Vorwort.

Vorwort.

Alexander Graf von Tilly, ein Angehöriger jener altberühmten normannischen Familie, deren Ahnherr Wilhelm den Eroberer nach England begleitete, wurde im Jahre 1764 geboren, kam als fünfzehnjähriger Page an den Hof der Königin Marie Antoinette, wurde dann Offizier bei den Dragonern von Noailles und emigrierte 1792. Er bereiste Deutschland, England und Amerika und erhielt 1807 die Erlaubnis, nach Frankreich zurückzukehren. Aber sein unruhiger Geist ließ ihn nicht festen Fuß fassen. Er trieb sich abenteuernd weiter umher und endete wahrscheinlich Ausgangs 1816 durch Selbstmord in Brüssel.


Er war im besten und schlechtesten Sinne ein Mann seiner Zeit: des zu Ende gehenden achtzehnten Jahrhunderts, jenes Jahrhunderts der Abenteurer, das Leute wie Casanova, Dubois, Alberoni, Ripperda, Cagliostro und Saint-Germain, Theodor von Neunoff und hundert andere verwandte Gestalten aus brodelnden Lebenstiefen auf schillernde Oberfläche spülen konnte; das zeitweilig einer rasenden Orgie glich, die in der Erscheinung des Marquis de Sade eine fürchterliche Verkörperung fand, das sich in tobenden Genüssen verzehrte und doch auch wieder ragende Geister und neben Marmorherzen Gemüter voll tiefster Innerlichkeit und zartestem Empfinden schaffen konnte.

Man hat Tilly den „neuen französischen Faublas“ genannt, in Anspielung auf den Helden des bekannten Romans von Louvet de Couvray. Und in der Tat könnte man Aehnlichkeiten zwischen ihm und dem scharmanten Chevalier entdecken: aber sie würden doch immer nur äußerlicher Natur sein. Die Abenteuer des Faublas bilden einen Roman, bei dem trotz aller dokumentarischen Unterlagen eine zügellose Phantasie die Feder geführt hat — Tilly gibt in seinen Memoiren ein Stück Leben, das in jeder Schilderung glühende Wahrheit atmet.

Unwillkürlich drängt noch ein anderer Vergleich sich auf: der mit Casanova, dem Edelmann eigenster Erhebung, dessen Denkwürdigkeiten in unseren Tagen ja wieder in Mode gekommen sind. Aber zweifellos übertreffen die Memoiren Tillys die des Italieners an intimem Reiz und psychologischer Feinheit, an stilistischer Abrundung und künstlerischer Grazie, vor allem an philosophischem Geiste. Seine Schilderungen des Höflings- und besonders des Liebeslebens eines Galanthomme des ancien régime sind, als Ganzes genommen, eines der glänzendsten Kulturgemälde der vorrevolutionären Zeit: ein Bild, das uns in wundervoller Plastik die geniale Liederlichkeit der damaligen Gesellschaft vor Augen führt, ihre verpuffenden Kontraste, ihr Hochfliegertum, ihr tumultuarisches Tohuwabohu, das schließlich notgedrungen zu gänzlicher Auflösung führen mußte.

Für den Bibliophilen haben diese Memoiren ihre besonderen Reize. Bringen sie doch u. a. die tatsächlichen Unterlagen für Choderlos de Laclos' berühmten Roman „Les Liaisons dangereuses“, eine treffende Charakteristik ihres Verfassers, Rivarols, Dorats, de la Harpes, Chamforts und auch Rétif de la Bretonnes, den Tilly in einer sehr amüsanten Unterhaltung näher kennen lernte. Dazu treten die außerordentlich lebendigen Schilderungen Ludwigs XVI., der Marie Antoinette, Josefs II., des Herzogs von Orleans und anderer historischer Persönlichkeiten, berühmter Abenteurer im Genre des Saint-Germain und Cagliostro, wie jenes geheimnisvollen Chevalier Saint-Ildefonso, der in London spiritistische Soireen veranstaltet, denen Tilly als scharfkritischer Beobachter beiwohnt. Ich zweifle nicht, daß die Denkwürdigkeiten Tillys aber auch dem Sexualpsychologen ein reiches und wertvolles Material bieten können, vor allem über das Weib des französischen Rokoko und dessen eigentümliche seelische Konstitution, über die Feinheiten und geistigen Raffinements der Ars amandi jener Zeit, in der die ganze Literatur unter dem Zeichen des Geschlechtlich-Sinnlichen stand.
Wir wissen, welche giftigen Blätter diese Literatur unter dem Wandel sozialer und geistiger Bildung in dem Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts getrieben hat. Um so eigentümlicher berührt der Zauber einer feinen Resignation, der über den Memoiren Tillys schwebt. Sie sind das Hohelied des epikuräischen Pessimismus.

Tilly schrieb sie während seines Aufenthaltes in Deutschland im Jahre 1807. Sie wurden aus dem Manuskript in das Deutsche übertragen und erschienen 1825 bis 1827 in drei Bänden bei Duncker & Humblot in Berlin unter dem Titel „Memoiren des Grafen Alexander von T***. Aus der französischen Handschrift übersetzt.“ Der ungenannte Uebersetzer war Friedrich Wilhelm Bruckbräu (1792—1874), ein bayrischer Oberzollbeamter, dem seine berufliche Tätigkeit noch Zeit genug gönnte, eine Anzahl von Gebetbüchern, byzantinischen Dichtungen und schlüpfrigen Romanen zu schreiben. Eine zweite auszugsweise und sehr freie Uebertragung der Tillyschen Memoiren ließ Bruckbräu schon 1829 unter dem Titel „Der Leibpage der Marie Antoinette. Ein Beitrag zur Chronique scandaleuse“ bei den Gebrüdern Franckh in Stuttgart erscheinen. Das vollständigere französische Original wurde erst nach der deutschen Uebersetzung verausgabt: „Mémoires du comte Alexandre de Tilly, pour servir à l'histoire des moeurs de la fin du XVIIIe siècle“, Paris 1828, 3 vols. Ein Bändchen „Oeuvres mêlées“ hatte Tilly schon 1785 (nicht 1795) in Paris publiziert; sie wurden 1803 auf seinen Wunsch durch Vermittlung des Berliner Buchhändlers Mettra neu aufgelegt und erlebten später sogar noch eine dritte Auflage (Leipzig 1813).

Der hier folgenden Neuausgabe der Memoiren Tillys, die seltsamerweise bisher wenig Beachtung gefunden haben und im Buchhandel fast verschollen sind, liegt die erste Bruckbräusche Uebersetzung zugrunde; doch wurde zum Vergleich auch das französische Original herangezogen, so daß mancherlei Abweichungen richtiggestellt und eine Anzahl Lücken ausgefüllt werden konnten.

Spiegelberg bei Topper, den 9. Oktober 1909.

Fedor von Zobeltitz.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band