Fünftes Kapitel. Unsere Zusammenkunft in der Ludwigskirche. — Sophie wird mein. — Ich gestehe der Frau von . . . meine Liebe, ohne den Gegenstand zu nennen.

Ihr Verdacht auf eine andere. — Ihre Antwort. — Meine Familie will mich auf Reisen schicken. — Meine Abschieds-Vorstellung bei der Königin. — Ihre Worte. — Ihr Rat. — Ihr richtiger Verstand. — Frau von ... ist nahe daran, mein Verhältnis mit Sophien zu entdecken. — Geschenke einer Geliebten sollen nie einer andern zum Opfer gebracht werden. — Ein Armband zeugt gegen mich. — Sophie leugnet. — Sophie schwanger. — Ich schreibe an Frau von ... — Meine Verstellung. — Ihre Verstellung. — Sie verläßt Versailles. — Ich werde mit Dorat bekannt. — Sein Talent. — Sein Ruf. — Dorat, als Schriftsteller und als Weltmann geschildert. — Sein Haß gegen Laharpe. — Herr von Pezay. — Anekdote. — Der Herzog von Manchester. — Der Graf Maurepas. — Versailles wird mir nach Sophiens Abreise verhaßt. — Ich begebe mich auf Herrn Monvilles Landgut. — Monvilles. Porträt. — Seine Beharrlichkeit für den Herzog von Orleans. — Der Herzog hat nie nach der Krone gestrebt. — Die Revolution ist das Grab ihrer Freunde wie ihrer Feinde. — Sophie ruft mich zurück. — Ich eile nach Paris. — Mein Empfang bei Frau von ... — Sophiens Verlegenheit. — Ich verschaffe mir nächtliche Zusammenkünfte. — Ich gewinne eine Kammerfrau. — Weibliche List. — Frau von ... entdeckt mich in Sophiens Schlafzimmer. — Ich bin meiner Doppelrolle überdrüssig. — Meine Erklärung. — Sophiens Lage. — Ihr Auftritt mit Frau von ... — Meine Wut — Ich gehe zur Frau von ... — Ihr Benehmen. — Ihre Nachsicht gegen uns. — Sie führt uns in die Oper. — Vorgang daselbst. — Frau von ... teilt uns ihren Plan mit. — Sie schreibt an mich. — Sophie schreibt an mich. — Beide verlassen Paris. — Innige Teilnahme des Marquis von Sennecterre. — Er tröstet mich. — Betrachtungen über die weibliche Eifersucht. — Ich werde Sophien untreu. — Nächtliches Abenteuer. — Geschichte meiner Untreue. — Ein Roman, und doch kein Roman. — Erröten ist nicht immer ein Geständnis. — Schluß und Aufklärung des Abenteuers. — Dreistigkeit und Verschlagenheit einer Frau. — Schlechter Ton, der in den neueren Romanen herrscht. — Crebillon der Jüngere hat ihn angegeben. — Dorat, selbst Marmontel, seine Nachahmer. — Das Heer ihrer Nachfolger. — Der gute Stil geht verloren. — Angeführte Stellen zum Beweise. — Ich treffe lange nachher mit der Heldin des Abenteuers wieder zusammen. — Aehnliche Geschichte in Wien. — Verderbtheit der Frauen. — Tugend der Frauen. — Ich reise zum Regiment nach Falaise. — Meine Beurlaubung bei der Königin. — Ihre Gnade. — Der Empfang der Pariser in der Oper tut ihr wehe. — Meine Antwort. — Meine Abreise. — Ich verlasse Paris ungern.

This devil, Beauty, is compounded strangely.
It is a subtil point, and hard to know,
Whether it has in it more active tempting
Or passive tempted ...
So soon it forces, and so soon it yields.


Unser Roman wurde Wirklichkeit. Frau von ... speiste nicht zu Hause. Sophie benutzte auf alle Gefahr diese Abwesenheit. Ich erwartete sie an der Türe. Wir begaben uns in finsterer Nacht in die Sankt Ludwigs-Kirche. Dort schlossen wir den Bund der Ehe, feierlicher, als ihn in der Folge so viele schlossen, die weit weniger Gewicht und Ernst darauf gelegt haben, als damals wir beide. Der Bund wurde im Hotel von Noailles besiegelt, wo ich einige Zimmer vom Herzoge zu meiner Verfügung hatte. Dort brachte ich die hin, die ich (zu meiner Rechtfertigung und zur Steuer der Wahrheit sei es gesagt!) für meine gesetzliche Gattin hielt.

Noch (vor Mitternacht begleitete ich sie nach Hause, und von nun an war sie unwiderruflich mein.

Ich hielt es für eine heroische Handlung, der Frau von ... zu bekennen, daß ich mein Herz einer andern gegeben, hütete mich aber, ihr diese andere zu nennen. Ich sagte ihr bloß, sie wisse so gut als ich, daß die Liebe ein gebietendes, blindes Gefühl sei; in mir sei, sehr wider meinen Willen, dieses Gefühl für eine andere entstanden; ich würde es als ein strafbares Verbrechen ansehen müssen, wenn ich beide betrügen wollte; was aber mein erstes Verhältnis betreffe, so würde alles, was von mir abhinge, Dankbarkeit, Freundschaft und eine grenzenlose Ergebenheit und Hingebung, an die Stelle von Gefühlen treten, deren wandelbare, gebrechliche Natur es nicht in meine Macht stelle, sie ewig im Herzen zu bewahren.

Obschon durch mein früheres Benehmen zum Teil auf das, was sie jetzt hörte, vorbereitet, verstummte sie bei dieser unerwarteten Eröffnung.

Sich mit solcher Hintenansetzung des Schicklichen einem unerfahrenen Jünglinge hingegeben zu haben, sich von ihm mit einer so abstoßenden Freimütigkeit verlassen zu sehen, wäre selbst für eine an Liebeshändel gewöhnte Frau (Femme galante) ein empfindlicher Schlag gewesen, und Frau von ... war weit entfernt, eine solche zu sein. Meine Jugend hatte sie bei unserer (ersten Bekanntschaft angezogen, hatte ihre Tugend verführt, und diente ihr jetzt zur Strafe; mein Herz ohne Falsch hatte damals das ihrige gewonnen, und jetzt war eben diese Offenheit ein Dolch, der ihre Brust durchbohrte. Zum Glück für mich und Sophie war sie auf einer falschen Fährte, und anstatt auf Fräulein von Lorville einen Verdacht zu werfen, dichtete sie mir Absichten und Aussichten ganz anderer Art an, denen der höchste Eigendünkel und die ausgemachteste Geckhaftigkeit nicht zur Entschuldigung hätte dienen können, wenn ich sie wirklich gehabt hätte, und die ich um nichts in der Welt gehabt haben würde, auch dann nicht, wenn die zuvorkommendste Huld sie mir im Traumbilde vorgespiegelt hätte.

„Ich weiß Ihnen“, sagte sie mir, „für Ihre Aufrichtigkeit Dank. Ich lobe und schätze Sie um Ihrer Geradheit willen, selbst wenn Sie dieselbe auf meine Kosten zeigen. Leben Sie glücklich! Entehren Sie nie den Altar, auf welchem Ihre erste Flamme gebrannt hat. Dieses sage ich Ihnen weit mehr in Rücksicht auf Sie als auf mich. Vor allem nehmen Sie sich vor der Eitelkeit in acht, welche uns gefährliche Schlingen legt; vor dem Stolze, der uns den verderblichsten Blendwerken preisgibt. Es liegt ein nicht zu erklärender Zauber und etwas so Magisches in der Schönheit und in der Macht, daß man sich nicht selten über die Art von Eindruck und Interesse täuscht, die man in ihnen erweckt. Ich wiederhole es, die Gefahr, welche man dabei läuft, ist fürchterlich; das Ridiküle, welches man sich dabei gibt, ist vielleicht noch unabsehbarer... . Ich mag nicht mehr sagen..... Meine Worte sind die Worte der sterbenden Liebe; mögen sie Ihnen zum Leitfaden dienen, und vor allen Dingen – Sie warnen und schrecken! ... Sprechen wir nicht mehr von dem, was vergangen ist; sehen Sie mein Haus wie das Ihrige an; seien Sie versichert, daß Sie meine ganze Freundschaft besitzen; erhalten Sie mir die Ihrige; nie werde ich es verdienen, daß Sie sie mir entziehen; und kann ich je in den Fall kommen, Ihnen nützlich zu sein, so verfügen Sie unbegrenzt über mich; die Augenblicke, wo ich Ihnen werde dienen können, sind gewiß die einzigen glücklichen, die ich mir noch in der Zukunft versprechen darf.“ –

Hier wischte sie sich eine Träne vom Auge, verließ mich und begab sich in ihr Kabinett. Ich fand in mir weder die Kraft, sie zurückzuhalten, noch die, ihr zu folgen.

Wie viele Schwierigkeiten hatte ich zu bekämpfen und zu überwältigen, wollte ich mein Verhältnis mit Sophien fortsetzen, ohne es zu verraten! Schon gegen die bloße Fortsetzung erhoben sich tausend Hindernisse. Alles verschwor sich wider mich. Meine Familie verlangte, ich sollte vor meinem Eintritt in das Dragonerregiment von N..., in welchem ich eine Leutnantsstelle erhalten hatte, eine Reise in das Innere von Frankreich machen und dann drei Monate in England zubringen. Außer dem Nutzen, welchen junge Leute überhaupt aus den Reisen ziehen, kam es mir vor, als sei noch ein zweiter Grund vorhanden, warum ich reisen sollte; man wollte mich vor den Klippen des Ozeans von Paris bewahren.

Am Tage, wo ich der Königin zum ersten Male als Offizier vorgestellt würde, befahl sie mir sozusagen in Versailles zu bleiben. Auf diesen Befehl bezog ich mich, um mich dem Reiseplane der Meinigen zu widersetzen. Ich erinnere mich noch der eigentlichen Worte der Königin. Sie hatte die Gnade, mir zu sagen: „Sie nehmen nicht Abschied, wir trennen uns nicht; Sie bleiben, wenigstens noch für einige Zeit in Versailles unter meinen Augen. Sie werden, wenn Sie mir folgen wollen, nur selten Abstecher .nach Paris machen; es soll Ihnen hier nicht an aller der Unterhaltung fehlen, die Sie wünschen mögen. Betragen Sie sich, wie es sich für Sie schickt, Und Sie werden stets in Mir eine Stütze und das tätige Wohlwollen finden, (dessen Sie sich würdig zu machen haben. Kleiden Sie sich einfacher. Seit wenigen Tagen sehe ich Sie schon in zwei gestickten Röcken erscheinen. Ihr Vermögen ist zwar bedeutend, aber nichts weniger als hinreichend für den ausschweifenden Modegeschmack; wozu dieses gekräuselte Haar? Diese Crochets? Wollen Sie Komödie spielen? Die Einfachheit in der Kleidung macht zwar nicht, daß wir hervorstechen, sie macht aber, daß man uns hochschätzt.“

Diese Worte der Königin haben sich nie aus meinem Gedächtnisse verloren; man wird mir’s ohne Mühe glauben. Sie enthalten eine so mütterliche Güte von Seiten einer so großen Königin, (La plus grande reine du monde.) eine so gesunde Vernunft vom edelsten Gepräge, daß es unmöglich wäre, sie zu vergessen. Und hätten sie auch zu ihrer Zeit einigen Enthusiasmus in mir rege gemacht, hätte ich sie auch damals gegen einige wiederholt, sowohl der Königin als mir selbst zu Ehren, so würde ich gewiß nicht für so lächerlich haben gelten können als Frau von Sévigne, wenn sie zum Grafen von Bussy sagte: „Gestehen Sie, mon cousin, daß unser König der größte Monarch auf Erden ist“, – weil Ludwig XIV. soeben ein Menuett mit ihr getanzt hatte.

