Sechstes Kapitel. Nichtigkeit und Eitelkeit der Liebe. — Ueber die Verführungskunst. — Wie man den Frauen gefällt. — Ueber die Frauen, ihre Natur, ihre Neigungen, ihren Urcharakter, ihr Gemüt.

Ehrenvolle Ausnahmen. — Sie sind, bei allen ihren Fehlern, anbetungswürdig. — Eine sich auf sie beziehende Stelle des Dichters La Motte. — Garnisonleben. — Die Landstädte, bis auf wenige, gleichen einander. — In einigen herrscht Geschmack und der beste gesellschaftliche Ton. — Meine Vorliebe für Paris. — Ich verdanke der Hauptstadt meine Ausbildung. — Ich besitze Leichtigkeit und Gedächtnis. — Mein Streit mit Champcenetz. — Mein Urteil über ihn. — Anekdoten. — Sein Duell mit dem Vicomte de Roncheroles, einer Chanson wegen. — Der Chevalier de Boufflers. — Champcenetz und Florian. — Champcenetz besteigt das Blutgerüst — Seine Bonmots kurz vor seinem Tode. — Seine Unwissenheit. — Unsere literarische Verbindung. — Gespräch mit ihm, Rivaro1 und Chamfort. — Definition des Gedächtnisses. — Rivarol. — Seine Gedächtnisgabe. — Sein Tod in Berlin. — Unsere Trennung. — Seine Antworten. — Seine Beredsamkeit, sein Widerwille gegen Arbeit. — Gedanken über die Kürze des Lebens, die Macht der Gedanken, den Schwung der Phantasie im Menschen.

Il n’y a pas tant de vanité à tirer de l’amour d’une maitresse. La nature a si bien établi le commerce de l’amour, qu’elle n’a pas laissé beaucoup de choses à faire au mérite. Il n’y a point de coeur à qui elle n’ait destiné quelque autre coeur; elle n’a pas pris soin d’assortir toujours ensemble toutes les personnes dignes d’estime. Cela est fort mêlé, et l’expérience ne fait que trop voir, que le choix d’une femme aimable ne prouve rien ou presque rien en faveur de celui sur qui il tombe. Il me semble que ces raisons-là devraient faire des amans modestes et discrets.
La Bruyère.


In der Schrift ruft der betrogene Weise aus: „Ich sprach zum Lachen, du bist toll! und zur Freude, was hast du aus mir gemacht?“ Dasselbe können von der Liebe selbst diejenigen sagen, die von ihr am besten behandelt worden sind. Wieviel Falschheit in ihren Täuschungen! Wieviel Leere in dem, was sie verspricht! Wieviel Verrechnungen in dem, was sie hält! Wieviel Nichtigkeit in dem, was man ihre größten Gunstbezeugungen nennt!

Ich entsinne mich noch eines Lebensalters, das allen Lügen und Blendwerken offensteht, und wo ich Kind genug war, zu glauben, man sei ein Mann von Verdienst, wenn man den Frauen gefalle, und es sei von dem, der sie verehre, vorauszusetzen, daß er eine schöne Gestalt, Grazie, Gewandtheit, Verstand und tausend andere herrliche Eigenschaften besitzen müsse; ferner, man sei vollkommen berechtigt, ein eingebildeter, unverschämter Geck (impertinent et fat) zu sein, wenn man ein langes Namenverzeichnis von Frauen vorzeigen könne, die man betrogen habe – und von denen man zehnfach betrogen worden.

Etwas weiter in Jahren fortgerückt, begnügte ich mich mit dem Gedanken, daß, wenn auch nicht die Gesamtheit dieser Eigenschaften, doch ein Teil derselben erforderlich sei, um Eroberungen zu machen. ...

Aber auch hier sah ich ein, daß ich mich getäuscht hatte, und erhielt nun bald den mathematischen Beweis, es könne dem in jeder Hinsicht unbedeutendsten Manne gelingen, der größten Verführerin den Kopf zu verdrehen.

Jetzt aber – und hier spreche ich eine große Lästerung aus!!! – jetzt bin ich von der Meinung nicht sehr entfernt, daß für die Frauen die Mittelmäßigkeit der Männer überhaupt und in jeder Art ein Empfehlungsgrund ist!!! – Ich gebe es zu, diese Behauptung mag hart und anstößig erscheinen, gleichwohl würde es mir nicht schwer fallen, sie mit entscheidenden Gründen zu unterstützen. Doch die Verehrung, die ich gegen ein Geschlecht hege, dem wir das einzige Gut im Leben – den positiven Teil der Liebe – verdanken, legt mir Stillschweigen auf und untersagt mir eine so unzarte Erörterung. Und da überdies meine Memoiren zeigen werden, daß ich die bei weitem größere Hälfte meines Lebens dem Dienste der Schönen gewidmet, und daß dieser Teil meiner Laufbahn nicht ganz ohne Erfolg geblieben ist, so möchte sich leicht, ohne mein Vorwissen, etwas Egoismus und Eigenliebe hier einschleichen, und mir den Rat zuflüstern, die Sache lieber in ihrem Halbdunkel und die Zweifel darüber ungelöst zu lassen.

Was die Frauen im allgemeinen mehr als Verstand und Gestalt an die Männer fesselt, ist, was man bei diesen Eigenheit und Charakter nennt.

Pour une qu’Amour prend par l’âme,
Il en prend mille par les yeux.

sagt ein Dichter. Ich möchte hinzusetzen: So wie es ein allgemein bekanntes Verfahren gibt, die Frauen zu erobern, so gibt es ebenfalls eine besondere Taktik des Charakters, sich in ihrer Gunst zu erhalten. Sie widerstehen oft der edelsten Behandlung und lassen sich fast immer (schrecklich zu sagen!) durch den Zauber der unwürdigsten Begegnungen überwältigen. Ihre Schönheit ist eine kurze Tyrannei, die sie auf die unbarmherzigste Weise nur gegen den ausüben, der sich von ihnen unterdrücken läßt. Sie suchen in der Regel diejenigen auf, die ihnen mit Geringschätzung begegnen, und unterwerfen sich meistenteils dem, der ihnen nicht schmeichelt.

Der Spruch einer Dame vom höchsten Range in Europa ist bekannt. Ihr Liebhaber hatte sich eines Abends so weit vergessen, sie – zu schlagen. Am folgenden Morgen war das erste, was sie zu ihrer Vertrauten sprach: „Jetzt bin ich seiner Liebe gewiß.“

Ueberhaupt ist es Tatsache und ausgemachte Wahrheit, daß Männer, die am wenigsten taugen, die siegreichsten Verführer des schönen Geschlechts sind. Nichts beweist mehr, wie falsch die Beurteilungskraft der Frauen, wie reizbar ihre Phantasie, wie eitel ihr Herz und ihr Verstand ist, als die Beharrlichkeit, mit welcher sie die Gegenstände ihrer schlechtesten Wahlen ehren und hegen, und die Erfahrung, daß manche Frau darüber untröstlich geworden, weil sie ein Mann verließ, dem sie vielleicht in einem Anfall von Laune vierzehn Tage später den Abschied gegeben haben würde.

