersten, dem Prinzen von Poix, hatte. Meine Beziehungen zu ihm waren ganz besonderer Art. Er schwankte beständig zwischen Zuneigung und Kälte; dem Meere gleich, hatte seine Freundschaft Ebbe und Flut; doch ist mir bei allem Wechsel zwischen uns das süße Gefühl, der Beweis und die Gewißheit verblieben, daß in der letzten Zeit die Freundschaft das Ufer behauptet hat.

Aber dieser Freund ist lange für mich das gewesen, was sich nur von einem gefährlichen Feinde erwarten läßt, so daß, wenn es im Evangelium heißt: „Vergib deinen Schuldnern, liebe deine Feinde!“, ich um so mehr die Verbindlichkeit fühle, dem zu verzeihen, der sich durch Leichtsinn und Lebhaftigkeit des Kopfes Fehler hat zuschulden kommen lassen, die nicht aus seinem vortrefflichen Herzen flossen, so daß ich einer mehr als zwanzigjährigen zärtlichen und engen Verbindung mit Freuden das Andenken an einige unbedachtsame Handlungen zum Opfer bringe, selbst wenn sie auch manche für mich unangenehme Folgen gehabt haben. Er hat sich entschuldigt, er hat sie bereut; heißt das nicht, sie tilgen?

Nach dieser kurzen Einleitung knüpfe ich den Faden meiner Erzählung wieder an.

Ich war auf dem Opernball; ich gab einer hübschen Maske, mit der ich zu Abend gespeist hatte, den Arm ... Ich sollte sie erst spät, nach dem Balle, verlassen: so war die Abrede, so lautete das Versprechen. Aber das Versprechen blieb unerfüllt, denn nichts verscheucht Amor und die Grazien so sehr, als der zürnende Mars. Der Prinz von Poix bemerkt mich, kommt auf mich zu, redet mich mit dem lärmenden Ausdruck übler Laune an, wirft mir mit lauter, gellender Stimme vor, daß ich nicht beim Regiment bin, daß ich Schulden gemacht habe (was die Königin durchaus nicht dulden wolle), ruft aus: es schicke sich besser für mich, Remontepferde zum Regiment zu bringen, als in gesticktem Kleide auf dem Opernball zu erscheinen usw. usw. Das alles war das Werk von einigen Minuten, aber mir war nicht anders zumute, als sollte das Haus über mir einstürzen. Der geneigte Leser, ja selbst der allergeduldigste und nachgiebigste, wird zugeben, daß ich einen Ausfall dieser Art zum mindesten für sehr unschicklich halten mußte, was die Zeit und den Ort betrifft. Auch erwiderte ich ihn mit aller Unlenksamkeit Indoclité eines Marschalls von Frankreich, der mehr als einen Sieg davontrug. Der Prinz von Poix, vor dem sich damals viele Kniee beugten, die ihm in der Folge Widerstand geleistet, geriet in den heftigsten Zorn, rief den diensttuenden Sergeanten der Gardes françaises Mazoger herbei, einen alten Ludwigsritter und grundehrlichen Mann, den wir alle liebten und schätzten. „Sie kennen mich,“ spricht er, „ich bin der Prinz von Poix, Gouverneur von Versailles und Kapitän der Garden. Hier steht der Graf von Tilly, Offizier in meinem Regiment, von dem ich zu verlangen berechtigt bin, daß er zur Garnison abgehe, und von dem seine Verwandten dasselbe verlangen; bringen Sie ihn auf der Stelle in Arrest!“ – Ich war außer mir. Jeden Schritt, den dieser Befehl zur Folge gehabt hätte, würde ich auf eine Art erwidert haben, welche ... doch mir wurde meine Widersetzlichkeit glücklicherweise erspart. „ Monseigneur,“ versetzte Herr Mazoger, „ich habe vollkommen die Ehre, Sie zu kennen, aber ich werde mir erlauben, bei dieser Gelegenheit Ihrem Befehle nicht nachzukommen. Bei allem Respekt, den ich Ihnen schuldig bin, vergönnen Sie mir, zu erinnern, daß ich hier von niemandem als von meinem unmittelbaren Vorgesetzten Chef naturel., dem Herrn Marschall von Biron, Befehle anzunehmen habe.“ – Ich wartete das Ende der Unterhaltung nicht ab, lachte ins Fäustchen, stahl mich durch die Menge, um den Streit nicht zu verlängern, und suchte meine hübsche Begleiterin wieder auf, konnte sie aber nicht finden; das Geschrei des Stoßvogels hatte das zarte Täubchen so sehr verschüchtert, daß es mir unmöglich ward, sie wieder an meine Leimstangen zu locken.