Es kommt mir nicht zu, das Maß und den Umfang des Verstandes bestimmen zu wollen, den die Königin besaß, und wie sich dieser in ihren Handlungen äußerte. So viel aber darf ich behaupten: so oft ich die Ehre gehabt habe, ihr aufzuwarten, und in ihrer Nähe zu sein, habe ich in jedem Worte, das sie sprach, eine Richtigkeit und Bestimmtheit, eine Sorgfalt in der Auswahl und Abwägung der Ausdrücke gefunden, die unseren besten Köpfen Ehre machen würde.

Seit dem Tage, wo ich mit Frau von ... die erwähnte Erklärung gehabt, hatte ich keine zweite Unterredung mit ihr; wohl aber (was mir nicht eben zum Lobe gereicht) ging all mein Bemühen dahin, eine ihrer Frauen zu bestechen, und es gelang mir. Auf diese Weise hatte ich häufige Gelegenheiten, Sophien zu sehen, und drei Monate verflossen, ohne daß ihre Wohltäterin den leisesten Verdacht gegen sie geschöpft hätte. Für mich war es nichts Leichtes, im Tête-à-tête mit beiden zu speisen, wie dies sehr oft der Fall war. Das Gespräch war dann gesucht und gezwungen, und hörte nur auf es zu sein, wenn es Gäste gab, und die Unterhaltung allgemein wurde.

Ein Ereignis, das ich nicht vorausgesehen hatte, wäre bei einem Haare zum Verräter an uns geworden, hätte beinahe alles entdeckt, und war wenigstens die Veranlassung, daß Frau von ..., deren Dienstzeit in Versailles abgelaufen war, ihre Rückkehr nach Paris beschleunigte.

In den schönen Tagen unserer Liebe hatte sie mir ein Armband von ihren Haaren geschenkt. Ich trug es lange, bis ich auf Sophiens sanftes Bitten ihr dieses Opfer brachte. Es war unrecht von mir, das Geschenkte wieder zu verschenken.

Bei dieser Gelegenheit gebe ich meinen jungen Freunden eine Lehre und einen Rat. Mögen sie beides benutzen. Man soll nie der gegenwärtigen Geliebten ein Andenken der Gunst einer früheren zum Opfer bringen, nie der Eitelkeit, dem Hasse, der Grille einer Schönen, welcher wir heute huldigen, die Briefe, die Haare, das Porträt derjenigen zum Opfer bringen, die wir gestern verehrten. Mein Rat mag kleinlich und unbedeutend klingen, er ist es aber nicht, er hängt genau mit der Ehre zusammen. Wer schlecht und niederträchtig genug ist, aus den Händen zu geben, was die Liebe ihm in dem Augenblicke der innigsten Vertraulichkeit geschenkt hat, wird schwerlich in der Freundschaft und in allen übrigen Umständen und Lagen des Lebens, wo es auf Ehre ankommt, zartsinniger und zuverlässiger sein. Und wie oft wird der Mann nicht auf eine solche Probe gestellt? Wie oft kommt er nicht in den Fall, diese Pflicht der Ehre zu erfüllen? Wie gewöhnlich ist die Schlinge nicht, worin sich so viele Frauen fangen lassen, Liebesandenken zu geben? Wie gewöhnlich die, worin ebenfalls Frauen ihre Liebhaber fangen, wenn sie ihnen dergleichen Andenken abfordern? Wie gemein und allgemein ist nicht die weibliche Grille, Opfer dieser Art zu verlangen, welche keinen anderen Wert für die zweite Geliebte haben können, als daß sie weiß, daß sie früher einen großen Wert in den Augen ihres Liebhabers hatten? Nur daß dieser Wert immer in dem Verhältnisse zunimmt, als sie ihre Rivalin haßt! Und man weiß, wie sehr die liebenden Frauen hassen können, wie sehr ihr Herz und ihr Kopf in beständiger Bewegung sein müssen; wie hoch sie sich einen solchen Sieg über eine Nebenbuhlerin anrechnen, wie unerbittlich ihr Herz, wie unstät ihr Kopf ist, wieviel Anziehendes ein so grausames Spiel für ihre Nerven hat, wie sehr jene gefährlichen und dabei so leicht zu führenden Waffen für sie gemacht und ihrer Natur angemessen sind. Mit zahlreichen Ausnahmen sind die Frauen inkonsequente, leichtsinnige, oft barbarische Wesen. (Des êtres barbares) Wie aber die Männer? Sind sie viel besser? Ich zweifle sehr. Die ganze Menschheit taugt nichts!

Ich komme auf mein Armband zurück. Es war mit einer schönen Perle verziert. Auf dem Schilde standen zwei verschlungene Chiffern und die beiden englischen Worte: for ever; „denn“, wie Diderot sagt, „die Leidenschaft sieht alles ewig, die menschliche Natur will, daß alles ende.“ Das Brasselett war gar zu kenntlich. Sophie hatte es bisher in einem geheimen Fache ihres Sekretärs sorgfältig verborgen. Nur ein einziges Mal, als sie kramte, war sie so unglücklich gewesen, es in der Eile herauszunehmen und auf ihrer Toilette liegen zu lassen. Frau von ..., gewohnt, oft in das Zimmer zu kommen, mußte gerade an diesem Tage etwas darin zu schaffen haben. Sie sieht das Armband, erkennt es, wird wie vom Donner gerührt. Ich hatte Sophien nie gesagt, aus wessen Haaren es gewebt war; mir war nie ein Wort über die Art und den Grad des Verhältnisses entfahren, worin ich mit ihrer Wohltäterin stand. Freilich würde ich es wider die Ehre und den Anstand gehalten haben, ihr diese Eröffnung zu machen; ich muß aber auch gestehen, daß dies nicht mein Hauptgrund war, sie ihr vorzuenthalten; ich mußte befürchten, ein Geständnis dieser Art würde Sophiens Widerstand verstärken und meinen Sieg verhindern. Nach meinem Triumph fuhr ich fort, ihr diesen Umstand zu verschweigen, um sie nicht zu betrüben und zu beunruhigen. Sie glaubte, das Geschenk sei von einer anderen. Glücklicherweise war sie nicht auf ihrem Zimmer, als Frau von ... hinkam und das Corpus delicti fand.

Ich speiste gerade an demselben Tage bei der Gekränkten und Beleidigten. Sie wußte sich aber dergestalt zu fassen und zu beherrschen, daß sie kein Wort darüber fallen ließ. Allein am Abend, als wir beide allein waren, bat sie mich mit anscheinender Gleichgültigkeit, ihr alles zurückzugeben, was ich von ihr hätte, und was für mich keinen weiteren Wert haben könne. Vor allen Dingen aber forderte sie mir das fatale Brasselett ab. Die Antwort fiel mir nicht schwer. Ich beteuerte, mich nie von dem trennen zu wollen, was mich an ein Glück erinnere, dessen Andenken eine der Freuden und Glückseligkeiten meines ganzen Lebens sein würde, und schloß mit der Versicherung, ich hätte es nicht verdient, diesem Geschenke zu entsagen. Ich hielt nämlich alles für eine vorübergehende Laune, und glaubte, mich gut aus der Sache gezogen zu haben.

Am folgenden Morgen erhielt ich einen Brief von Sophien. Sie schrieb mir, sie sei verloren; sie könne nicht begreifen, woher Frau von ... unser Armband kenne, wie es ihr in die Hände gefallen, und vor allem, welche Wichtigkeit sie darauf lege; freilich sei sie selbst auf mancherlei Gedanken verfallen, der Buchstabe E habe ihr die Augen mehr als zur Hälfte geöffnet und ihr ein Licht gegeben, welches sie vergebens von sich abzuwenden suche; übrigens habe sie standhaft geleugnet, das Brasselett zu kennen, und da sie erfahren, daß es auf ihrer Toilette gefunden worden, habe sie behauptet, es müsse ohne ihr Vorwissen hingelegt worden sein; sie könne bei alledem nicht wissen, was diese schreckliche Geschichte für ein Ende nehmen würde; sie hüte das Bett, und müsse in dem Zustande, worin sie sich noch obenein zu befinden glaube, und da sie allem Anscheine nach das Pfand unsrer Liebe unterm Herzen trage, es als ein Glück ansehen, wenn sie nie wieder von ihrem Lager erstände.

Ihre und meine Lage war nichts weniger als erfreulich, und himmelweit von den glücklichen Augenblicken verschieden, wo wir die Kirche verließen, und den geschlossenen Bund mit den Beteuerungen einer ewigen Liebe besiegelten. Jetzt sahen wir mit anderen Augen; denn jenes Vergehen, jenes Verbrechen, welches in der Welt nur unter dem Namen einer liebenswürdigen Verirrung bekannt ist, läßt uns nicht immer sanft ruhen, und führt seine Strafe mit sich. Ich wollte verzweifeln, und doch sagte ich mir, es sei meine erste und heiligste Pflicht, Fräulein von Lorville zu retten. Dieser Gedanke rief meinen ganzen Mut zurück. Erst wollte ich alles bekennen; nur die Furcht, sie in der Gestalt einer vollendeten Lügnerin erscheinen zu lassen, hielt mich ab; denn, ich darf es nicht verhehlen, auf mich selbst hatte es einen tiefen, unangenehmen Eindruck gemacht, zu sehen, mit welcher Geistesgegenwart, oder besser zu sagen, mit welcher geübten, ausgelernten Falschheit, mit welcher Stirn sie eine so handgreifliche Wahrheit abgeleugnet und ein so lautsprechendes Zeugnis wider sie durch eine so grobe Lüge zum Schweigen gebracht hatte.

Doch Lügen sind ja das eigentümliche Departement des weiblichen Geschlechts. Die naivste, die unerfahrenste, die beste Frau, wenn es darauf ankommt, das einzige Geheimnis, welches sie bei sich behalten kann, zu bewahren, ist in dieser Kunst dem stirnlosesten Manne überlegen.

Mein Entschluß war gefaßt. Ich ging nicht zu Frau von ..., sondern zum guten Herrn Morand, der, obschon ich lange meine Leser nicht von ihm unterhalten, noch immer für mich der Alte war.

Ich hatte vorher einige Zeilen an Frau von ... geschrieben, um ihr den Verlust des Armbandes zu melden, der mir doppelt empfindlich sei, weil er gerade in eine Zeit falle, wo sie dieses Unterpfand ihrer Gunst von mir zurückfordere. Ich trieb die Unverschämtheit so weit, sie zu fragen, ob sie vielleicht mir das Armband entwendet habe, um sich an meiner Angst zu weiden. „Ist es,“ fuhr ich fort, „ein wirklicher Diebstahl oder ein bloßer Scherz? Wenigstens scheint mir das gleichzeitige Fehlen und Zurückfordern dieses Geschmeides kein Zusammentreffen zufälliger Umstände. Auf jeden Fall erfüllt mich dieser Verlust mit dem bittersten Schmerze, und ich beschwöre Sie, frei meiner Ruhe und bei meiner Ehre, mich aus der äußersten Perplexität zu ziehen, worin ich mich befinde.“

Herr Morand wurde gleich, nachdem der Brief geschrieben und abgegeben war, und er die gehörige Anweisung von mir erhalten, mit einem Billett an die Kammerfrau, die in meinem Interesse war, abgeschickt, und diese mußte auf mein Geheiß ihrer Dame vorlügen, sie habe das Armband in einem Zimmer des Hauses gefunden, es zufällig auf die Toilette des Fräuleins von Lorville gelegt, es dort liegen gelassen und vergessen, weiter davon zu sprechen. Auf diese Weise wollte ich den Verdacht einigermaßen auf Frau von ... selbst zurückfallen lassen.

Das ganze Lügengewebe war ziemlich locker und ungeschickt, hatte jedoch den besten Erfolg. Frau von ... ließ sich wahrscheinlich nicht täuschen, stellte sich jedoch als sei sie überzeugt. Alles trat in die gewöhnliche Ordnung zurück, und hätte Sophiens schönes Gesicht nicht die Spur nachdenkenden Ernstes, hätten ihre bezaubernden Züge nicht Ueberreste von Niedergeschlagenheit und Furcht getragen, so würde von diesem Ereignisse auch nicht der schwächste Schatten zurückgeblieben sein und dasselbe nur dazu gedient haben, mich bis zur Abreise der Frau von ... nach Paris, welche einige Tage später erfolgte, behutsamer zu machen.