Man wende mir nicht ein, daß die gekränkte Eigenliebe der Frauen im Spiele ist. Freilich hat sie bei diesem erbärmlichen Kalkül eine der Hauptrollen, – nur ist es nicht die einzige. Die weibliche Phantasie überschätzt den Wert ihres Verlustes; es geht ihr ungefähr wie den schwachen Köpfen, die ein Schwindel ergreift, wenn sie von einer Anhöhe auf das Tal hinabschauen.

Aber auf einer anderen Seite, welch’ ein Triumph für die Frauen, wenn sie grausam genug sind, den Mann zu verlassen, der sich und alles ihnen aufgeopfert, der alle Hoffnungen seines Glücks auf sie gesetzt, und dem nichts übrig bleibt, als die Verzweiflung einer getäuschten Leidenschaft! Mit welcher Wollust weiden und ergötzen sie sich an seinem Schmerze! Mit welcher Fühllosigkeit, ich möchte sagen, mit welchem kalten und schnöden Ennüi sehen sie seine Tränen fließen, und treten seine Schwäche unter die Füße!

Dieses Gemälde ist gleichwohl kein Familiengemälde, obschon mehr als einmal gesagt worden ist, daß das ganze weibliche Geschlecht zu einer Familie gehöre. Es gibt Ausnahmen. Ja, es gibt unter den Frauen Beispiele von großen Seelen, von feinen, köstlichen Gefühlen, Muster von Edelmut, von unerschöpflicher Sanftmut und Güte, von Mut, kurz von allen Tugenden. Ich habe deren zwei gekannt, zu gut für die Welt, die sie besaß, und ihrer nicht wert war, besonders die eine!! .. Ach, sie hat sich viel zu früh meiner Anbetung (Idolâtrie) entzogen! Ich ward durch die Beschlüsse der ewigen Schicksalsmächte verdammt, sie immer zu beweinen, sie nie zu ersetzen. Ach, ich war des reinen Glücks mit ihr unwert!

O du, die nur noch in meinem Herzen lebt! Du, wie ich hoffe, einst der letzte Gedanke dieses durch den Schmerz über dein jammervolles, tragisches Ende hingewelkten Herzens! Du, angebeteter Schatten! Wenn du meine Tränen noch siehst, wie du einst meine Verzweiflung sahst, oh, so wirst du in einer besseren Welt vielleicht den Mut bereuen, mit welchem du dich in den Tod st?rztest, und meinem grenzenlosen Elende Seufzer des Mitleids schenken!! – –(Eine Geliebte des Verfassers suchte und fand, wie es heißt, ihren Tod in den Wellen. Uebers.)

So wäre ich denn nicht ohne Unterschied der Herabwürdiger und Verleumder von euch allen, reizende Geschöpfe, große und anbetungswürdige Kinder, von denen man sich aber nicht beherrschen lassen muß, solange noch ein Funken von Vernunft in unserm Herzen glimmt (wenn anders im ganzen Leben ein Schatten von Vernunft ist!). Ich behaupte nur, daß ihr die unterste Stelle in der Natur einnehmt, sobald ihr nicht die Zierde der Schöpfung seid, und daß diejenigen unter euch, denen es an einer gewissen Tugend fehlt, gewöhnlich keine andere besitzen.*) Appelliert von diesem Spruche so viel es euch beliebt, bezichtigt mich einer groben Freimütigkeit, wenn das euren Nerven wohltut; nur habt einige Achtung vor meinen Erfahrungen, denn ich habe, wie mir viele weise Männer meiner Bekanntschaft versichert, meine Zeit sehr schlecht angewandt, mein Leben sehr nutzlos vergeudet ... ich habe es, wie ihr wohl wißt, größtenteils zu euren Füßen verlebt. Im Frühling meiner Jahre, und noch weiter hinaus, als er bereits verflossen war, bin ich einer euren treusten, anhänglichsten Narren gewesen, mit einem leichten Wesen im Aeußern habe ich in eurem Umgang einen Grundzug von innerer Melancholie angenommen, die das Erbteil zarter und zärtlicher Seelen ist.

Unglücksfälle aller Art haben mein Gemüt noch finsterer und schwärzer gemacht. Vor allem aber ist meine Schwermut aus der Unruhe über euren Besitz, aus den täuschenden Hoffnungen, die mir meine Verhältnisse mit euch vorgespiegelt, aus den Uebertreibungen einer bezauberten und betrogenen Phantasie, aus den Hirngespinsten einer lügenhaften Liebe, und aus den Kümmernissen und Qualen entstanden, die von der Lage eines Mannes unzertrennlich sind, der euch stets nachgestrebt und sich’s zur besonderen Pflicht gemacht hat, im Schatten eurer Altäre zu leben.

Wieviel Zeit vergeht, ehe der Stümper, der schwache Zögling, der bei euch in die Schule geht, so viel von euch gelernt hat, als ihr selbst versteht! Und ist er endlich so weit gekommen, daß er euren Unterricht entbehren kann, o, dann sind die schönen Jahre verschwunden, wo er am würdigsten gewesen wäre, euch eure Lehren zurückzugeben! Und diejenigen, die euch am besten kennen gelernt, die mit der feinsten Unterscheidungsgabe euch zergliedern, und über eure Fehler absprechen, (médisent de vous) sehnen sich ebenso sehr nach euch, als die unerfahrensten Neulinge, die unschuldigsten Novizen in der Liebe.

Car Vénus vous donna sa divine ceinture,
Ce chef-d’œuvre sorti des mains de la Nature,
Ce tissu, le symbole et la cause à la fois
Du pouvoir de l’amour, du charme de ses lois.
Elle enflamme les yeux de cette ardeur qui touche,
D’un souris enchanteur elle anime la bouche,
Passionne la voix, en adoucit les sons;
Prête des tons heureux, plus forts que les raisons;
Inspire, pour toucher, ces tendres stratagèmes,
Ces refus attirans, l’écueil des Sages mêmes;
Et la Nature enfin y voulut renfermer
Tout ce qui persuade et ce qui fait aimet.**)

*) Gleichwohl kann, wie ein erfahrener Moralist behauptet, die strengste und kälteste Spröde nur höchst selten einen sehr schönen Mann ins Auge fassen, ohne an etwas zu denken, was man nicht sagen darf. Verf.

**) Wären alle Schönheiten Homers von dieser Art, dieser Kraft, diesem Geschmack, so würde er seinen ganzen klassischen Ruf mit allem Rechte verdienen; und hätte sein Uebersetzer Lamotte immer Verse gemacht wie diese, so würde man ihm seine Stelle unter den vorzüglichsten französischen Dichtern anweisen müssen. Verf.