Dies machte mich vollends rasend. Ich bat Monville Dieser Monville, der schon bereits erwähnt wurde, war einer der ersten Liebhaber der Frau von Genlis, wie wir in ihren Memoiren lesen. Uebers. um Erlaubnis, die Nacht bei ihm zuzubringen. Er selbst traf ein paar Stunden später ein, und suchte mich zu besänftigen, doch vergebens. Gegen fünf Uhr ließ ich einen Wagen kommen und eilte nach der Straße von Varennes zu einem Freunde, der mich ins Hotel von Noailles begleiten sollte; aber seine Gattin lag in Kindesnöten, so daß er mir den Dienst versagen mußte; er schlug mir einen andern Offizier des Korps vor, der sich ebenfalls in Paris befand, einen gewissen Baron von Froman, einen guten Spieler und schlechten Bonmotisten, der sich auch sogleich bereitfinden ließ, mit mir zu gehen. Ich habe seitdem erfahren, daß die Herzogin von Duras von dem Lärme erwachte, den wir machten, als wir zu einer so sehr ungehörigen Stunde vorfuhren und mit aller Gewalt an das Haupttor klopften, daß sie aufstand, sich ans Fenster stellte und es sie nicht wenig wundernahm, zwei Männer in der Frühe über den Hof gehen zu sehen, daß ihr besonders der eine auffiel, der in vollem Staat, En habit habillé. mit dem Federhut auf dem Kopfe, mit dem Degen unter dem Arm lebhaft vorschritt, und daß sie nicht anders glaubte, als wir seien ein paar Paladine, welche eine Schöne zurückholten, die ihr Bruder entführt habe.

Als wir endlich zum Prinzen von Poix gelangten, der sich soeben zu Bett gelegt hatte, fanden wir von seiten seiner Leute den größten Widerstand. Niemand wollte es auf sich nehmen, ihn, den der Ball ermüdet haben mußte, zu wecken. Wir gaben ihnen aber zu bedenken, er könne noch nicht eingeschlafen sein, und sie wagten es endlich, uns in sein Schlafzimmer einzuführen.

Ich fing damit an, ihm meine Demission einzureichen, und fuhr dann ohne Umschweife fort, ihm zu erklären: daß ich auf die Genugtuung dränge, die ich von ihm zu erwarten berechtigt sei.

Der Mut des Prinzen von Poix ist nie und von niemandem in Zweifel gezogen worden. Während der Sitzungen der konstituierenden Versammlung hat er es bewiesen, In einem Duell mit dem Grafen von Lambertye, der eine schwere Wunde davontrug. daß es ihm so wenig als seinem Vater und seinem Bruder daran fehle, und daß er beiden, welche so glänzende Proben von Bravour abgelegt, nicht nachstehe. Hier aber kam es nicht so sehr darauf an, sich tapfer und unerschrocken zu zeigen, als ein junges Gehirn zurechtzusetzen und das Aufbrausen eines Etourdi zu dämpfen. Er hörte mich an, lachte, nötigte mich mit zuvorkommender Güte, mich zu setzen, gab Herrn Froman ziemlich lebhaft sein Mißfallen zu erkennen und verlangte von ihm, uns sogleich zu verlassen. Als wir allein waren, sprach er wie ein Vater mit mir, gab seine Gründe an, brachte mich halb aus Höflichkeit zum Geständnis, daß er nicht unrecht gehabt, er sprach von dem Anteil, den er an mir nehme, umarmte, entließ und bat mich, ihn ruhig ausschlafen zu lassen. Ich schied von ihm, fest versichert, daß er recht gehabt; aber Freunde, Frauen und eigenes späteres Nachdenken stießen meine Ueberzeugung über den Haufen, Me dépersuadèrent; ein neugeprägtes Wort. und brachten mich zu dem Entschluß, nicht wieder zum Regiment zu gehen. Ich teilte ihm als Chef den Vorsatz mit, ging einige Tage darauf nach Versailles, hatte die Ehre, der Königin meine Aufwartung zu machen, und nahm mir die Freiheit, sie inständigst zu ersuchen, mir ein Patent eines agreierten Kapitäns bei den Garde-Dragonern ausfertigen zu lassen. Ich war schon im Begriff, mich auf eine kurze Auseinandersetzung meiner Klagen über den Prinzen von Poix einzulassen, als mich die Königin unterbrach. Sie sei zwar, sagte sie, noch diesesmal geneigt, meine Bitte zu bewilligen, sei aber weit besser von der Affäre unterrichtet, als ich es mir einbilde; meine Aufführung sei schlecht, der Prinz von Poix habe sehr nachteilig von mir gesprochen; sie rate mir, einen bessern Weg einzuschlagen, wenn ich nicht tief in ihrer Meinung sinken wolle. – Gleichwohl hatte sie die Gnade, als sie bemerkte, daß ich etwas zu meiner Verteidigung vorbringen wollte, es mir zu erlauben, und schien, als sie mich entließ, mit meiner Rechtfertigung ziemlich zufrieden zu sein. Der Prinz g>von Poix hat später gefühlt, daß er sich vergessen, daß er zu weit gegangen, daß er ungerecht gegen mich gewesen ist. Mehr als einmal hat er es mir gestanden, und es bereut. Und jetzt, da jene Verhältnisse und Interessen verschwunden sind; jetzt, da ein Wetterstrahl den Palast zerschmettert und der Sturm die Macht umgestürzt hat; jetzt, da ich diese Geschichte niederschreibe, als wenn diese Tatsachen zehn Jahrhunderte alt wären; – jetzt erwähne ich dieses Unrecht, diese Ungerechtigkeit, um sie zu vergessen; ich erwähne die Freundschaft des Prinzen, um ihm dafür zu danken, und sein Reuegefühl zu seiner und meiner Ehre.