In diesen Zeitpunkt fällt meine Bekanntschaft mit einem Schriftsteller, der nicht wenig dazu beigetragen hat, mir den Geschmack an der schönen Literatur beizubringen, und der von seiner Zeit mit einer Strenge beurteilt worden ist, welche die spätere wahrscheinlich mildern und verurteilen wird. Dieser Mann ist Dorat, dem es nur an Zweierlei gefehlt hat, um unter den ausgezeichnetsten Literaten eine Stelle einzunehmen, nämlich an weniger Witz und an weniger Leichtigkeit im Schreiben. Er besaß einen unauslöschlichen Durst nach Ruhm; er fühlte ein immer wieder auflebendes Bedürfnis, das Publikum mit sich zu beschäftigen; da er aber den richtigen Weg zur Berühmtheit verfehlte, so hatte dieses zur Folge, daß er beständig dichtete und schrieb, und nie an seinen Schriften besserte. Doch muß ich eines seiner Werke ausnehmen, das Gedicht auf die Deklamation, welches, nebst etwa zwanzig kleinen Aufsätzen und einigen Stellen seines Célibataire,*) ihm eine ehrenvolle Stelle anweist und verhindern wird, daß man ihn nach seinem Tode auf die tiefere Stufe setze, zu welcher ihn die finsteren Zoïlusse, die ihm während seines Lebens wehe getan, verdammen möchten.

Es ließe sich, was er geschrieben, in zwei bis drei Bänden zusammentragen; (Das ist geschehen. Uebers.) sie würden, bei wenigen Flecken, verdienen, in eine klassische Sammlung aufgenommen zu werden. Die Hauptursache, die ihn irreführte, die ihn verhinderte, den Gipfel des literarischen Ruhmes zu erreichen, die sein Leben mit Verdruß, mit Unglück erfüllte, die ihn vor der Zeit mit Gram und Bitterkeit in das Grab steigen ließ, – war der Umstand, daß er aus zwei Menschen, und jeder von diesen zwei Menschen nur aus einer Hälfte bestand. Er war weder ganz Weltmann noch ganz Literat. Ein ziemlich schlechter Ton, den er in sehr untergeordneten Gesellschaften, die er für die vortrefflichsten hielt, gelernt hatte (obschon er von Zeit zu Zeit wirklich in guter Gesellschaft lebte); ein unausstehliches Schillern und Flitterspiel (Papillotage) in Stil und Manier, das sich zuletzt in seine meisten Gedichte eingeschlichen und sie infiziert hat; Grimassen, die er für Grazie gehalten; unwichtige Frauengut-Geschichtchen, (Bonnes fortunes) die er in Verse gebracht; ein falsches Jargon und eine noch ungetreuere Schilderung einer Welt, die er nicht malen konnte, weil er sie nicht studiert hatte, der er aber, besonders in seinen Schriften, die Wut hatte, angehören zu wollen: Dieses alles machte aus ihm ein ziemlich seltsames Gemisch, und seine Werke zu einem überaus gefährlichen Beispiel sowohl für die Jugend in der Provinz, die sich im Leben ihm nachzubilden strebte, als für die Jugend in der Hauptstadt, die, der Dichtkunst beflissen, sich in ihn verliebte.

Hatte man aber die ersten Vorurteile besiegt, hatte man sich an ihn gewöhnt, so fand man sich angezogen und gewonnen von seiner reellen Gutmütigkeit, (Bonhomie) welche unter jenem künstlichen Firnis noch immer hervorschien; von seinem abwechselnd soliden und anmutigen Geiste, welchen alles Flittergold seiner Außenseite nicht verbergen konnte; von seiner Wissenschaft, welche weit ausgebreiteter war, als man es gewöhnlich glaubte; von einer Menge vermischter Kenntnisse aller Gattung, welche ihn zu einem lebendigen, pikanten Anekdotenschatze machten; und vor allem, von der leichten Gefälligkeit und glücklichen Natur seines Charakters, dem nichts gleichkam als die gefällige Leichtigkeit seines Verstandes und Witzes. Mit einem Worte, in Rede und Schrift, in der Gesellschaft und in seinen Gedichten, mußte man ihn abwarten, ihn aufsuchen, und man war sicher, nicht leer auszugehen. Er hat in seinem ganzen Leben vielleicht nur gegen einen einzigen Mann Haß gefühlt, dessen Geistesgaben von besserer Art, obschon nicht so glänzend waren, der seinem Vaterlande ein literarisches Ehrendenkmal (Le Cours de Littérature) errichtet hat, welches nur mit der französischen Sprache untergehen wird, der aber nichtsdestoweniger die hassenswerte Schuld auf sich geladen, gegen Dorat höchst ungerecht gewesen zu sein, ihn mit Erbitterung und Feindseligkeit verfolgt zu haben. Brauche ich diesen Mann zu nennen? (La Harpe.)

Dorat hatte unter den Mousquetaires gedient. Er war von gutem Adel, und mochte gern, daß es jedermann wisse. Er besaß Vermögen, als er in die Welt eintrat, und starb in bedrängten Umständen.

Ich habe mich etwas lange bei diesem Unglücklichen aufgehalten, und nenne ihn ausdrücklich so, weil er es sehr im Leben gewesen, und weil seinem Gedächtnisse die verdiente Ehre noch nicht widerfahren ist. Uebrigens rede ich von ihm ohne alles Interesse, denn nachdem ich eine Zeitlang vielen Umgang mit ihm gehabt, sind wir in der Folge auseinandergekommen und ich habe nur selten etwas von ihm vernommen.

Ehe ich diesen langen Abschnitt schließe, muß ich noch eins sagen. Dorat war von einem andern verdorben worden, dessen Laufbahn, ob sie schon außerordentlicher und glänzender gewesen als die seinige, kein glücklicheres Ende genommen. Dieser Andere ist der bekannte De Pezay, Verfasser von „Zelis im Bade“, vom „Rosenmädchen von Salency“, ein Mann, der sich zum Marquis gestempelt, einen andern zum Minister gemacht, und, was noch mehr sagen will, nahe daran war, selbst Minister zu werden, und nach allen diesen Abenteuern und Schicksalen, noch jung, an der zurückgetretenen Ehrsucht, an der Gelbsucht des Hoflebens, an der Wassersucht der Hoffnung elendiglich gestorben ist. Seine Geschichte ist fast so bekannt wie seine Person; ich brauche sie nicht zu wiederholen. Nur einen Zug will ich anführen, der den verstorbenen Grafen Maurepas, der mit allem, mit seiner Stelle, mit sich selbst, seinen Spott trieb, nach dem Leben malt.

Der Herzog von Manchester, nachheriger Gesandter am Versailler Hofe, machte in seiner Jugend, was die Engländer die große Reise durch Europa und die Franzosen le grand tour nennen. Er kam nach Frankreich und speiste in Paris bei dem Grafen Maurepas, dem er, als Ehrengast, zur Seite saß. Bei der Tafel fragte er den Minister: „Wer ist der Herr da, im apfelgrünen Rocke, mit der Rosaweste, mit Rosaaufschlägen und einer Silberstickerei, dort am andern Ende der Tafel?“ – Mylord! Das ist der König. – „Wie?“ – Der König, sage ich Ihnen, Mylord. – Mylord schwieg. Der Graf sprach nun mit seinem anderen Nachbar, und der Herzog war zu sehr mit englischem Stolze behaftet, um sich zum dritten Male zu einer Frage herabzulassen, welche seiner Meinung nach zweimal so widersinnig beantwortet worden war.

Nach aufgehobener Tafel trat Lord Manchester zum Minister und fragte ihn, ob er den bitteren Spott (Persiflage) verdient habe, den ihm die Frage zugezogen: Wer der Gentleman sei, der unten an gesessen, der so von sich eingenommen, so wichtig, so nachdenkend ausgesehen, und dem jetzt von allen Seiten im Saale so viele Aufmerksamkeit und Achtung bezeigt und die Kur gemacht werde? – „Mylord!“ versetzte der Graf: „Ich persifliere nie. Der Herr da ist fürs erste kein gentilhomme; (Er war bürgerlicher Abkunft.) zweitens ist der Herr da – der König. Ich wiederhole es Ihnen zum letzten Male – der König; und da Sie es mir nicht auf das Wort glauben wollen, so hören Sie meine Beweise. Er schläft**) bei meiner Cousine, der Frau von Montbarey. Diese Cousine beherrscht meine Gemahlin; meine Gemahlin macht aus mir, was ihr beliebt. Ich leite den König, wie ich will. Folglich habe ich ein Recht, Ihnen zum fünften Male zu sagen: Der Herr da ist der König.“

Dorat und De Pezay sind im Vorübergehen erwähnt worden, weil sie in die Epoche meines Lebens fallen, die ich hier abzuhandeln habe. Ich knüpfe den Faden meiner Geschichte wieder an.

Nach Sophies Abreise war mir Versailles verhaßt geworden, und doch durfte ich mich nicht gleich in Paris zeigen, um mir nicht das Ansehen zu geben, ihr nachzureisen. Ich wählte einen Zwischenaufenthalt, Le Désert, den herrlichen Landsitz und das Eigentum eines Mannes, der mir bei meinem Eingange in die große Welt eine Freundschaft gezeigt, die sich nie verleugnet und mich nie undankbar gefunden hat.

Herr von Monville hatte vom Finanzier bloß den Namen und den Reichtum; doch war sein immer noch beträchtliches Vermögen sehr zusammengeschmolzen. Er verband die höchste Eleganz der Sitten mit dem besten Lebenston. Sein Verstand, ohne von großem Umfange zu sein, war gebildet und richtig. Kurz, er war einer von den mittelmäßigen Köpfen, die alles Erforderliche besitzen, um mit den ausgezeichnetsten Männern ihrer Zeit umgehen, ihnen gefallen, und auf diese Weise Geburt und Talent ersetzen zu können. Sein Charakter war edel und bieder. Er hatte sich von der Pracht, die ihn umgab, von den Großen, in deren Nähe er sich befand, nicht anstecken lassen. Nur einen Feind trug er im Busen, die Langeweile, die ihn mitten unter seinen befriedigten Wünschen und Begierden unaufhörlich verfolgte. Sein Wesen hatte etwas Einförmiges, weil er in allen Gegenständen des Lebens die leidige Einförmigkeit des abgestumpften Genusses antraf. Seine abgespannte Gleichgültigkeit fand Vergnügen an meiner lebenslustigen Etourderie; meinem launigen Leichtsinne war seine übergroße Gefälligkeit sehr willkommen. Bisweilen geriet er in Unmut und Laune; dann sang ich ihm, so gut es gehen wollte, und immer herzlich schlecht, ein niedliches Liedchen vor, dessen Text und Musik er für ein Frauenzimmer gemacht hatte, die ihm in seiner Jugend unendlich teuer gewesen war. Es fing mit den Worten an:

Dans mon coeur agité Ramène l’espérance etc.