In einem Alter von etwas über siebzehn Jahren, und auf der Reise zu meiner Garnison nach Falaise, stellte ich freilich dergleichen Betrachtungen noch nicht an. Ich war im Gegenteil nur mit mir beschäftigt, von mir eingenommen, vom Eigendünkel über meine bisherigen Abenteuer aufgebläht, mit mir überaus zufrieden, und vollkommen überzeugt, ich würde es weit bringen, nichts stehe für mich zu hoch. (j’irais au grand.) So langte ich in der Stadt an, und es hätte wenig daran gefehlt, daß ich im Tore das Sic itur ad astra! mir zugerufen und auf mich angewendet hätte.

Das Leben, das ich in Falaise führte, war himmelweit von alledem verschieden, was ich bisher, und besonders in den neun Monaten, gesehen hatte, seitdem ich mein eigner Herr geworden. Da gab es anstatt der Freuden der Hauptstadt Dragoner, die von Zeit zu Zeit einexerziert, zugestutzt und bearbeitet werden mußten, – Offiziere, die dem Neuangekommenen nicht alle mit Liebenswürdigkeit entgegenkamen, – alte Degen, (des légionnaires.) welche im Subalterndienst grau geworden, sich an ein Wort stießen, und für welche ein etwas gesuchter Anzug ein Dorn im Auge war, – einen Oberstleutnant*) einen der besten Offiziere in der Armee, mit dem ich ein wenig befreundet und dem ich recht sehr empfohlen war, – und vor allem die militärischen Details und einen ins Kleine und Kleinliche getriebenen Gamaschendienst, den ich lernen und dem ich mich unterwerfen mußte. Ueberdies war Falaise eine ziemlich häßliche, kleine Stadt mit einigen hübschen Frauen, die aber ziemlich streng bewacht wurden, mit vielen anderen – die keines Wächters bedurften, mit Männern, welchen die Pariser sich ein Vergnügen machten, Formen, Gestalten aus jener Welt anzudichten, oder sie in ihnen aufzufinden. – Hier hat der Leser einen kurzen Abriß des Gemäldes von Falaise, das mich beim ersten Anblick zwar frappierte, aber nicht eben entzückte.

Auf diese Weise verflossen mir vier Monate als die erste Lehrzeit meines neuen Berufs. Was mir vom Dienste übrig blieb, verwandte ich auf das Lesen guter Bücher. Der gesellschaftliche Umgang hatte keinen Reiz für mich, bot mir keine Zerstreuung. Ich habe von jeher das Unglück gehabt, an der sogenannten Provinzialunterhaltung wenig Geschmack und Vergnügen zu finden, doch sie ist, seit der Revolution, der Pariser viel näher gerückt. Auch muß ich, schon früher, zwei Städte ausnehmen, in welchem ich mich zu verschiedenen Malen, und immer mit Vergnügen, aufgehalten habe, wie man im Laufe dieser Memoiren sehen wird. In beiden konnte man Personen von beiderlei Geschlecht antreffen, welche überall für die beste Gesellschaft hätten gelten können. Ich will dabei keineswegs in Abrede stellen, daß es von jeher in Frankreich unter den größeren Städten nicht mehrere gab, wo die Pariser vom feinsten Geschmack eine Gesellschaft finden konnten, welche, bis auf gewisse unerreichbare Nuancen eines Tons, den nur die Hauptstadt haben kann, ihren Erwartungen und Forderungen völlig entsprach.

Fern sei es von mir, der sinnlosen Eitelkeit von etwa hundert Personen im alten Frankreich das Wort reden zu wollen, die sich selbst la bonne compagnie par excellence betitelten, sich für geborene Spender des literarischen Rufs, für Schiedsrichter des Geschmacks, für Lenker und Leiter der öffentlichen Meinung ansahen, mit einem Worte sich einbildeten, daß alles, was sich nicht in dem von ihnen vorgezeichneten Kreise bewege, gemein (subalterne) oder gar verwerflich sei, – während man doch zu gleicher Zeit in hundert anderen Zirkeln dieselben Ansprüche auf die literarische Diktatur machte, sich das Oberentscheidungsrecht anmaßte, und vor allem nur für sich und seine Freunde Nachsicht übte.

Wollte man aber der Sache ganz auf den Grund gehen, (en dernière analyse) so würde man finden, daß damals ein ungefähr ebenso fühlbarer Abstand zwischen Ton und Sprache des Hofes und der Hauptstadt, als zwischen der Hauptstadt und der Provinz herrschte, und daß, da eine unsichtbare Kette das Ganze umfaßte, obschon dieses Ganze nicht immer homogen war, aus dieser Zusammenkettung, als natürliche Folge der Nacheiferung, eine allgemeine Höflichkeit entstehen mußte, welche ich nicht abgeneigt wäre, eine Nationalerziehung zu nennen. Es ist sehr zu wünschen, daß die letzten politischen Erschütterungen dieser Erziehung nicht einen empfindlichen Stoß versetzt haben mögen, oder daß wenigstens das Streben einer energischen Regierung, welche alles vermag, sie bald wieder herstelle und aufblühen machte.

Dem sei wie ihm wolle, so hat doch wenigstens der bis zur Uebertreibung und fast bis zur Lächerlichkeit gesteigerte Vorzug, welchen Frankreich seiner Hauptstadt von jeher eingeräumt hat, dazu beigetragen, mir zu den wenigen Kenntnissen zu verhelfen, die ich etwa besitze. Denn die Zeitintervalle, die ich außerhalb Paris’ zubrachte, habe ich vorzüglich auf meine Studien und zu Arbeiten verwendet, denen ich in den Zerstreuungen und Vergnügungen der Hauptstadt bei einem ziemlich guten Gedächtnis, bei etwas Leichtigkeit im Auffassen, und vielleicht vor allem bei gewissen natürlichen Anlagen mich nicht, wie so viel andere, unterziehen zu müssen glaubte.

*) Dieser Stabsoffizier und Leutnant in der Garde-du-Corps bat sich in der Folge als einer der treuesten Diener Ludwigs XVI. erwiesen. Der unglückliche Monarch liebte und schätzte ihn nach Verdienst. Verf.