Ich schließe dieses Kapitel mit einer abscheulichen Tat, die mir zwar persönlich fremd ist, gleichwohl in die Zeit fällt, von der ich rede, und der Geschichte aller Menschen, aller Länder und Zeiten angehört; – einer Tat, die zur Schande der Menschheit aufbewahrt werden muß, und zum Beweise dient, welch eine entsetzliche Herrschaft die Leidenschaften ausüben können; – einer Tat, gegen welche unsere kleinen Tugenden so viel als nichts sind; – einer Tat, welche uns gegen die Laster, die Verbrechen, die Neigungen unserer Natur mit Abscheu erfüllt, weil diese Natur oft verworfener und barbarischer ist, als der blinde Instinkt der Tiger und Löwen in der Wüste.

Es hielt sich damals in Paris ein irländischer Pair auf, ein wütender Bewunderer Shakespeares, Lord Mountnorris. Er hat sich späterhin dramatisch und bühnenmäßig erschossen, weil ihn eine englische Zeitung einen Fortunehunter Glücksjäger, Eheschleicher, Freier nach Reichtum usw.; bei den Engländern etwas sehr Gewöhnliches. Uebers. genannt hatte. Das hieß, sich auf die Lieblingsweise seines Lieblingsdichters aus der Welt schaffen, wohlfeilen Kaufs zur Ehre gelangen, ein guter Tragikomiker sein, seinen fünften Lebensakt mit einem Knalleffekt beschließen, und, eines Spottnamens wegen, sich auf eine zugleich schauderhafte und lächerliche Weise in die Ewigkeit befördern. Es war übrigens sehr natürlich, da er selbst nicht reich war, daß er, mit Hilfe seines Pairstitels, womit er sich brüstete, weil ihm anderes Verdienst abging, nach einer reichen Erbin seine Angel ausgeworfen hatte. Er hielt sich übrigens für einen großen Redner, und ermüdete in dieser eingebildeten Eigenschaft die Geduld des Parlaments von Irland, das anfangs bei seinen Vorträgen laut gähnte, und zuletzt gar nicht zuhörte, wenn er sprach.

Einst geschah es, als er einen langen Speech über die innere Lage des Reiches hielt, die seinen hochgeehrten Herren Kollegen ebenso bekannt und wohl noch bekannter war, als ihm, daß ein Mitglied nach dem andern das Haus verließ. Er hatte die Gewohnheit, Wie Lord North, und vielleicht aus Nachahmungssucht. Uebers. mit geschlossenen Augen zu reden. Seine in Fluß geratene Beredsamkeit riß ihn fort; er vergaß sich selbst und bemerkte nichts von dem, was um ihn vorging. Er sprach also, sprach, sprach ohne Unterbrechung und mit selbstgefälliger Behaglichkeit. Zwei Stunden waren verflossen, als er am Schluß, seine Gründe summarisch wiederholend, dem Hause für die schmeichelhafte Aufmerksamkeit dankte, mit welcher es seinen Vortrag angehört habe; – „eine Aufmerksamkeit,“ setzte er hinzu, „deren er sich nicht jederzeit zu erfreuen gehabt habe, und deren er oft, zum größten Nachteil des Staates, habe entbehren müssen, wenn er in den Debatten über Gegenstände von höchstem Interesse seinem patriotischen Eifer für das Wohl des Vaterlandes freien Lauf gelassen hätte. ...“