Ich weiß nicht, ob ich mich irre, und ob der Zauber, den dieses Lied noch jetzt für mich hat, seinen Grund bloß in der Erinnerung an die glücklichen, schnell entflohenen Zeiten hat, wo diese Töne in den schönsten Tagen meines Lebens mein Ohr ergötzten und zu meinem Herzen sprachen. Ich will zugeben, daß Text und Musik nicht vorzüglich zu nennen sind; und doch liegt in ihnen ein unaussprechlicher Reiz, der nicht tiefer mich bewegen könnte, wären die Worte von Racine und die Töne von Paësiello. Monville tat unrecht daran, der Freund des Herzogs von Orléans zu einer Zeit zu bleiben, als dessen Umgang für eine Schande galt; doch war er nicht in seine Geheimnisse eingeweiht; er machte einem Prinzen von Geblüt den Hof, dessen nähere Bekanntschaft seinem Stolze schmeichelte, dem es zwar an Genie fehlte, ein großer Bösewicht zu sein, aber nicht an dem Verstand, oder besser an der Liebenswürdigkeit eines Privatmannes. Er fuhr fort ihm anzuhängen, aus Schwachheit, vielleicht auch aus Furcht, damit der Herzog ihn schütze; denn Kurzsichtige wie er, deren Blick nicht bis auf den Grund der Revolutionen und Volksbewegungen ging, konnten sich leicht einbilden: Ein Fürst, der nach der Krone strebe,***) werde mächtig genug sein, nicht nur sein, sondern auch seiner Freunde Leben zu sichern. Wie hätten sie, die Blinden, die Richtung der Wellen dieses uferlosen Ozeans voraussehen können, welcher zugleich die Schlachtopfer und ihre Henker verschlungen hat!****)

Monville hat die Kunst und das Geheimnis besessen, sich unter allen Stürmen der Revolution aufrecht zu erhalten und in seinem Bette zu sterben. Er hat bei denen, vor welchen niemand Gnade fand, bei den französischen Sullas und Marius Gnade gefunden.5)

Es waren noch glückliche Tage, als er mich auf seinen von Natur und Kunst verschönerten Landsitz einlud, den er so uneigentlich mit dem Namen Désert belegt hatte. Ueberall herrschte Geschmack, Eleganz; überall atmete der Geist des Besitzers. Gleichwohl vermochten die Zerstreuungen des Orts, die nur seltenen Briefe des Fräuleins von Lorville, und mein Umgang mit Dorat und den Musen nicht, mein verstimmtes Gemüt zu erheitern.

Drei Wochen waren für mich, fern von allem, was ich liebte, verflossen. Länger in dieser Verbannung zu leben, war mir unmöglich. Um jeden Preis mußte ich mich in Sophiens Nähe begeben. Der Inhalt ihrer Briefe war immer bedenklicher geworden; meine Besorgnisse nahmen von Tag zu Tag zu. Sie schrieb mir: Frau von ... sei zwar in ihrem Betragen gegen sie noch immer dieselbe; aber ihr Trübsinn und ihre Traurigkeit wachse mit jeder Stunde; sie verschließe sich auf ihr Zimmer, und sehe kaum ihre vertrautesten Freunde. „Mich,“ fuhr Sophie fort: „mich macht die Gegenwart unglücklich, die Zukunft noch unglücklicher. Ich darf weder an meine Lage, noch an mein Schicksal denken; mein Zustand leidet keinen Zweifel; bald werde ich ihn nicht mehr verbergen können. Doch ich habe mich dir hingegeben; ich bin dein; du bist mir alles; mein Leben ist in dir; nur deinem Rate will ich folgen; die übrige Welt ist mir nichts, ihr Urteil mir gleichgültig. Auf Glück habe ich verzichtet; nur eine Freude kenne ich noch auf Erden, nur einen Kummer: Meine Freude, mein Kummer bist du!“

Ich eilte nach Paris.

Frau von ... empfing mich mit einer Güte, die mein Innerstes rührte. Ihr Ton war weniger zärtlich als herzlich; ihr Blick, der jetzt weniger liebkosend war, verriet noch die Sorglosigkeit einer Mutter. Sophie bemühte sich zu verbergen, was in ihrem Herzen vorging. Ihr Wesen war gezwungen, ihr Atem gepreßt, ihre Stimme zitternd; ihre Züge verrieten (man erlaube mir den Ausdruck) eine ungeschickte Scham. Das Erröten war ihr zur Gewohnheit geworden; die Rosen hatten die Lilien ihres schönen Gesichts verdrängt.

Meine heimlichen Einverständnisse im Hause setzten mich bald in den Stand, Mittel und Wege zu verabreden, jede Nacht sie besuchen zu können. Unsere Zusammenkünfte waren noch leichter als in Versailles. Nur eine Schwierigkeit mußte weggeräumt, nämlich der Schweizer gewonnen werden. Schon früher hatte ich, wie man weiß, eine der Frauen ins Vertrauen gezogen. Sie mußte mir auch dieses Mal aushelfen. Da strenge Sittlichkeit nicht eben ihre Sache war, nahm sie es auf sich, für den Gegenstand meiner nächtlichen Besuche gehalten zu werden, und opferte mir großmütig – aber nicht uneigennützig – Namen und Ruf auf.

Jetzt sproßten neue Blumen auf meinem Pfade. Sorglos und leichtsinnig schwebte ich dahin, ohne einem Plane zu folgen, als ein großes Ereignis meiner Gedankenlosigkeit plötzlich ein Ende machte. Der Frau, selbst der besten ihres Geschlechts, fehlt es nie an Schlauheit. Frauen verstehen sich besser als die klügsten Männer darauf, ihre kleinen Ränke zu spinnen, ihre Minen zu rechter Zeit springen zu lassen. Ich weiß nicht, ob man und wer uns verraten hatte. Genug, eines abends nach Tische hatte ich mich nach meiner Gewohnheit in Sophiens Gemach begeben, zu dessen Türe ich den Schlüssel hatte. Sie erwartend, rücke ich einen Armsessel an den Kamin, und lese im La Bruyère. Die Stunde, in welcher sie zu kommen pflegte, war vorüber. Mit jedem Augenblicke wuchs meine Ungeduld. Jetzt wird leise geklopft; ich öffne: Man denke sich meine Bestürzung; – Frau von ... tritt ein.

Im Grunde machte mich ihr Erscheinen mehr übellaunig als verlegen. Schon längst war mir die Verstellung ihr gegenüber lästig geworden. Schon längst war es mir zuwider und peinlich, eine demütigende Rolle vor einer Frau zu spielen, welche die Mitschuldige meiner ersten Verirrungen gewesen war. Der Zeitpunkt schien mir gekommen, wo wir die Rollen wechseln, und einer die Stellung des anderen einnehmen sollte. Sie nähert sich mit einem majestätischen Wesen. Sie will sprechen. Ich komme ihr zuvor. „Madame (rufe ich ihr im tragischen Tone zu), Sie sind wie Athalie: Sie haben sehen wollen, und haben gesehen. (J’ai voulu voir; j’ai vu. Racine.) Erlauben Sie mir aber, Ihnen zu erklären, daß ich keine Vorwürfe hören will.“ – „Sie sollen auch keine hören“, versetzte sie; „ich allein habe sie verdient.“ Diese wenigen Worte gaben ihr das gewohnte Uebergewicht wieder. – „Ich glaube aber (setzte sie gleich nachher hinzu), ich glaube einigermaßen zur Rettung des Fräuleins von Lorville berechtigt zu sein; ich glaube ferner ein Recht zu haben, Sie selbst vor der Schande zu bewahren, die von ihr auf Sie zurückfallen würde. Wissen Sie mir demnach Dank, daß ich Ihr Geheimnis entdeckte; ich habe es entdeckt, um es unverletzlich in meiner Brust zu bewahren. Vielleicht würden Sie in diesem Moment die Mittel nicht gutheißen, die ich angewandt, es mir zu verschaffen; es wird aber eine Zeit kommen, wo Sie es mir Dank wissen werden; dieses genügt mir zu meiner Rechtfertigung und zu meiner Ruhe.“ – Ich wollte eine ihrer Hände ergreifen, sie zog sie schnell zurück, und verließ mich ohne Rührung und Zorn.

Versteinert und einer Bildsäule gleich blieb ich auf der Stelle, wo sie von mir schied, wie angenagelt, bis Sophie eintrat. Ihr Zustand war nicht zu beschreiben. Der meinige ließ sich gar nicht damit vergleichen. Bleich, abgehärmt, um zehn Jahre gealtert, hatten ihre Augen keine Tränen. Sprachlos sahen wir einander an, bis erst nach geraumer Zeit ich fragen und sie antworten konnte. Jetzt aber folgten meine Fragen schnell und abgebrochen aufeinander, daß sie kaum ihre Antworten abwarteten.

Ich erfuhr von ihr, daß nach dem Abendessen Frau von ... sie in ihr Kabinett gerufen, und rund und trocken heraus die wenigen Worte zu ihr gesprochen: „Der Graf Tilly ist in diesem Augenblicke auf Ihrem Zimmer; er ist Ihr Liebhaber; Sie sind von ihm schwanger!“ Sophie sagte mir: Sie hätte versucht, einige Worte zu stammeln; es sei ihr aber unmöglich gewesen; sie sei ihrer Wohltäterin – in diesem Augenblicke ihrem strengen Richter – zu Füßen gefallen, habe ihre Knie umfassen wollen, sei zurückgestoßen worden und zu Boden gesunken. Doch wäre die erste Aufwallung der Frau von ... von kurzer Dauer gewesen, und Herzlichkeit bald an die Stelle der Härte getreten. Sophiens Fall hatte sie erschreckt; sie hatte sie aufgehoben, an ihre Brust gedrückt, die Halbtote ins Leben zurückgerufen, sie mit Liebkosungen überschüttet. „Nun von dieser Seite völlig beruhigt (fuhr Sophie fort), verließ sie mich.“ – Von Sophien war sie hierauf zu mir gekommen, mich zu überführen und zu beschämen. Von mir war sie wieder zu Sophien zurückgekehrt, hatte sich mit der Zärtlichkeit einer Mutter nach ihrem Zustande erkundigt, und sie ohne weitere Erklärung, und bloß mit dem Rate entlassen, sich unverzüglich zur Ruhe zu begeben.

Sophiens Bericht machte mich halb wahnsinnig. Ich brachte den übrigen Teil der Nacht auf ihrem Zimmer zu; Tränen der Wut wechselten mit rasenden Plänen ab. Dabei vergaß ich mich so rasch, daß ich ihr gestand, Frau von ... habe vor ihr mein Herz besessen, sei ihre Rivalin, sei meine erste Liebe gewesen. Diese unzeitige, unbesonnene Entdeckung vermehrte den Schmerz, die Verzweiflung der Armen; doch konnte ich meine Worte nicht zurücknehmen. Jetzt entschloß ich mich, an Frau von ... zu schreiben; ich schrieb und zerriß das Geschriebene wieder. Jede Zeile (mit Erröten und Scham erinnere ich mich ihres Inhalts) atmete Drohung und Rache. Endlich wurde ich ruhiger und beschloß, um eine Unterredung zu bitten; auf diese Weise hoffte ich zu erfahren, ob Frau von ... schon einen Entschluß gefaßt, und wie sie über unser Schicksal und unsere Liebe zu verfügen gedenke.

Mit Anbruch des Tages verließ ich das Hotel. Gegen elf Uhr ließ ich anfragen, ob und wann ich aufwarten dürfe. Man bestimmte die Stunde.

Ich kam, entschlossen (ich gestehe es), Frau von ... mit Vorwürfen zu überhäufen, und unbarmherzig (inhumainement) die Rechte geltend zu machen, die sie mir über sich eingeräumt hatte. Doch (und ebensosehr beeile ich mich, dieses zur Rettung meiner Ehre hinzuzusetzen) der unwürdige Plan blieb unausgeführt. Mein Vorsatz verschwand bei meinem ersten Eintreten. Ein Blick auf sie entwaffnete mich. Sie war zum Entsetzen blaß und eingefallen. Ihre matten Augen fanden den Weg zu meinem Herzen; jede Träne, die ihnen entfiel, brannte sich in dasselbe ein.

Unter anderem erinnere ich mich, daß sie auf meine Frage, was sie zu tun gedenke, zur Antwort gab: „Alles, was ich werde können; alles was Sie werden wollen.“ Sie versprach zuviel und hat nicht Wort gehalten. Es blieb für den Augenblick bei dieser Erklärung. Nach einigen gleichgültigeren Gesprächen trat Sophie ein. Ihr Gesicht war totenbleich. Frau von ... bemerkte es, legte ihr mit eigenen Händen Rot auf, bedeckte sie mit Küssen. Der Auftritt drang mir ins Herz: Ich fühlte in diesem Moment, daß mir beide fast gleich teuer waren. Frau von ... setzte bei Tische die Unterhaltung mit einer Natürlichkeit und Sanftheit fort, die mich entzückte. Sie hatte für den Abend eine Loge in der Oper bestellt und bestand darauf, so sehr ich sie um das Gegenteil ersuchte, uns hinzuführen. Wir mußten nachgeben.