Die Fähigkeit des Geistes, gehabte Vorstellungen und Gedanken zu behalten und willkürlich wieder in sich zu erneuern, – oder, mit anderen Worten, das Gedächtnis, ist einst für mich der Anlaß gewesen, mich sehr lächerlich zu machen. Ich war unbesonnen genug, in vollem Ernst mich über einen Halbfreund zu ärgern, mich mit ihm zu überwerfen, weil er mir in Gegenwart zweier anderer, deren Urteil für mich wichtig war, den Vorwurf machte: „ich hätte viel Gedächtnis.“ Der eine dieser überlegenen Richter, Rivarol, zeichnete sich durch einen Verstand aus, den vielleicht kein zweiter in gleichem Grade besaß; der andere, Chamfort, empfahl sich durch einen vortrefflichen Geschmack, welcher seine übrigen Talente weit überwog. Mein Ankläger war bei weitem nicht so gewichtig. Es war der unglückliche Marquis de Champcenetz,*) dessen Haupt späterhin unter dem Revolutionsbeile gefallen ist. Kein Mensch auf Erden hat besser als er bewiesen, wie eitel und leer oft ein gewisser Ruf ist, wie sehr er von zufälligen Ursachen abhängt, und wie leicht der eine zu dem Namen eines Mannes von Geist gelangt, während man diesen Titel oft anderen versagt, die alles besitzen, was zu dessen Beglaubigung erforderlich ist. . Man sage mir nicht: Champcenetz habe nie für einen Mann von Geist gegolten. Haben mir nicht zehn Jahre lang und darüber alle Männer von Welt und vom Hofe das Epigramm, die Chanson, die Epistel, das Gedichtchen angepriesen, welches Champcenetz gemacht; die allerliebsten bons-mots wiederholt, die er gesagt; die bittern Stachelworte angeführt, die er gesprochen; die Späße aufgewärmt, die er sich erlaubt usw. usw. usw.? – Habe ich aber nicht auch, während meines intimen Umganges mit ihm, die volle Gewißheit erhalten, daß er äußerst wenig aus sich selbst schöpfte, und daß dieses Wenige noch obendrein immer der Verbesserung bedurfte, und zwar aus dem Grunde, weil er kein Wort Latein verstand, weil er seine Muttersprache nur mittelmäßig beherrschte, und sie weder grammatisch noch orthographisch richtig schrieb? – Trat man aus dem Zirkel der Hofleute in den Kreis der Literaten, so hieß es wieder: „ Champcenetz hat viel Verstand, viel Sarkasmus; (trait) niemand schwätzt so angenehm wie er.“ (il a une causerie fort remarquable.) Man erzeigte ihm die unverdiente Ehre, im für den Verfasser einer Menge bons-mots zu halten, die ganz andere Väter hatten, bloß weil er sich auf die Kunst verstand, sich wie die Dohle mit Pfauenfedern zu schmücken. Ich habe nie eine frechere Stirn gesehen; alles fremde Gut eignete er sich an; er ging unermüdlich mit den Geisteswaren anderer hausieren und begleitete seine Marktschreierei mit einem drolligen Stottern, das ihm treffliche Dienste leistete.

Der Chevalier de Boufflers hat die Stichwunde auf seinem Gewissen, welche Champcenetz vom Vicomte de Roncheroles erhielt, weil dieser ihm die beißende Chanson des jeunes gens zuschrieb, welche Boufflers zum Verfasser hatte. Ich besuchte ihn bald darauf. Er hütete das Bett und fand es sehr natürlich, für Verse, die nicht sein waren, im Zweikampf eine Wunde erhalten zu haben, die allerdings sein war.

Dieselbe Bewandtnis hat es mit der Chanson des dettes auf den Marquis de Louvois. Champcenetz hatte weiter keinen Anteil an der Chanson, als daß er den Namen Grammont ausgestrichen und den Namen Louvois an die Stelle gesetzt hatte.

De Grammont Louvois suivant les leçons,
Je fais des chansons et des dettes.

Ebenso ist es mit dem Epigramm auf Frau von Saint-Armande. – Es ist von Rivarol, der es Champcenetz abgetreten, nachdem dieser es ihm gestohlen und mit so großer Zuversichtlichkeit für das seine ausgegeben hatte, daß er es zuletzt selbst in allem Ernste für eigene Arbeit hielt.

Ebenso ist es mit der Chanson: „Chloé, belle et poëte.“ Der Verfasser ist bekannt, und nur sein Name mir entfallen.

Ebenso mit „Si l’on achetait du courage“, und mit zwanzig anderen.

Einst trieb er die Dreistigkeit so weit, gegenüber dem biedern, trefflichen Florian zu behaupten, er (Champcenetz) habe eine seiner (Florians) besten Romanzen gemacht. Es war ein schöner Herbstabend. Wir gingen zusammen im Palais-Royal spazieren. Aber der Verfasser der Estelle wollte durchaus nicht mit sich handeln lassen und verteidigte steif und fest sein Eigentum, so daß Champcenetz endlich nachgeben mußte. Jetzt besann er sich kurz und sagte stammelnd: „Gut, gut! Reden wi ... wi ... wir nicht weiter davon: wa ... wa ... warum soll ich die Romanze nicht so gut gemacht haben, wie ... wie ... wie ein anderer; es ist ja nu ... nu ... nur eine Romanze, und sie ... sie ... sie ... gefällt mir sehr!“

So viel ist gewiß, er hatte Gesichtszüge, ein Organ und einen Körperbau, welche zur Rolle paßten, die er angenommen; dabei witzige Einfälle, und von Zeit zu Zeit auch glückliche. Er wagte alles, fing alles auf, behielt alles für sich, nahm und stahl alles, war mit einer unverwüstlichen guten Laune begabt, – begabt, sage ich, obschon das Wort hier nicht an der rechten Stelle steht; ich gebrauche es aber mit Absicht, weil es meinen Gedanken vollkommen ausdrückt: Ich will nämlich sagen, daß sein ganzer Verstand in dieser guten Laune lag. Sie hat sich nicht einmal im entscheidendsten Augenblicke des Lebens, seinem Blutrichter Fouquier-Tinville gegenüber, verleugnet; denn als dieser ihm das Todesurteil sprach, fragte er ihn mit heiterer Miene: Ob es nicht der Fall sei, wie in der Nationalversammlung, einen suppléant zu stellen? – „Weswegen?“ fragte Fouquier. – „Weil ich Sie zu meinem Stellvertreter ernennen würde.“ – Dieses echte Bonmot, dieses eigentliche Witzwort (mot d’esprit) bezeichnet den Mann von Mut, welchen nichts, nicht einmal der Tod, aus der Fassung bringen kann.

Seine Laune war unermüdlich in kleinen boshaften und mutwilligen Zügen: Sie richtete sich gegen alle und jeden, ging aber nie soweit, daß sie die Ehre verletzt hätte; denn er war ein Mann von strenger Ehre und jeder kaltblütigen, schwarzen oder tief überlegten Bosheit unfähig. Am allerlustigsten war es, wenn seine Satire über seine Familie oder auch über ihn selbst herfiel; denn, um ein Bonmot zu sagen, schonte er sich so wenig als andere und war froh, wenn er sich zur Zielscheibe des Spottes, der Lächerlichkeit machte. Was Wunder, daß er alle Tage seines Lebens seinen Freunden etwas zu lachen gab, er, der noch am letzten Tage desselben, wenige Augenblicke vor seinem Ende, und als er schon den Karren bestiegen hatte, auf welchem Robespierre seine Schlachtopfer abführen ließ, dem Henker zurief: „Fahre uns gut, und du sollst auch ein gutes Trinkgeld haben!“ –

Uebrigens besaß er wenig Phantasie, einen einseitigen, begrenzten Verstand, keine Bildung, seine Unwissenheit in der Geschichte und in den klassischen Schriftstellern, selbst seines Vaterlandes, war unverzeihlich. Er sprach über die schönen Künste mit der ruhigen, sicheren Ueberzeugung der Kennerschaft, mit dem Tone und der Dreistigkeit eines Professors auf dem Katheder, so daß er in den Augen derer, die noch unwissender waren als er, für einen Kunstverständigen, für einen Vielwisser galt.