Mit diesen Worten beendigt er seine Rede, schließt den Mund, öffnet die Augen, setzt sich nieder, schaut um sich, und statt aller Zuhörer sieht er nur den Parlamentsdiener, der den Saal ausfegt.

Er war dabei ein breiter langweiliger Erzähler; doch obige Geschichte hat er nie erzählt. – Ich will’s nicht machen wie er, und eile zu der meinigen zurück, von welcher mich diese Episode und Lord Mountnorris abgeführt haben.

Ich schickte mich zu meiner ersten Reise nach England an. Ich sah vorher noch so viele Engländer, als möglich. Damals lebte ich in dem Wahne, daß sie uns die Zeit über lieb hätten, wo sie sich nicht mit uns schlügen. Ich wollte meinen Eltern und Lehrern übel, weil sie mir den Rat gegeben hatten, sie zu hassen. Meiner Verblendung zufolge, suchte ich auch bei Lord Mountnorris mir Eingang zu verschaffen. Der wohlberedte irländische Pair empfing mich mit Höflichkeit; aber kaum hatte ich einen Fuß über die Schwelle gesetzt, als er schon mit seinem Shakespeare mir entgegenkam, eine lange Vergleichung zwischen ihm und Corneille anstellte, und sich in einen ungeheuern dramatischen Streit mit mir einließ, der dem armen Corneille kein Blatt von seinem Lorbeerkranze ließ. Nach diesem Siege mußte ich in einer vornehmen Restauration, die neuerdings in der Straße du Mail eröffnet war, sein Gast sein. Hier versammelten sich gewöhnlich die Ausländer, und vor allem die Insulaner der drei Reiche.

Ich nehme die Einladung an. Wir machen uns auf den Weg. Kaum sind wir eingetreten, als sich ein allgemeiner Lärm gegen einen gewissen Herrn von C... erhebt, der als Stabsoffizier bei der Irländischen Legion stand, weil er einen Gast mitgebracht hatte, der allen, die ihn kannten, ein Abscheu war, und auf mich, der ihn nicht kannte, als ich seine Geschichte erfuhr, einen so widerwärtigen Eindruck machte, daß ich einen unwillkürlichen Aufschrei nicht unterdrücken konnte, der die allgemeine Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zog.

Dieser Gast, dieses Ungeheuer in Menschen- und zwar in sehr schöner Menschengestalt, hatte sich im vierzigsten Jahre mit einer jungen achtzehnjährigen liebenswürdigen Person vermählt. Er hatte, aus erster Ehe, einen Sohn, welcher zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, der aber, zu seinem Unglück, für seine Stiefmutter in einer Leidenschaft entbrannte, welche nicht unerwidert blieb. Es ist nicht das erstemal, daß ein Sohn auf diese Weise seinem Vater von einem Geschlechte vorgezogen worden ist, in dessen Augen Jugend für die erste und reizendste der Grazien gilt, obschon einige sentimentale Frauen es nicht zugeben wollen, ohne allerdings Glauben zu finden. Freilich ginge alles besser, wenn man ihnen Gehör geben und nur dasjenige lieben wollte, was man lieben soll. Aber wer von uns lebt ganz seiner Pflicht? Für wen hat sie größeren Reiz als das, was ihr entgegensteht? als das, was uns verboten ist?

... pauci quos aequus amavit Jupiter. Virgil. Aeneid. VI. 129.