Man gab die Oper Roland. (Von Quinault; Musik von Piccini.Uebers.) Alles ging ziemlich gut. Als aber die Arie kam, worin die Gefühle der verschmähten Liebe so lebhaft geschildert werden, daß selbst ein freies, uneingenommenes Herz die Töne nicht ungerührt hören kann; als man die Worte sang:

Tu sais ce que j’ai fait pour elle!
Tu connais mon amour fidèle,
Et tu vois quel en est le prix!

da warf Frau von ... einen Blick auf uns, der das tiefste Seelenleiden aussprach; da entfuhr Sophien ein Schrei des Schmerzes, der die Aufmerksamkeit der Versammlung auf uns gezogen haben würde, hätte sie sich nicht in den Hintergrund zurückgezogen. Hier sagte sie halblaut: „Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht gewußt habe.“ ... – „Grausames Kind,“ versetzte Frau von ..., sie beruhigend: „Ich glaub’ es, ich weiß es und klage nicht.“ – „Sie sehen (nahm ich das Wort), daß ich Sie nicht betrogen habe.“ – Es war für uns die höchste Zeit, die Loge zu verlassen. Wir entfernten uns schnell; ich riß beide mit mir fort.

Wir langten zu Hause an. Anfangs tiefes Schweigen. Endlich unterbrach es Frau von ... „Wir sind alle schuldig (sagte sie); ich aber bin die Schuldigste von allen. Lassen wir die Vorwürfe; vergessen wir die Vergangenheit; beschäftigen wir uns mit der Gegenwart. Erwarten Sie aber nicht, daß ich die Gefälligkeit zu weit und bis zu einer Herabwürdigung treiben, daß ich in meinem Hause die Fortsetzung eines Umgangs gestatten werde, der kein Geheimnis für mich ist, und schon mehr als einen Vertrauten hat. Ich muß Fräulein von Lorville als einen mir übertragenen Schatz betrachten, den ich schlecht bewacht habe; folglich muß ich, soviel von mir abhängt, das Uebel wieder gutzumachen, das gegebene Aergernis wegzuräumen, die Folgen zu verbergen suchen. Sophie muß sich entfernen; und da auch Sie im Begriff sind, zum Regiment abzugehen, so erleichtert Ihnen dieser Umstand das Opfer der Trennung. Ich schicke Sophien auf meine Güter; eine von meinen Frauen, auf deren Treue und Verschwiegenheit ich mich verlassen kann, wird sie begleiten und so lange um sie bleiben, bis das unglückliche Wesen, welches sie unter dem Herzen trägt, auf die Welt gekommen, und das unselige Geheimnis in die tiefste Nacht verhüllt sein wird. Uebrigens sind meine Rechte auf Sophien nur beschränkt. Auf Sie beide kommt es an, Ihr künftiges Schicksal zu bestimmen. Ueberlegen Sie beiderseits, Sie, was Sie von Sophien verlangen wollen, und Sie, Sophie, was Sie ihm gewähren können.“

Ich hatte nicht den Mut, einem Ausspruche, der der Ehre und der Vernunft so angemessen war, auch nur ein Wort entgegenzusetzen. Was Sophien betraf, so blieb der Armen keine Wahl und kein Ausweg übrig.

Es schlug drei Uhr, als wir noch in dieser peinlichen Verhandlung begriffen waren. Ich verließ das Hotel mit einem brennenden Fieber und mit Verzweiflung im Herzen. Beim Erwachen erhielt ich ein Schreiben. Es diente nicht zu meiner Beruhigung. Ich las, was folgt.

„Sie hatten uns kaum verlassen, als wir in den Wagen stiegen. Ich begleitete das Fräulein von Lorville bis zwanzig Lieues von Paris, und werde mich dann acht bis zehn Tage in D... bei meiner Freundin M... aufhalten. Empfangen Sie hier die eidliche Versicherung, daß weder Laune noch Eifersucht auf mein Verfahren den geringsten Einfluß haben. Es kommt die Zeit, wo ich es Ihnen beweisen werde. Ihr und Sophiens Glück sind mir so teuer als das meinige. Erlauben Sie mir, Ihnen einen Rat zu geben. Kehren Sie nach Versailles zurück, machen Sie der Königin Ihre Aufwartung vor Ihrer Abreise zum Regiment. Für die Zukunft habe ich Ihnen nichts zu raten. Vielleicht dürften Sie berechtigt sein, an meiner Erfahrung zu zweifeln, wenn es auf Pläne für Leben und Verhalten ankommt. Desto weniger aber dürfen Sie an meinen Wünschen für Ihr Glück zweifeln. Sie erstrecken sich gewiß auf alle Zeiten und auf alle Umstände Ihrer künftigen Laufbahn. Leben Sie wohl.“

„Nachschrift. Ich erfülle mein gegebenes Versprechen und lasse Ihnen beifolgendes Schreiben zukommen, dessen Inhalt mir völlig unbekannt ist.“

Der Einschluß war von Sophie. Er enthielt Tränen und Liebe; die Bitte, sie nicht zu vergessen und ihr Andenken im Herzen zu bewahren, wenn sie ihr Unglück und ihren Zustand nicht überleben sollte.

Mein erster Gedanke war, Postpferde zu bestellen und den Flüchtlingen nachzueilen. Im zweiten Augenblick verfiel ich in ein dumpfes Hinbrüten. Ich hätte unterliegen müssen, wäre mir die tröstende Freundschaft des Marquis von Senecterre, der sich hier als ein Bruder zeigte, nicht zu Hilfe gekommen. Er brachte mich wieder zu mir selbst. Aber man wird auch im Verfolg dieser Memoiren sehen, daß ich nicht undankbar gewesen und daß dieser Freund in der Not, wenn ich in Grenoble gewesen wäre als er starb, vielleicht noch jetzt lebte.

Paris war mir widerwärtig und verhaßt geworden. Ich ging nach Versailles. Man denke sich meinen verschlossenen Unmut! Die Wut, die in mir tobte! Das Zorngefühl gegen die Frau von ..., das in meinem Herzen kochte!

Als ich mich dem Schlosse von Versailles näherte, rief ich aus: „Wieviel Arbeit und Mühe, wieviel Gold, wieviel Schweiß hat es gekostet, dich zu erbauen! Wie schwer würde es halten, den Löwen zu zähmen, den ich in deiner Menagerie brüllen höre! Welche Aufgabe ist es jetzt, erster Minister eines Landes wie Frankreich zu sein! Wie groß sind die Pflichten, die ihm obliegen! Wie ausgebreitet müssen seine Kräfte, seine Fähigkeiten sein! Wie ungeheuer schwer ist dieses alles! – Und doch wie unendlich viel leichter, als sich von einer Frau zu trennen, die nicht von uns getrennt sein will, wieviel leichter, als Freundschaft an die Stelle der Liebe zu setzen und jene zu unterrichten, wie sie diese überleben könne!“

War ich damals gerecht oder ungerecht? Dies ist mir bis auf gegenwärtigen Augenblick nicht klar geworden. So viel nur weiß ich: damals fühlte ich einen wahren Kummer, den ersten in meinem Leben. Die Welt schien mir eine weite Einöde, keine Sophie war da, sie für mich zu beleben. (la peupler) Ich hätte ausrufen mögen, wie Antiochus: (In Racines Berenice, Akt 1, Szene 4.)

Dans l’Orient désert quel devint mon ennui!



Doch, was ist das menschliche Herz für ein närrisches Ding! Zehn Tage später ward ich Sophie untreu. Freilich war’s nur eine Untreue der Sinne, und wir Menschen sind längst übereingekommen, dergleichen für so viel als nichts zu achten. Gleichwohl verdient der Vorfall eine Stelle in diesen Memoiren und würde einen Roman – wohlverstanden einen von der freieren Klasse – nicht verunzieren. Was übrigens die von mir angeführten Umstände betrifft, so sind sie rein geschichtlich und durchaus wahr.

Ich hatte in der Restauration Au Juste mit Herrn von Rabodances etwas früher als gewöhnlich zu Abend gespeist, weil er am folgenden Morgen mit dem Frühsten nach Paris zurückreisen wollte. Nachdem wir uns getrennt, ging ich zu Fuß nach Hause. Kaum einige Schritte von der Restauration wurde ich von zwei Frauen angeredet. Die eine verließ uns, die andere blieb und lud mich, doch mit ungewisser, schüchterner Stimme ein, mit ihr zu gehen. Ich begegnete ihr nicht zum besten, wurde aber durch ein geheimnisvolles Benehmen aufmerksam gemacht. Ich hörte sie sogar lachen. Sehen konnte ich ihr Gesicht nicht, es war in Kappe und Schleier gehüllt. Aber ich betrachtete Gestalt und Wuchs, Gang und Haltung. Alles verriet, daß sie nicht zu der gemeineren Klasse gehörte. Nun lenkte ich ein, knüpfte ein Gespräch an, zog ihr den Handschuh ab und fand – oh, wie machte sich meine Neugier bezahlt, ein weiches, zartgeformtes, geschontes Händchen. Meine Entdeckungen gingen nicht weiter, nur bewies mir der Ton ihrer Stimme, daß sie nicht zu denen gehörte, die einzig und allein von ihrem Handwerk leben. – „Was soll daraus werden,“ fragte ich sie, „was willst du von mir?“ – „Ihnen folgen, Ihnen gefallen, wenn ich es vermag.“ – „Es verlohnt sich nicht der Mühe, überdies gefällt mir keine mehr!“ – „Ei! So jung und schon blasiert?“ – „Eben weil ich es nicht bin, mag ich nicht mit dir gehen.“ – „Die Wendung ist nicht übel, Sie verstehen sich aufs Ausweichen.“ – „Wie? Welche Sprache führst du da?“ – „Nun, ich spreche Französisch, sollt’ ich meinen.“ – „Jawohl, aber nicht die Sprache der Gassen. ...“ – „Wer sagt Ihnen, daß ich eine solche bin, weil man mich auf der Gasse findet? Sind Sie darum ein Kotkäfer, weil Kot an Ihren Stiefeln klebt?“ – „Auf Ehre, ich muß dir ins Gesicht sehen.“ – „Auf Ehre, das sollen Sie nicht, ich habe keine Lust, es Ihnen zu zeigen.“

Ich machte einen Versuch und legte Hand an ihren Schleier, aber sie hielt mich mit den Worten ab: „Kränken Sie mich nicht, bestehen Sie nicht darauf, mich hier zu sehen.“ – „Wo denn sonst?“ – „Ueberall, nur nicht auf offener Gasse, weil Sie doch zu glauben scheinen, daß ich mich dort herumtreibe.“ – „Willst du mit mir kommen?“ – „Wo wohnen Sie?“ – „Im Hotel Noailles.“ – „Dahin möcht’ ich nicht gern.“ – „Warum nicht? Du triffst keine Seele außer dem Kastellan, einigen Hausleuten und mir, ich habe dort nur ein Absteigequartier.“ – „Mag alles sein wie Sie sagen, und doch wag’ ich nicht ...“ – „Ich hätte dich für dreister gehalten.“ – „Ich bin’s vielleicht auch, nur nicht dreist genug ...“ – „Wohin willst du mich denn führen?“ – „In die Orangeriestraße, wenn’s Ihnen gefällig ist, mir zu folgen.“ – „Folgen? Ich folgte dir in die Hölle.“ – „Damit hat’s noch Zeit, ich bin eben nicht pressiert, vielleicht treffen wir einst dort zusammen.“