Mein Unglück hat es gewollt, und ich klage mich selbst dessen an, daß ich einige Wochen lang mit ihm an einem Blatte arbeiten mußte, welches jetzt ganz vergessen ist, und dessen Titel nicht einmal neu war. Es hieß die „ Chronique scandaleuse“. Ich hatte den Prospektus dazu geschrieben. Sie machte beim Erscheinen einiges Aufsehen, wurde aber bald durch Erscheinungen anderer Art verdrängt, durch das Angstgeschrei der Schlachtopfer, durch das Gebrüll der Henker, durch das Rasseln und Klirren der Ketten in den Kerkern, die der mächtige Terrorismus öffnete und nur zehn Jahre später ein mächtiger Arm und ein noch mächtigerer Genius wieder schloß.

Es war unmöglich, auch nur einen Aufsatz, der aus seiner Feder floß, in die Druckerei zu schicken, ohne ihn vorher durchgesehen und verbessert zu haben. Ich entsinne mich noch eines Tages, wo ich mir vergebliche Mühe gab, ihm begreiflich machen zu wollen, und nicht zu können, daß es nicht einerlei sei, zu schreiben quant à moi und quand à moi, weil quando und quantum im Lateinischen von ganz verschiedener Bedeutung sind.

Uebrigens ist mir diese gemeinschaftliche Arbeit, welcher ich mich wider Neigung und Grundsatz, aus Ursachen, deren Auseinandersetzung hier überflüssig sein würde, unterzogen hatte, teuer zu stehen gekommen. Sie ist einzig und allein schuld daran, daß ich Frankreich im Jahre 1792 verlassen mußte, um den Dolchen des Fabre d’Eglantine und der Rachsucht Condorcets zu entgehen, welchen letzteren ich ein paarmal in jenem Journal an den Pranger gestellt habe.**)

*) Der Marquis Champcenetz de Riquebourg war an dem Hofe der Königin durch seinen Witz, seine Laune, seine harmlose Satire und als einer der besten Chansonniers seiner Zeit beliebt. Uebers.

**) Der Verfasser erwähnt hier eine frühere kleine Schrift, ein Schreiben an Herrn von Condorcet aus London vom 5. November 1792. Er ließ es in Peltiers Tableau de Paris, mit Noten begleitet, abdrucken. Von diesen Noten setzen wir folgende zur Erläuterung her: „Lui (Condorcet), le Sieur Fabre d’Eglantine et autres, qui sont maintenant devant le diable, essayèrent de me faire assassiner le treize Août 1792, pour terminer la petite guerre que ces Messieurs me faisoient depuis deux ans. Il falloit bien quitter un pays, où ces Messieurs étaient les maîtres. – Je pris congé d’eux avec la plus grande difficulté, caché le jour, et voyageant la nuit. Je mis près de trois semaines à gagner un port de mer; je léur laissai tous mes voeux, et n’emportai que le pressentiment, que leur fortune n’irait pas loin.“ Diese Weissagung ist in Erfüllung gegangen. Condorcet vergiftete sich den 27. März 1794, weil er am 28. vor Gericht gestellt werden sollte. Fabre d’Eglantine, Schauspieler und Schauspieldichter, wurde am 5. April 1794 zum Tode verurteilt. Uebers.



Mein Leser wird finden, daß ich oft abschweife; immerhin, wenn ich nur wieder einlenke und meinen Weg zurückfinde. Ich sagte also, daß ich eines Abends Rivarol besuchte: Es war, wenn ich mich recht erinnere, in der Mitte des Jahres 1792. Rivarol wohnte in der Rue des Victoires. Die Herren von Champcenetz und Chamfort waren eben bei ihm. Das Zimmer war spärlich beleuchtet, das Vorzimmer noch dunkler, so daß ich unbemerkt eintrat und neugierig stehenblieb. Rivarol sprach mit seiner gewohnten glücklichen Begeisterung, mit dem ihm eigenen Redefluß und Zauber. Die beiden anderen hörten ihm aufmerksam und bewundernd zu. Das Gespräch hatte gewiß, wie immer, mit einer politischen Erörterung über die Volkssouveränität begonnen – denn das war damals Rivarols Steckenpferd und der beständige Gegenstand seiner Gedanken und seiner Unterhaltung, so wie es in den letzten Lebensjahren Grammatik und Sprache wurden. Von da war er zu dem übergegangen, was die Neueren den Alten schuldig sind; denn ich entsinne mich, daß, als ich näher treten wollte, Rivarol seinen Vortrag mit folgenden Worten, welche ganz den Stempel des Redners trugen, schloß: „Die meisten heutigen Schriftsteller haben ein gutes Gedächtnis; dies ist zwar ein Glück für sie, aber ein Unglück für ihre Leser.“ Das machte mich aufmerksam und stutzig.

Doch, ich tue besser, wenn ich das Gespräch der drei Herren, ungefähr wie es gehalten wurde, hersetze und so viel als möglich, Form und Ordnung beibehalte. Ich kann es um so mehr tun, da ich ein sehr treues Gedächtnis besitze, obschon, nahe den Vierzigern, ich es zum Teil, ja großenteils, eingebüßt habe. Es ist mir aber in jüngeren Jahren von diesem Geistesvermögen gerade so viel zuteil geworden, und bis heute so viel geblieben, als jeder, der auf eigenen Verstand Anspruch macht, hat und haben muß. Wie ich dieses verstehe, und was ich mir unter Gedächtnis denke, wird der Leser weiter unten entwickelt finden.

Also hier das Gespräch.

Champcenetz (lacht). Ha! Ha! Ha! Was wäre La Harpe ohne Belesenheit; was wäre der Vicomte de Ségur und der Abbé Dille, wären sie in keine andere Gesellschaft gekommen, als in die ihrige!

Chamfort. Sie behandeln La Harpe zu streng.

Rivarol. ... Und die beiden anderen zu glimpflich.

Champcenetz. Wieso? Zu glimpflich?

Rivarol. Zuviel Ehre für sie, wenn man sie nur nennt!

Champcenetz. Aber da der Tilly mit seinem Gedächtniskasten! (Une fière memoire, c’est Tilly.) Man hat keinen Begriff von dem, was der alles behalten hat.

Chamfort. Tilly besitzt mehr als Gedächtnis. Er hat viel Verstand, viel Phantasie ..., Feuer und Kraft.

Champcenetz. Geben Sie acht: Das meiste, was er vorbringt, ist nicht sein; es sind Anführungen, und, mit Ausnahme des Weiber-Jargons, abgerissene Stücke aus Dichtern, Fragmente aus Prosaikern. Und, um sich vollends das Ansehen eines Gelehrten in uns zu geben, führt er Horaz, Virgil und ganze Stellen aus dem Tacitus an. Unter ändern wies ihm Martin noch neulich in einem Zitat einen Fehler nach, an welchem der arme Tacitus gewiß unschuldig war.*) Rivarol (fährt sich mit der Hand über das Gesicht). Ich sehe hier wenigstens keine Anstrengung des Gedächtnisses, wenigstens nicht des Ihrigen.