Doch lassen wir die Moral hier beiseite und fahren in unserer Erzählung fort. Der junge Mann und seine junge Stiefmutter gaben sich alle erdenkliche Mühe, das gefährliche Gefühl, das sich ihrer bemeistert hatte, zu unterdrücken; der Sohn ging so weit, daß er bei seinem Vater um Erlaubnis anhielt, auf Reisen zu gehen; sie ward ihm verweigert. Was nun geschehen mußte, geschah. Beide Liebende unterlagen, wurden glücklich und strafbar. Dem Vater entging der verbotene Umgang nicht, denn was entgeht der Eifersucht, sie, die das sieht, was nicht ist? – Er verbarg Wut und Rache bis zum günstigen Augenblicke des Ausbruchs. Der junge Mann, der eine Ahnung des ihm bevorstehenden Schicksals hatte, war nach einer benachbarten Stadt gereist. Aber er schrieb von da aus an seine Mutter. Der beleidigte Vater fing einen Brief auf, der die Untreue seiner Gattin an den Tag legte, und bestimmte, unter dem Schein einer edlen Verzeihung, den Sohn zur Rückkehr zu bewegen. Er selbst schützte eine Abwesenheit vor, nahm Abschied, blieb aber verborgen. Der junge Liebhaber ging in die Falle, die sein Herz seiner Vernunft gestellt hatte. Er eilte auf den Flügeln der Liebe herbei und dem Tode entgegen. Denn plötzlich dringt der barbarische Urheber seines Lebens in das Zimmer, das die Entzückungen der Liebenden verbergen sollte, wirft ihnen ihr Verbrechen, ihren Treubruch vor, und jagt vor den Augen des ihm zu Füßen gestürzten, flehenden Weibes seinem Sohne eine Kugel durch den Kopf, ergreift dann seine schwangere Gattin bei den Haaren, schleift sie auf dem Boden hin und her, tritt sie mit Füßen, und läßt nicht eher ab, bis er seine Kannibalenwut an ihr und an der zweimonatlichen Leibesfrucht glaubt befriedigt zu haben. Drei Leben konnten sie kaum sättigen. Das Ungeheuer entsprang, drei Leichen hinter sich zurücklassend, floh von einem Ende Europas zum andern, der gerechten Strafe, den Landesgesetzen und den tief verletzten Gesetzen der Menschheit zu entgehen, floh, – konnte aber seinem Gewissen nicht entfliehen ... fand sich überall wieder. Seine totenbleiche Stirn trug das Brandmal der Verworfenheit, das Gott dem Erstgeborenen des Menschengeschlechts, dem ersten Brudermörder, eingebrannt hatte, damit sich seine Augen fernerhin nicht erfrechen dürften, gen Himmel zu schauen. In seinem Herzen tobten die Qualen, die Beängstigungen des Fluches, welchen Kain den ganz Verstoßenen unter seinen enterbten Nachkommen hinterlassen hat.

Mir fehlen die Worte, die Schriftzüge, die Pinsel, den Abscheu zu schildern, den dieser Tiger, der sich menschlich trug, kleidete, nährte, in mir hervorbrachte.

Oh, was für eine ungerechte Leidenschaft ist die Liebe! Einen Augenblick erweicht sie das Herz, und versteinert es oft für das ganze Leben. Sie beschränkt die Seele auf einen Gegenstand und sondert sie von allen übrigen ab. Oh, was für eine abgeschmackte Leidenschaft ist die Liebe! Sie tötet alle anderen Zuneigungen, und wenn sie den höchsten Punkt erreicht hat, reißt sie sich von allen anderen Herzensgefühlen los. Sie erzeugt eine Tochter, noch zügelloser als sie, die Eifersucht!! Die Eifersucht, diese Furie, lüstern, ihren eigenen Busen zu zerreißen, ungeduldig und unfähig des Glücks und der Ruhe, Vorwände und Scheinbilder zu eigenen Qualen aufsuchend, von Verdacht und Argwohn lebend, von Besorgnissen sich nährend, sich in Nachforschungen verzehrend, um zu erfahren, was sie vor Verlangen brennt, nicht zu wissen, und zu wissen verlangend, was ihr größtes Interesse wäre, nicht zu ergründen. Teuflische Furie! Erstgeborene Tochter der Hölle! Du erzeugst im Herzen eines Mannes den abscheulichen Mut, ein Opfer zu schlachten, dessen Blut den Durst deiner Grausamkeit stillen, dessen Leichnam den rasenden Hunger deines Egoismus sättigen soll, und – seinen Sohn zu diesem Opfer zu machen! Wem hast du nicht Willen und Kraft mitgeteilt, das Wesen, das er früher liebte und anbetete, zu betrüben, tödlich zu verletzen?

Meine Augen haben den niederträchtigen Mörder nicht wieder erblickt; aber er hat mir lange vor Augen geschwebt. ... Ich sehe ihn noch! ... Er steht immer vor mir!!

Einige Tage darauf reiste ich nach England, mit meinen neunzehn Jahren und mit fünfhundert Louis in der Tasche.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band