Wir machten uns auf den Weg. Sie hing sich an meinen Arm. Die Vertraulichkeit mißfiel mir. Ich dachte nach, fing an mich zu schämen, zog den Arm zurück. „Sie sind nicht galant“, sagte sie. „Sie könnten mir immer den Arm geben, ohne sich zu kompromittieren, wer sieht uns hier?“ – „Auch ist es ... das nicht,“ stammelte ich, „es kam mir nur vor, als sei es nicht nötig ... und da war’s mir bequemer ...“ – „Keine Ausflucht! Keine Entschuldigung! Setzen Sie sich meinethalben nicht in Kosten. Ich bin zu gering ... wenigstens in Ihren Augen ...“ – „Hier ist mein Arm.“ – „Danke, ich brauche ihn nicht.“ – „Du würdest mir wehe tun, wenn du ihn nicht annähmest.“ – Sie nahm ihn. „Bist du aus Versailles?“ fragte ich weiter. – „Ich bin erst seit kurzem hier.“ – „Kommst du von Paris?“ – „Nein.“ – „Woher denn?“ – „Aus der Franche-Comté.“ – „Hast du noch Eltern?“ – „Eine Mutter und einen Mann.“ – „Wo leben sie?“ – „ Sie in Paris, er weit von hier.“ – „Treibst du sonst kein Gewerbe?“ – „Seit einigen Monaten eines, das mir viel Langweil macht.“ – „Wie? Ein so lustiges Gewerbe?“ – „Es war meiner Mutter ihres.“ – „Wahrhaftig! Eine respektable Familie!“ – „Ja, das behauptet jeder, der sie kennt.“ – „Bringt das Geschäft dir viel ein?“ – „Weniger Geld als Ehre.“ – (Ich spöttisch) „Allerdings!“ – „Gewiß und wahrhaftig.“ – „Triffst du alle Abende junge Männer, die sich so leicht bereden lassen, dir ... den Arm zu geben wie ich?“ – „Ich sollte meinen, ja; ich habe die Wahl ... Allein, war es das, was Sie im Sinne hatten, als Sie nach meinem Gewerbe fragten?“ – „Was sonst?“ – „ Das also nannten Sie ein Gewerbe; nein, mein Herr, das ist nur ein Zeitvertreib.“

Ich wußte in diesem Augenblicke nicht, woran ich war und was ich von ihr denken sollte. Wir gingen weiter und gelangten endlich an die Tür des Hauses, wohin sie mich führte. Sie blieb auf der Schwelle stehen, nannte meinen Namen, und sagte: „Ehe ich Sie einlasse, mein Herr, müssen Sie mir Ihr Ehrenwort, Ihr heiligstes Ehrenwort geben, von diesem Abenteuer nie eine Silbe über Ihre Lippen kommen zu lassen, wofern Ihnen meine Züge bekannt sein sollten.“ – „Wie? Sie wissen meinen Namen?“ – „Wie Sie sehen.“ Ich verstummte. – „Nun, Ihr Ehrenwort,“ fuhr sie fort, „geben Sie es?“ – „Ja, Engel oder Teufel, ja, ich geb’ es!“

Nun klopfte sie an; man öffnete; wir traten ein.

Das Zimmer, in welches man uns führte, war einfach, aber auf eine Art und mit einer Sorgfalt (recherche) möbliert, welche Geschmack, aber auch zugleich den Gebrauch andeutete, zu welchem es bestimmt zu sein schien. Als wir allein waren, ließ sich meine Begleiterin nicht länger bitten. Sie nahm Kappe und Schleier ab und zeigte mir ein Gesicht von unbeschreiblicher Anmut, aber ein Gesicht, das ich nie vorher gesehen hatte. Ich sagte es ihr, sie schien darüber erfreut. Uebrigens konnte ich nicht begreifen, wie eine Frau mit so edlen und einnehmenden Zügen, mit einem Wesen voll Grazie und Zartheit so tief habe sinken können. Es war eine Heloïsen-Gestalt, von der man hätte glauben sollen, sie könne nur einen Abeilard lieben und ihm treu bleiben. Ich machte den Abeilard, ehe der grausame Fulbert Rache an ihm nahm. Ich machte ihn so gut, daß ich es mir vorwarf, als mich ein Gedanke an Sophie überraschte. Aber ein Blick auf den Ort, wo ich mich befand, sagte mir bald: „Du darfst hier nicht an Sophie denken!“ und es gelang mir, sie zu vergessen.

Es läßt sich unmöglich so viel Witz und Laune, ich möchte sagen, so viel Geschmack und Zauber in ein Rendezvous feinerer und wirklicher Liebe legen, als diese – wie soll ich sie nennen? – diese Flugdirne, dieser Strichvogel, in ihren „Roman einer Stunde“ zu legen verstand.

Ihr Benehmen und das ganze Abenteuer machte mich verwirrt. Noch zu jung und zu unerfahren, um es gehörig zu fassen und zu würdigen, schwebe ich in Ungewißheit und Zweifel. Ich fragte mich: „Spielt hier eine Dame die Rolle eines Freudenmädchens? Oder spielt ein Freudenmädchen die Rolle einer Dame? Steigt jene so tief herab, oder diese so hoch hinauf? Welche von beiden gibt sich hier ein fremdes Ansehen?“ Endlich blieb ich bei dem Gedanken stehen, es sei eine gebildete Frau, welche das Elend in diesen Abgrund der Verworfenheit gestürzt. Aber, dachte ich zugleich:

Ainsi que la vertu, le crime a ses degrés. (Schiller: Wie die Tugend, hat das Laster seine Grade. Racines Phädra.) Konnte sie nicht auf einer höheren Stufe stehen bleiben? Warum mußte sie so tief fallen? Verzeihlich wäre es, ihre Reize – an einen – verkauft zu haben, aber sie allen auf offener Straße feilzubieten!! Dieser Umstand empörte mich, ich machte mir die bittersten Vorwürfe, ich hätte mich selbst hassen können, der einer solchen Versuchung unterlag!

Diese Betrachtungen, die mir schnell durch den Kopf fuhren, brachten mich ebenso schnell zum Entschluß, den Ort und die Person zu verlassen. Ich hielt ihr eine Handvoll Goldstücke hin, damit sie selbst den Preis ihrer Gunstbezeigungen bestimme. Aber alles sollte nun einmal bei diesem Abenteuer außerordentlich und seltsam sein. Sie schlug die Bezahlung aus. „Behalten Sie Ihr Geld,“ sagte sie, „finden Sie sich mit der Hauswirtin ab. Mir bleibt nichts übrig, als Ihnen einen Rat zu geben, der mich vielleicht mitbetrifft, der Ihnen aber zuverlässig für jeden Augenblick Ihres Lebens nützlich und heilbringend sein wird. Lernen Sie jede erste Bewegung beherrschen, sie mag eine Folge der Ueberraschung, der Freude oder der Scham sein. Wer nicht Herr über sein Aeußeres und besonders über seine Gesichtszüge ist, verrät sich allemal in dem Moment, wo es am wichtigsten für ihn wäre, sich nicht zu entdecken. Sollten Sie diesen Abend weiter nichts gelernt haben, als dies, so dürfen Sie ihn nicht für verloren halten.“ – Diese Worte waren für mich ein Rätsel. Ich bat sie um den Schlüssel. – „Meine Worte,“ sagte sie, „bedürfen keines Aufschlusses, sie enthalten keinen verborgenen Sinn, sie sind klar und deutlich.“

Ich sah ganz aus wie ein Schulknabe, der seinem Lehrer zuhört. Ja, ich möchte nicht in Abrede stellen, daß ich nicht so ziemlich wie ein Pinsel, wie ein Stock, vor ihr gestanden. Sie reichte mir die Hand zum Kuß mit dem vollen Anstand einer Königin, schellte hierauf und ließ mir durch dieselbe Frau hinausleuchten, die uns die Türe geöffnet hatte. Ich legte Geld auf den Leuchter und fand mich nun allein, in Nachsinnen verloren, zwischen Staunen und Reue geteilt, auf der Straße im Dunkeln. –

Als ich am folgenden Morgen den Vorgang zwei oder drei erfahrenen (usagés) Freunden erzählte, wurde ich unbarmherzig von ihnen ausgelacht, so daß ich es für das beste hielt, nicht weiter davon zu sprechen.

Noch mehr; ich tat mein mögliches, die Erinnerung an eine Sache, die mich über mich selbst so ungehalten machte, zu verwischen, es lag aber (gesteh’ ich es nur!) in jenem Abend ein geheimer dunkler Reiz, der mir das Bild des Geschehenen beständig ins Gedächtnis zurückrief. Vor allem waren mir die letzten Worte der Unbekannten gegenwärtig, obschon ich Sinn und Meinung nicht ergründen konnte. Der Rat, mein Äußeres in meine Gewalt zu bekommen – ein Rat, dessen Aufschluß man weiter unten finden wird – führte mich auf eine Betrachtung, die ich hier mitteilen muß. Wie ungerecht (sagte ich mir) sind Urteile, die sich auf den Anschein gründen? Wie großes Unrecht tut man fast allgemein, wenn man z.B. jemanden für schuldig hält, oder ihn einer Anklage, eines Verdachts schon deshalb für überwiesen glaubt, weil er errötet!

Es sei mir erlaubt, mich selbst hier als Beispiel aufzustellen. Obschon ich für nichts weniger als schüchtern und als leicht aus der Fassung zu bringen gelte, habe ich mich doch nie davon zurückhalten können, in gewissen vorkommenden Fällen nicht zu erröten, sei es, wenn man mir geradezu etwas zum Vorwurf machte, was ich geredet oder getan haben sollte, oder auch, wenn ich nur erfuhr, daß man mir etwas dergleichen – selbst das Allerungereimteste – andichtete. Ja, ich bin überzeugt, beschuldigte man mich, den König von Schweden auf dem Opernball in Stockholm ermordet zu haben, es würde mir unmöglich fallen, mich der jedesmaligen Verwirrung und des Errötens zu erwehren, so oft ich diese lächerliche Anklage wiederholen hörte.

Diese Stimmung hängt mit der Lebhaftigkeit und Hitze des Blutes zusammen und von dem zarten Bau und der leichten Erregbarkeit der Organe ab. Sie ist keineswegs die Folge unserer moralischen Gemütsbeschaffenheit, sondern bloß der physischen Anlage, der mechanischen Zusammensetzung unseres Wesens. Zugleich aber ist sie ein großes Unglück für den, der damit behaftet ist. Denn wie oft tritt der Fall ein, daß man nach zweifelhaften Anzeichen dieser Art nicht nur beurteilt, sondern sogar verurteilt wird! Ja, wie oft ist es mir selbst begegnet, mich auf ungünstigen, vorgefaßten Meinungen zu ertappen, gegen welche, wenn ich nur meine Vernunft zu Rate gezogen, ich mehr als irgend jemand Ursache gehabt hätte, auf meiner Hut zu sein!

*) Ein Schauspiel, von welchem La Harpe sagt: Il y a quelques scènes assez bien versifiées; mais l’Auteur manque absolument son sujet. Il eut assez peu de bon sens pour donner le rôle du Célibataire à un jeune homme livré à ses plaisirs; cette combinaison vicieuse détruit tout le comique que pouvait avoir l’ouvrage. Uebers.

**) Im Originale: il couche. Hierzu macht der Verfasser die Bemerkung: „Ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich die eigentlichen Worte des Premierministers wiederhole, um der Erzählung nichts von ihrer Energie, dem Texte nichts von seiner Derbheit zu rauben. Der Graf glaubte, bei einem Engländer dürfe er vom guten Tone abweichen. Ich habe übrigens die Anekdote vom General Clairfayt, welcher zugegen war.“

***) Ich spreche dieses der damaligen herrschenden Volksmeinung nach. Für meine Person bin ich fest überzeugt (und komme vielleicht wieder auf diesen Gegenstand zurück), daß der Herzog von Orléans nie mit voller Ueberlegung nach einer Krone gestrebt hat, die nicht für ihn gemacht war. Auch die Leiter der Revolution dachten nicht daran, sie ihm aufzusetzen; höchstens Mirabeau ein paar Wochen lang. Doch ließ er bald den Gedanken fahren; er hatte zuviel Takt, um nicht einzusehen: mit einem Manne wie Orléans sei nichts anzufangen. Verf.