Champcenetz. Es wäre doch besser, Tacitus zu sein, als den Tacitus zu zitieren.

Chamfort. Der Graf Tilly würde auf keinen Fall so etwas gesagt haben.

Champcenetz (lachend). Oh, ich weiß, Sie protegieren ihn!

Chamfort. Das würde mir nicht ziemen; aber ich halte ihn für einen Mann von Geist. Wäre er von geringem Stande und Vermögen; hätte ihn dies gezwungen, von seinen Talenten zu leben; hätte er dem Studieren Geschmack abgewonnen und sich geduldig in eine sitzende Lebensart gefügt: So bin ich überzeugt, es würde aus ihm ein ausgezeichneter Schriftsteller, vielleicht ein klassischer, geworden sein, den man mit der Zeit zitiert haben würde, wie er selbst die Klassiker. Finden Sie etwa seine Unterhaltung gewöhnlich?

Champcenetz. Ich? Nichts weniger; ich finde sie äußerst ungewöhnlich.

Rivarol. Bravo. Appuyez, mon neveu; vous faites des merveilles! (Destouches, Le Philosophe Marié, Akt II Sz. 6. Uebers.)

Chamfort. Ich habe Sie für Tillys Freund gehalten.

Rivarol. Geben Sie acht; er wird fragen, was das heißt: Jemandes Freund sein?

Champcenetz. Nun ja doch, ich bin einigermaßen sein Freund. Kann man eines Menschen Freund nicht sein, und doch finden, er habe mehr Gedächtnis als Geist? Damit will ich nicht gesagt haben, daß es ihm an Esprit fehle.

Chamfort. Streiten Sie sich ja nicht mit ihm; er dürfte Ihnen beides absprechen.

Champcenetz. Nehmen Sie sich nur selbst in acht; sonst gebe ich Ihnen im Petit Gautier (Ein damaliges Hofjournal. Uebers.) eines ab!

Chamfort. Wie aber? Wenn ich den Artikel läse, und nicht fände, daß Sie mir eines ausgewischt hätten ?

Champcenetz. Wohl gesprochen, auf Ehre! Aber Sie, Rivarol, sind Sie stumm? Was zum Henker fehlt Ihnen? Sie verderben uns den Spaß. Ich habe ja nur den Ton angegeben. An Ihnen ist’s, fortzufahren.

Rivarol. Männer, wenn sie Frauendiener sind, taugen zu nichts weiter. Das weibische Haremsleben der Zerstreuungen ist der Tod des kräftigsten, männlichen Talents. Tilly ist gewiß nicht ohne große Talente; er ist mit einer seltenen Leichtigkeit begabt; vor allem hat sein Geist viel Kraft. – Niemand fühlt dies mehr als Sie, Champcenetz. Wie oft lacht er über Sie, wenn Sie es nicht wollen; Ihnen gelingt das nie bei ihm. Ueberdies hat er so viel gelernt, daß Sie ihm gegenüber wie ein Ignorant aussehen. – Hören Sie doch einmal auf, nachteilig von ihm zu sprechen, damit mich der Geist des Widerspruches nicht verleite, Partei für ihn zu nehmen.

Chamfort (lacht).

Champcenetz. O weh! Da bin ich schön angelaufen! Das hat man davon, wenn man Sie um Ihre Meinung befragt!

Tilly (tritt plötzlich hervor). Es beliebte dir also zu sagen, ich hätte nichts als ein wenig Gedächtnis? Du, dessen ganzer Wert darin besteht, mit dem deinigen auf Raub auszuziehen. ...

Rivarol. Ei, guten Abend!

Tilly (fortfahrend). Was weißt du von meinem Gedächtnis? Weißt du, was Lesen, was Gedächtnis haben ist? Sprichst von Zitaten! Weißt du denn, was zitieren heißt?

Champcenetz (lachend). Nun, nun, nicht so böse! Du wirst doch Scherz verstehen?

Tilly. Ei was, Scherz! Dein Lachen ist plump (épais) wie du, und dein Scherz platt (mince) wie dein Witz. Uebrigens muß ich dir sagen, daß ich von dieser Art von Witz wenig halte; daß ich ihn sogar verachte, seitdem man dich witzig finden will.

Rivarol. Meine Herren! Meine Herren!

Champcenetz. Lassen Sie ihn reden; er amüsiert mich.

Tilly. Das werde ich nie von dir sagen; ein Dummkopf ennuyiert mich immer.

Champcenetz. Das war allerfeinster Ton.

Tilly. So muß er sein, um an die Adresse zu gelangen.

Champcenetz. Herr von Tilly, Sie sind mir Genugtuung schuldig.

Tilly. Herr von Champcenetz, Sie sollen sie erhalten, und noch obenein Gerechtigkeit.

Chamfort. Aber, meine Herren, das ist ja ein Auftritt. ...

Rivarol. Auf Ehre, der lächerlichste von der Welt. Wie könnt ihr euch über etwas entzweien, das auf nichts hinausläuft? Und überdies ... aber ich sehe, niemand will mir zuhören.

Tilly. Was kann man sonst tun, wo Sie sind, als zuhören? Sie usurpieren beständig das Wort; freilich auf eine Weise, die diese Usurpation in Legitimität verwandelt.

Rivarol. Wie doch das Lob die Pille verzuckert!

Champcenetz. Tilly hat recht; Sie sind in der Tat ein U ... u ... u ... surpator.

Rivarol. Und Sie, in der Tat ein bé ... bé ... bégayeur, ein Stotterer. Doch lieber noch stottern, als schmollen und sich streiten!

Chamfort. Hier ist weder von Schmollen noch von Streiten die Rede.

Champcenetz. Wir spielten Sprichwörter.

Rivarol (zu mir). Nun, lachen Sie noch nicht?

Tilly. Ueber wen?

Rivarol. Ueber sich selbst und über Ihre unzeitige Empfindlichkeit.

Champcenetz. Lache auch über mich, wenn’s dir Vergnügen macht.

Chamfort. Das heiße ich auf eine gute Art sich aus dem Handel ziehen.

Tilly. Oh, das ist seine gewöhnliche Taktik. Er gibt seine Person preis, um keinen anderen schonen zu dürfen.

Champcenetz. Ihr dürft mich ja nur beim Worte nehmen, wenn ich was gegen mich anführe.

Rivarol. Und alles übrige für Dichtung halten.

Champcenetz. Aber hören Sie doch ... da draußen ... das ist keine Dichtung; das ist eine traurige Realität: es regnet in Strömen.

Rivarol. Tilly hat sein Kabriolett; er wird Sie nach Hause fahren.

Tilly.Und Herrn Chamfort ebenfalls.

Rivarol. Das wäre sehr überflüssig; der kennt den Regen und der Regen kennt ihn.

Tilly. Ja, und dann dachte ich auch nicht daran, daß neben Herrn von Champcenetz kein Zweiter Platz finden kann.

Champcenetz. Ein Epigramm! Ein Epigramm! ... ist nichts dran; und doch gefällt’s mir.

Tilly (lachend). Heute fahr ich Sie nach Hause, Herr von Champcenetz; aber morgen erstech ich dich.

Champcenetz. Erstich mich lieber heute, und fahre mich morgen nach Hause.

Man mußte lachen und sich umarmen.

So endigte dieser lächerliche Abend. Ich nenne ihn lächerlich, weil ich lächerlich genug war, in einem Anfall von Eitelkeit über etwas empfindlich zu werden, (de me piquer) was mich hätte amüsieren und für mich die Folge haben sollen, entweder mein Gedächtnis besser auszubilden, wenn Champcenetz recht hatte, oder bei der nächsten Gelegenheit meinen Verstand zu zeigen, wenn er unrecht hatte.

Aber, sagt Montaigne: „La vanité a été donnée à l’homme en partage, et tout le trompe à la fin; il court, bruit, meust, fuit, chasse, il prend une ombre, il adore le vent, un festu est le gain de son jour; ce festu c’est la louange et la renommée.“ –

Später habe ich Herrn von Champcenetz durch wirkliche Dienste bewiesen, daß ich wegen dieses Auftritts keinen Groll gegen ihn hegte. Ich bin in ihn gedrungen, daß er mir folgen und unseren Henkern entgehen möchte. Er war nicht zu bewegen. „Mein Schicksal schwebt mir vor Augen“, sagte er; „ich weiß, daß mich die Guillotine erwartet.“ Gleichwohl versicherte er mir standhaft, er werde sich nie von seinen Büchern und seinen Kupferstichen trennen, um den ewigen Juden in Europa zu spielen; er liebe das Leben, aber noch mehr die göttliche Faulheit. Ich weiß, daß er nach meiner Abreise, durch Vermittlung eines mir unbekannten Dritten, eine Zusammenkunft mit Brissot gehabt, der ihm unter der einzigen Bedingung: „Zu schweigen“, das Leben verbürgte. Das hieß aber: Das Unmögliche von ihm verlangen. – Auch erinnere ich mich noch, daß er mit Condorcet zusammengetroffen, und daß eine Art von Friedensbund unter beiden abgeschlossen worden ist. Er wird sich dabei wahrscheinlich auf Kosten meiner abwesenden Manen reingewaschen haben; ich verzeihe es den seinigen. Er ließ mir durch einen gemeinschaftlichen Freund sagen: Man lasse ihn ruhig; er hoffe durchzukommen. Unter Robespierre wurde er verhaftet. Von Robespierre hatte er kein Versprechen erhalten. Robespierre versprach und hielt nichts als – Tod. Er ließ sein gewöhnliches Urteil auch über ihn ergehen, vermutlich eines Bonmots wegen über die Revolution, welches vielleicht nicht einmal von Champcenetz herrührte, und schickte ihn aufs Blutgerüst als einen Conspirateur-Calembouriste. Sein Tod ist mir nahegegangen; an ihm war nichts Arges, als die Lippen. (Il n’avait de méchant que less lèvres.)

Dieses Urteil über ihn ist mir durch kein persönliches Motiv eingegeben worden. Unsere Wege trafen nie zusammen. Sein Glück bestand darin, Lachen zu erregen; ich hingegen würde um diesen Preis nicht für den geistreichsten Mann in Frankreich haben gelten wollen. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen; diese Sympathie wäre vielleicht in Freundschaft übergegangen, wenn ich geglaubt hätte, in ihm einen Freund zu finden. Ich gäbe viel darum, er lebte noch, und ich könnte mehr zu seinem Lobe sagen; dem Toten bin ich Wahrheit schuldig.

*) Martin, ein Mann von Geist, ein origineller Kopf; dabei eine Art von Zyniker. Der hier angeführte Umstand verhält sich nicht so, wie ihn Champcenetz anführt; doch man darf es mit ihm nicht so genau nehmen. Das Wahre an der Sache ist, daß ich in Martins Gegenwart die Stelle vom Tode des Germanicus etwas emphatisch vortrug; daß Champcenetz, auf dessen Zimmer dies geschah, verdrießlich war, weil er kein Wort davon verstand, und daß Herr Martin mich beim Worte praebere (Im Original steht prebere!!) Uebers.) unterbrach und – ich weiß selbst nicht warum, denn wir waren keine intimen Bekannten – erinnerte: es sei nicht nötig, auf dieses Wort einen besonderen Nachdruck zu legen, da es, wie ich wohl wisse, der gewöhnliche Ausdruck sei und soviel bedeute als dare, geben.
Von diesem Zyniker Martin hat man mehrere Bonmots in Diogenes’ Stil und Manier. Er kam oft in ein bekanntes Kaffeehaus, das Rendezvous der Belletristen. Die Wirtin, kokett, aber nicht schön, war immer sehr geputzt. Einst läßt sich Martin eine Tasse Schokolade geben, findet sie schlecht und sagt es. „Monsieur,“ versetzt die Dame, „viele Herren vom Hofe finden meine Schokolade gut.“ Martin zieht ein Stück Glas hervor, welches er seine Lorgnette nannte, beschaut damit die Wirtin und spricht: „Diese Herren vom Hofe haben Ihnen vielleicht auch gesagt, daß Sie hübsch sind.“
Man führt noch eine andere witzige Antwort von ihm an. Mich dünkt aber, sie ist von Herrn Favier, der weit stärker in Bonmots war, den ich aber nur wenig gekannt habe. Er war in der Oper; ein Nachbar war so unbescheiden, ihn in einem Zwischenakte lange zu fixieren. „Habe ich die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein,“ fragte Martin, „oder haben Sie sonst einen Grund, mich anzusehen?“ Jener erwiderte mit dem bekannten (französischen) Sprichworte: Ein Hund sieht ja wohl einen Bischof an. – Schnell fiel M. ein: „Wer hat Ihnen gesagt, daß ich ein Bischof bin?“



Doch mich dünkt, ich habe mir und dem Leser eine Definition des Gedächtnisses versprochen. Das Gedächtnis ist die Fähigkeit, dasjenige zu behalten, was uns frappiert, was wir leicht auffassen, was uns gefällt, und vor allem was unseren Ideen und Begriffen analog ist. Das Gedächtnis ist eigentlich eine Superfötation von fremden Ideen, die wir auf die unsrigen impfen. Ein Dummkopf kann ebensogut wie ein Mann von Geist sich entsinnen, daß er an dem und dem Tag, um die und die Stunde, jemanden vom Pferde hat fallen sehen usw. usw. Aber mir ist noch in meinem Leben, ich will nicht sagen, kein Dummkopf, sondern kein mittelmäßiger Kopf vorgekommen, der mit Nutzen gelesen, der richtige, fruchtbare, nützliche, wohlgeordnete Erinnerungen aus dem Gelesenen zurückbehalten hätte. Man hat schon Verstand, wenn man den Verstand anderer versteht; man hat einen sehr guten Verstand, wenn man dasjenige auffindet und unterscheidet, was vom Verstande anderer gesammelt und beibehalten zu werden verdient; man hat viel Geschmack, wenn dieses Unterscheidungsvermögen sich in uns entwickelt. Und hierin besteht das ganze Kunstgeheimnis des Gedächtnisses. Endlich aber hat und zeigt man noch einen durchdringenden, richtigen, geregelten (mesuré) Verstand, wenn man das Talent besitzt, in einer abwechselnd heitern und soliden Unterhaltung anderen die Schätze mitzuteilen, die man aufgefunden und sie mit Zusätzen aus eigenem Reichtum zu vermehren.*) Kurz: Wem ein solches Gedächtnis und kein Papageigeschwätz zuteil geworden, der hat von der Natur eines ihrer ersten und schönsten Geschenke erhalten: Ein Geschenk, welches sie nur ihren Günstlingen und denen zukommen läßt, die sie schon früher begabt und ausgestattet hat.