****) Selbst nach Robespierres Tod war es unmöglich, diesen Feuerozean, dessen Quelle ein Vulkan und dessen Lava Blut waren, zu löschen. Es bedurfte dazu einer Vorsehung und der Sendung eines Mannes, der trotz aller Divergenz der Meinungen als der Wohltäter der Menschheit angesehen werden muß. Nach der Revolution des achtzehnten Thermidor ruhte das terroristische Beil nur; es war nicht zerbrochen. Ohne die Revolution von Saint Cloud wäre die Wut des Terrorismus nur vertagt worden; und – nach dem Ausdrucke eines unserer Schriftsteller – es würde das letzte französische Opfer unter den Händen des letzten französischen Henkers gefallen sein.† Verf. † (Diese Stelle ist offenbar vor dem Jahre 1803 und vor der blutigen Ermordung des Herzogs von Enghien geschrieben, die der Stirne Bonapartes das Brandmal der Verwerfung aufgedrückt hat. Uebers.!!)

5) Ich erzeige diesen Ungeheuern, Robespierre und seinen Helfershelfern, dieser Schande des französischen Namens und der Menschheit, zuviel Ehre, wenn ich sie mit Marius und Sulla vergleiche. Jene Römer hatten große Eigenschaften und große Talente; nur befleckten sie dieselben mit Mordlust und Blut. Deswegen und weil sie proskribierten, nenne ich sie hier; auch deswegen, weil die Blutmenschen in Frankreich sich auf sie, als auf Muster beriefen, denen sie nicht folgen, sondern voreilen müßten. Ein zweiter Augustus, Bonaparte, ist erstanden. Er hat den Abgrund zugeschüttet, der soviel unschuldige Opfer und Leichname verschlang. Ein zweiter Augustus ist erstanden, nicht aber – wie jener – seinen Ruhm durch Proskriptionen befleckend, sondern groß und siegreich im Felde, noch größer und siegreicher durch die Wiederherstellung der politischen Ordnung in Frankreich. Ein zweiter Augustus, hat er, in das Rad der Revolution eingreifend, der Anarchie ein Ende gemacht und die erschütterten Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens von neuem befestigt.



Der Zeitpunkt war gekommen, wo ich Versailles verlassen und mich in meine Garnison und zum Regiment begeben sollte. Der Graf von M... stellte mich dem damaligen Kriegsminister, Prinzen von Montbarrey, zur Beurlaubung vor. Der Prinz lud mich zur Tafel. Im Speisesaal fand ich beim Eintritt fünf Damen, von welchen ich aber nur drei kannte. Herr von Moreton Chabrillant übernahm es, mich den zwei andern vorzustellen. Jeder Versuch, den Zustand zu schildern, worin mich der Anblick einer derselben versetzte, wäre vergeblich. Ich fühlte mich in einen Zustand von Geisteszerrüttung versetzt, als meine Augen auf Gesichtszüge fielen, die mir so frisch im Andenken, so gegenwärtig waren. Und doch hätte ich mich selbst für einen Tollhäusler halten müssen, wenn ich auch nur einen Augenblick es gewagt hätte, mir einzubilden, daß jene und diese eine und dieselbe Person sei. Ich suchte meine Bestürzung so gut zu verbergen als möglich und auf diese Weise den ersten Schritt zur Befolgung des Rates zu tun, den ich vor so kurzer Zeit erhalten hatte. Gleichwohl konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ab und zu nach dem Gesicht, der Taille, den Armen und Händen zu schielen, welche jetzt mit Ringen und Geschmeide bedeckt waren, von denen früher nichts zu sehen gewesen war. Und nun vollends der Ton der Stimme! Kurz, ich war erschüttert – war, was eigentlich ihr hätte begegnen sollen, außer Fassung. Sie hingegen, ruhig wie der Priester am Altar, fand bald Gelegenheit, ihre Lebensgeschichte von ihrer Geburt an Leuten vorzuerzählen, die fast so gut davon unterrichtet waren als sie selbst – bloß und augenscheinlich, damit ich erführe, wer sie sei. Sie tat dies alles in wenigen Minuten, in wenigen Worten, unbefangen, mit unbemerkbarer Kunst und ohne allen Schein von Affektion.

Ich erfuhr auf diese Weise, daß sie in ihrem achtzehnten Jahre mit einem Manne vermählt worden, mit welchem sie wenig gelebt; daß sie, nach einem dreijährigen Aufenthalt in der Provinz, wieder nach Paris zu ihrer Mutter gekommen, welche im Palast Luxemburg wohne; daß diese Mutter eine Hofstelle bekleidet und vor kurzem die Erlaubnis erhalten habe, sie ihrer Tochter zu überlassen, und daß diese sie seit einiger Zeit wirklich angetreten.

Ich hörte kaum, was sie sagte, und wäre, hätte man eine Frage an mich gerichtet, nicht imstande gewesen, sie zu beantworten, so groß war meine Verwirrung. Bei Tafel hatte die Gesellschaft die Güte, zu bemerken, daß ich ein artiger junger Mensch sei, bescheiden und von angenehmer Haltung. Man hätte ebensogut hinzusetzen können: der junge Herr sei überaus mäßig im Essen und Trinken, denn ich rührte keinen Bissen an.

Nach aufgehobener Tafel wagte ich es, die Dame anzureden. Sie antwortete mit einem zerstreuten, gleichgültigen Wesen: Ja! Nein! und dergleichen einzelne Silben. Das verdroß mich; ich fand es sogar unartig (impertinente) und verfiel nun wieder auf die Vermutung, daß ich mich geirrt haben müsse. Als ich sie aber einen Augenblick nachher wieder ansah, machte sie eine Bewegung mit dem Kopfe, als winke sie mir Ja! zu. Doch war ich tausend Meilen davon entfernt, in diesem Wink eine Antwort auf eine Frage zu finden, die ich nur mit den Augen an sie gerichtet hatte. Sie war scharfsinniger als ich und hatte meinen Blick gemerkt und verstanden, denn während einige von der Gesellschaft eine schöne Wanduhr betrachteten, die der Minister eben gekauft hatte, und das Werk lobten, stand sie mit einer Bewegung auf, welche zugleich Unruhe und Ungeduld verriet, trat an die Uhr unter dem Vorwand, sie näher und genauer zu besehen, legte den Finger auf die Ziffer X und warf zugleich auf mich einen Blick, dessen Schnelligkeit ihn für jeden andern unmerklich und unverständlich machen mußte. Einige Minuten später, im Gespräch mit der Gräfin Blot begriffen, erhob sie auf einmal die Stimme, und sprach laut und deutlich die Worte: „Es war in der Orangeriestraße“, nahm dann wieder den gewöhnlichen Ton an, bis sie ganz zuletzt ihn wieder erhöhte, um das Wort morgen mit Nachdruck auszusprechen.

Wie hätte ich noch glauben können, mich geirrt und alles nur geträumt zu haben? Die Wirklichkeit war zu augenfällig.

Man wird mir’s zutrauen, daß ich bei einem Rendezvous, das mir so deutlich, so fein gegeben worden, pünktlich war. Ich fand mich Schlag zehn Uhr in der Orangeriestraße ein und man ließ mich nicht warten. Meine erste Bewegung war, die Bestellerin an mein Herz zu drücken; der zweiten, sie von mir zu stoßen, mußte ich mit Gewalt widerstehen. Sie hing sich an meinen Arm und zog mich schweigend mit sich fort. Ich wollte sprechen, ich wollte fragen ... Keine Antwort. So kamen wir endlich an das Haus, in das Zimmer. Hier stellte sie sich verwundert und fragte: „Durch welch Ungefähr finden wir uns wieder zusammen? Was für Reden haben Sie unterwegs geführt? Kein Wort habe ich verstanden.“ – „Wie? Haben wir nicht gestern mittag zusammen gespeist?“ – „Sie mit mir?“ – „Nun ja, beim Prinzen Montbarrey. Sie sind doch die Gräfin De...?“ – „Was für ein Märchen der Tausendundeine Nacht wärmen Sie da auf! Ich glaube, Sie sind fieberkrank.“ – „Nichts weniger! Treten Sie ein wenig näher ... Ja, Sie sind’s ... Zweimal lasse ich mich nicht täuschen ... Aber, ist es möglich? ... Sie ... doch ja, ganz gewiß ... wahr, zu wahr! ... Sie sind’s, Sie sind’s.“ – „Immer besser, immer besser! Wissen Sie was? Sie machen sich höchst lächerlich. Oder soll Sie vielleicht Ihre Einbildungskraft exaltieren? Ein gutes Mittel! Wohl bekomm’s!“ –“Wie meinen Sie das?“ – „Gehen Sie, Sie sind nicht gescheit!“

Das einzige, was in diesem Augenblick der Verwirrung klar vor mir stand, war – was ich zu tun hatte. Ich schritt zum wesentlichen und bemerkte mit Vergnügen, daß die Dame nicht ohne Teilnahme blieb.



Ich muß den Leser um Verzeihung bitten, wenn ich hier in denselben Fehler verfallen bin, den ich an so vielen Schriftstellern tadle und verdamme, die seit einem halben Jahrhundert die Welt mit Romanen überschwemmt haben, worin zugleich Sittenlosigkeit und ein schlechter Ton herrschten. Diesen Ton hielten sie in ihrer Verblendung für den guten, führten ihn in die niedern Klassen ihrer Leser ein, verpflanzten ihn in die Provinzen und ins Ausland, wo er fast von allen angenommen worden ist, welche, durch Anlage und Erziehung für die sogenannte gute Gesellschaft bestimmt, infolge der Umstände nicht dazu gekommen sind, in dieselbe aufgenommen zu werden. – Was mich aber betrifft, so blieb mir hier keine Wahl. Ich schreibe die Wahrheit, und da ich sie nicht ganz verbergen darf, so hülle ich sie wenigstens in den dichtesten Schleier ein, den ich finden kann. Was überdies an jenen Herren den meisten Tadel verdient, ist nicht so sehr die Unanständigkeit der Schilderungen (ich rede nicht von den vorsätzlichen groben Wollustbildnern), als die Absicht oder vielmehr die Albernheit, vorspiegeln und überreden zu wollen, daß geheime Laster der großen Welt öffentliche Sitten der großen Welt sind; daß sittenlose Gespräche, im Innern der Boudoirs geführt, auch im Gesellschaftszimmer gehalten werden; daß junge Herren und Damen von Welt Laffen (freluquets) und Schnattergänse (cailletes) sind, welche den bizarrsten und ungeziemendsten Jargon zu ihrer Umgangssprache machen, daß endlich die Schule der feinen Hofsitte in Frankreich zu einer Marktschreierbude ausgeartet ist, in welcher man mit süßkandierten Zoten, mit grobem Witz, mit elegantem Unsinn um sich wirft. Denn das sind ungefähr die Züge, welche vom Pinsel jener Herren entworfen werden, wenn sie die Sitten der großen Welt schildern wollen. Solche Gemälde, in welchen sich der ekelhafteste Ungeschmack zeigt, verdienen weit mehr Tadel, als isolierte Skizzen einzelner geheimen Immoralitäten und einer Libertinage, die für kein Wunder, ja nicht einmal für etwas Seltenes und Neues in einem Jahrhundert gilt, das gewohnt ist, dergleichen ohne Scham und Erröten anzuhören und den Verfassern solcher Skizzen weder ein Verdienst noch einen Vorwurf daraus zu machen.