Rivarol z.B. hatte ein ungeheures Gedächtnis. Seine schnellen, lebhaften Gefühle, seine leidenschaftliche Liebe für das Schöne hatten fast alles, was in den alten und neuen Klassikern behaltenswert ist, sich angeeignet und darin verankert. Gleichwohl wurde die Originalität seiner gesellschaftlichen Unterhaltung durch jene mächtigen Hilfsmittel des Gedächtnisses verstärkt, nie gestört und verdunkelt. Sein gediegen Gold erhielt dadurch neuen Zuwachs und Glanz. Sein Geist stand da, wie eine Statue, deren Reizen die schöne Draperie, die sie deckt, ohne sie zu verhüllen, zur neuen Zierde gereicht.

Meine Augen haben in Berlin diesen leuchtenden Stern erlöschen sehen. Er hatte zwar im Norden etwas von seinem Feuer verloren; indessen warfen seine oft ungleichen Strahlen noch einen großen Glanz. Ich habe in einer andern kleinen Schrift**) angedeutet, wie man es angelegt und dahin gebracht, uns in den letzten Monaten seines Lebens zu trennen. Ich werde es in diesen Memoiren, zur gehörigen Zeit und am gehörigen Orte, weitläufiger auseinandersetzen; und gewiß soll jener unglückliche Umstand, der uns trennte, mich nicht ungerecht gegen eines der schönsten Genies machen, das die Natur gebildet.

Von jenen drei Männern blieb nicht einer übrig! Der Tod hat sie alle, vor der Zeit, gewaltsam hingerafft. Zwei darunter waren ausgezeichnete Naturen; einer von den beiden weit umfassender und außerordentlicher als der andere. Keiner von ihnen hat sich ein Denkmal errichtet, womit er sich der Nachwelt hätte empfehlen und Jahrhunderte überleben können. Chamfort fehlte es vielleicht an Talent dazu; er war nur mit vielem Geiste und dem feinsten Geschmack begabt. Rivarol verband mit einer übermäßigen Indolenz den reizbarsten Autorstolz; mit einer unheilbaren Faulheit die eitelste Eigenliebe. Aber seiner Eitelkeit fehlte es an Kraft, über seine Faulheit zu siegen; sie fand ihre Nahrung in dem kurzen Triumphe der Gegenwart, der ihm in der gesellschaftlichen Unterhaltung ward, worin er so hervorragend glänzte, und die er dem entferntem und immer Ungewissen Ruhme der Schriftstellerei vorzog. Man erlaube mir über ihn den gewagten, ihn jedoch ganz definierenden Ausdruck: „Er sprach sein Genie, und erschöpfte es im Sprechen.“ (Il parlait son génie, et l’epuisait.)

Alles was er sprach, war von der äußersten Feinheit. Man konnte ihm nicht böse werden, selbst wenn er einem wehe tat, so sehr mischte sich in den boshaften Stich ein graziöses Halblachen, das er, wie Balsam, in die Wunde träufelte. Oft waren es zweideutige Reihen, einer gefälligen Auslegung fähig, wie z. B. sein Bonmot an Florian, als dieser seinen Numa Pompilius in die Druckerei tragen wollte und ihm auf der Straße begegnete. Das Manuskript ragte etwas aus der Tasche hervor. „Wenn man Sie nicht kennte, (rief ihm Rivarol warnend zu), wie würde man Sie bestehlen!“ – Er war ein großer Liebhaber von Ringen, Cameen, geschnittenen Steinen, kurz von allem, was ihn an das Altertum erinnern konnte, dem er sich innig verwandt fühlte. Der Vicomte de Ségur hatte ihm einen antiken Ring geliehen, einen Julius Cäsar-Kopf. Er zeigte ihn mir; ich lobte den Stein. „Ja,“ sagte er, „der Ring ist schön; ich wollte, der Baron von Bezenval hätte den Einfall gehabt, ihn mir zu vermachen; doch gleichviel, ich habe und trage ihn, und gebe ihn auf Ehre nicht wieder heraus. Cäsar hat sich nie ergeben.“ (Wortspiel zwischen rendre, zurückgeben, und se rendre, sich ergeben. Uebers.)

Er ist tot, sage ich noch einmal, und von der schönen lebendigen Flamme, die in ihm loderte, ist nur die Asche zurückgeblieben. So verschwindet alles, was im schnellen Strom der Zeit über die dunkle Bühne des Lebens vorüberrauscht, auf welcher wir, wie Schattenbilder in zerbrechlichen Rahmen, sichtbar sind.

Welch unerforschliches Geheimnis! Wie? Der Mensch, in seinen Wünschen so grenzenlos; der Mensch, so mächtig durch sein Denken, so energisch durch seinen Willen; – der Mensch lebt so kurze Augenblicke, wird von der Kette so vieler vorübergehender, zufälliger Ereignisse umfaßt, und seine Dauer selbst ist nur ein Augenblick!

Ludimus; interea celeri et nos ludimur hora!

Welch’ Rätsel! Wer gibt die Auflösung!

*) Ich will hier keineswegs jenen ewigen Zitatoren das Wort reden und sie vollends aufmuntern, ihre erborgte Wissenschaft wie ein auswendig gelerntes Pensum abzuleiern (débagouler). Est modus in rebus. Man könnte wie Lord Chesterfield zu ihnen sagen: „Wear your learning, like your watch, in a private pocket, and don’t pull it out, to show that you have one; but if you are asked, what o’clock it is, tell it.“

**) Unter dem Titel: Mes relations avec Mr. de Rivarol. Es heißt darin von ihm nach großen und gerechten Lobsprüchen: „... Voilà comme je dépréciais l’homme avec lequel j’avais été lé pendant seize ans!!! qui avait pour moi une grande partie des sentimens que j’avais pour lui, avant que quelques personnes, qui l’admiraient sans avoir une balance pour le peser, et qui l’ont à peine connu, nous eussent brouillés les quatre derniers mois de sa vie. O insanité des coteries! o pauvreté des salons! o médiocrité des jaloux sans droits!!!“ Herr von Rivarol starb 1801 in Berlin. Uebers

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band