Doch, ehe ich mich wieder in das Zimmer einschließe, aus welchem ich jenen Abstecher gemacht, sei mir noch eine zweite Abschweifung vergönnt. Sie betrifft ein paar Schriftsteller meiner Zeit, die Herren Dorat und Marmontel. Ich habe beide, und besonders den ersten, sehr genau gekannt. Beide haben eine Galerie und eine Schule von Phantasiestücken angelegt und eine Menge von Zöglingen irregeführt und verdorben. Sie selbst hatten in Crebillon dem Jüngern – der weniger Talent besaß als sie beide, und namentlich als Marmontel – ihr Vorbild, den Erfinder der Lügenromane, den Vater des erbärmlichen Jargons, welchen er sie sprechen läßt, gefunden. Und nun vollends das Heer ihrer Nachahmer und Nachtreter! Was läßt sich von diesen sagen? Heißt es nicht Europa (Späterer Zusatz des Verfassers.: Europa hat jetzt mehr zu tun.) einen Dienst leisten, wenn man jenen beiden Schriftstellern einen Glanz abstreift, welchen sie so abgeschmackten Mitteln verdanken? Man kann der Lesewelt über dieses Scheinverdienst sonst so wertvoller Männer nicht schnell genug die Augen öffnen und somit dem Schaden entgegenarbeiten, den sie unter den jungen Leuten, die ihnen nachäffen, angerichtet haben.

Bei allen ihren Fehlern waren jene Männer gleichwohl ihrer Sprache mächtig und schrieben Französisch. Wenn der treffliche Literat Marmontel sich irgendwo verleiten läßt, einen seiner Helden bei einer großen Abendtafel sagen zu lassen: „Il n’est bruit dans le monde, que de l’arrangement plein de raison que tu as fait avec ta femme: il passe pour constant qu’elle a repris le chevalier, et toi la petite marquise; on assure que vous êtes convenus de ne vous chicaner sur rien“, so können dergleichen Phrasen nur junge, unerfahrene Neulinge irreführen, welche, wenn sie einst die Ehre haben sollten, zu großen Soupers zugelassen zu werden, ihren Irrtum bald einsehen würden. Sagt der Verfasser weiter: „et qu’elle te passe la rhubarbe, pour que tu lui passes le sené“, so kann höchstens ein Apotheker aus der Provinz über den abgedroschenen Gemeinspruch lachen und sich wundern, wie seine Spezies in so gute Gesellschaft gelangen. Dennoch sind, wie ich schon gesagt, Redensarten wie diese und ein Stil wie dieser, bei aller Abgeschmacktheit und Lächerlichkeit, gutes reines Französisch, die Worte sind sprachgerecht und allgemein verständlich.

Was aber in aller Welt hat dir, mächtige Gottheit des französischen Parnasses, die schöne Sprache eines Bossuet, eines Fénélon, Pascal, Montesquieu, Buffon, Voltaire, Corneille, Racine usw. zuleide getan, um sie so schändlich verhunzen zu lassen?

Ich schlage die Schriften der neueren auf und lese: des yeux vaporeux et veloutés, des robes vaporeuses, des goûts vaporeux,*) des coeurs calcinés d’amour, des lèvres ambroisiées, des roses d’amour tamisées, des larmes délirantes. Ein anderer spricht von Fingern parfilés par l’amour, von perfidies délicieusement traitées, von einem crâne sentimental, von einem roué pâli sous les rideaux de nos élégantes, von dem privilége que nous autres grands avons d’être de charmans tapageurs, von der vibration des cordes retentissantes du coeur, von einer tendresse filtrée dans le sang.

Ein anderer läßt den Marquis an den Chevalier schreiben: tu es dans tes domaines où tu te rouilles; ta végétation, loin de nos brillantes coteries, est un attentat monstrueux et dérogatoire à nos lois etc. etc.

Die Feder versagt mir den Dienst zum Abschreiben solcher läppischen Ungereimtheiten in einer französisch-irokesischen Sprache. Dabei ist es in der Tat zu bedauern, daß neben dergleichen abgeschmacktem Zeuge man auf Seiten echten Witzes, ausgebildeten Verstandes stößt, und daß der, welcher sie schrieb, nicht immer so schreibt, wie er es könnte, wenn er nur immer von Dingen spräche, die er versteht, und den guten Mustern, dem Anstande und den Grundsätzen der Sprache treu bliebe.

Ce moderne naturel dont on fait vanité,
Sort du bon naturel et de la vérité;
Des mots vides de sens, affectation pure,
Et ce n’est point ainsi que parle la nature**)

Es ist ebenso offenkundig als unvermeidlich, daß unsere Sprache, nachdem sie den Wendepunkt der Vollkommenheit erreicht hat, ausarten, unverständlich werden und von der mit so vieler Mühe erreichten Höhe herabsinken muß, auf welche ihre Klarheit, ihre Eleganz und die Meisterwerke unserer Literatur sie in ganz Europa erhoben hatten. Ja, ich bin fest überzeugt: käme der größte Redner unter den neueren, käme Bossuet wieder, träte er unter uns, und ihm würde dafür, daß er den großen Fénélon verfolgt hat, die Buße auferlegt, einen der modernen Herren Schriftsteller zu lesen, er würde offenherzig bekennen, daß er ihn nicht immer und nicht ganz verstehe. Vielleicht kommt es noch mit der Zeit dahin, daß man Professoren und Ausleger bestellen wird, um die Sprache der neuen Schule zu erklären und zu erläutern.

Doch ich kehre ins Rendezvouszimmer zurück.

Alles in der Welt nimmt ein Ende. Ich mußte mich von der Sirene trennen, die mich verführt hatte. Vor dem Abschiede sagte sie mir ohne Umschweif und Vorrede und mit zerstreutem, gleichgültigem Wesen: „Ich war mit Ihrer ersten Gemütsbewegung, als wir uns bei Herrn von Montbarrey trafen, nicht zufrieden. Nicht, daß ich Ihre Verlegenheit nicht entschuldigt hätte, wären Sie nur besonnen genug gewesen, sie schnell zu überwinden. So aber fehlte wenig daran, daß Ihre Verwirrung auch mich angesteckt und außer Fassung gebracht hätte. Mit einem Verstande, wie er Ihnen zuteil geworden, kann man sich unmöglich linkischer benehmen, als Sie es getan.“ – „So geben Madame doch endlich zu, daß Sie jene Person waren?“ – „Wie Sie sehen.“ – „Erlauben Sie mir eine Frage. Das erstemal, als wir zusammentrafen, war es von ohngefähr oder wußten Sie, wo ich anzutreffen sei ... und suchten Sie mich?“ – „Ich suchte mein Vergnügen.“***) – „Mit wem wollten Sie es teilen?“ – „Mit dem ersten Besten, der mir aufstoßen und mir gefallen würde.“ (Lupa sum, et lupa permanere volo. Verf.) – „Großer Gott!“ rief ich hier aus, denn ich konnte den Abscheu nicht unterdrücken, der sich meiner bemeisterte. Sie bemerkte es. „Wahrhaftig,“ sagte sie mit ruhiger Unbefangenheit, „ist es nicht spaßhaft und lächerlich? Ihr Männer erlaubt euch alles, haltet euch alles für erlaubt, uns aber untersagt ihr alles, und laßt uns kaum noch ein Mittel übrig, unsere verlorenen Rechte wiederzugewinnen, nämlich: dasjenige heimlich zu tun, was ihr so stolz seid, öffentlich tun zu dürfen.“ – „Aber auf diesem Wege werden Sie ...“ – „Untergehen, mich unglücklich machen? Nicht wahr? Nichts weniger als das. Halbe Fehltritte bringen uns um Ehre und Ruf. Extreme tun es äußerst selten. Und warum? Weil die Welt nicht an Extreme glaubt. Oder denken Sie etwa, daß ich bin wie Sie, und daß es mir ganz und gar an Gewandtheit fehle? Nun, junger Herr, munter! Sehen Sie nicht so albern, so zerknirscht aus! Stehen Sie nicht genau da, wie eine junge Klosterpensionärin? Wissen Sie wohl, daß, wenn Sie Ihre großmächtigen Grundsätze ablegen könnten, Sie ein sehr wünschenswerter Liebhaber sein würden? Jetzt aber, und von nun an, da Sie mich kennen, fühle ich mich Ihrer nicht mehr würdig! Begegnen wir uns wieder in Gesellschaften, so verspreche ich Ihnen, Sie für weiter nichts als ein hübsches, schüchternes Mädchen in Mannskleidern zu halten; Sie hingegen werden mir hoffentlich die Achtung bezeigen, die Sie einer Frau von festem Charakter, einer Frau schuldig sind, die zwar ein wenig in das andere Geschlecht eingreift, dabei aber nie öffentlich den Anstand aus den Augen setzen wird, der die Hauptzierde des ihrigen ist.“ –

Ich stand da, stumm, versteinert, wie eine Bildsäule. Sie umarmte mich. Ihre Logik überzeugte mich nicht; aber ihre Liebkosungen überwältigten meine Sinne, trotz meiner Vernunft, durch einen Zauber, dem ich keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochte.

„Ach!“ rief ich endlich mit einem Seufzer aus. „Wie strafbar bin ich! Ich liebe eine andere!“ – „Oh, geschwind! Erzählen Sie! Sagen Sie mir, wen?“ – „Wofür müßten Sie mich halten, wenn ich es täte? Hätten Sie nicht Grund, zu fürchten, daß ich einer Dritten ebenso wenig verschweigen würde, was hier vorgegangen ist?“ – „Sie haben recht und unrecht zugleich. Der Fall ist nicht derselbe. Ihre Liebe hat einen achtungswerten Gegenstand, dem es zur Ehre gereichen würde, genannt zu werden. Mein Abenteuer mit Ihnen dagegen würde mir Schande bringen, wenn Sie es ausplauderten; es sinkt zu tief unter die Grenze des Schicklichen hinab.“ – „Also haben Sie doch ein Gewissen, und fühlen Reue?“ – „Freilich. Deswegen suche ich mich zu verbergen, gerade wie ich mich nicht sehen lassen würde, wenn ich Lust hätte, mich auf meinem Zimmer in Champagner zu betrinken. Eines ist nicht ärger als das andere: nur der Skandal, das gegebene Aergernis ist ein großes Uebel. Lächerlichkeiten und Torheiten sind im Grunde längst an der permanenten Tagesordnung der Welt, und man hat alles getan, wenn man nur auf den guten Schein ernstlich bedacht ist.“ – „Hilf Himmel! Wo haben Sie das alles her? Aus welcher Quelle haben Sie diese Grundsätze geschöpft?“ – „Aus den Quellen meines Nachdenkens und meines Herzens.“ – „So kann ich Ihnen zu den Resultaten nicht Glück wünschen.“ – „Adieu (indem sie mir mit der Hand über die Augen fuhr), vergessen Sie einen großen Teil des Geschehenen. Aber erinnern Sie sich auch ein wenig meiner.“ – „Es steht nicht in meiner Macht, es nicht zu tun.“ – „Soll ich Ihnen für diese Antwort danken?“ – „Halten Sie es damit, wie Sie wollen.“ – „Gute Nacht ... Nur noch eines: ich muß Ihnen zu guter Letzt die Versicherung mit auf den Weg geben, daß ich, nach dem, was vorgefallen ist, etwas für Sie fühle, was wie ein Tropfen dem andern der Freundschaft gleicht.“ – „Und ich ein Gefühl der Dankbarkeit, denn, alles genau betrachtet, Dank bin ich Ihnen schuldig. Adieu.“ – „Adieu.“

Sollte die Anekdote wie eine Fabel oder die Schilderung übertrieben scheinen, so müßte ich mir den Vorwurf gefallen lassen und dürfte nicht darüber klagen. Nur würde ich dem Ungläubigen offenherzig gestehen, daß ich lange Zeit Anstand genommen, sie in meine Memoiren aufzunehmen, in welchen sich, wie ich solches auf meine Ehre versichere, keine Zeile, kein Wort finden soll, wodurch die Wahrheit verletzt wird, es müßte denn hie und da durch die unfreiwillige Schuld eines Gedächtnisfehlers geschehen. Ich würde ferner hinzusetzen, daß Frankreich nicht der einzige Schauplatz solcher ärgerlichen Auftritte ist, und daß einem fremden General, mit welchem ich genau bekannt geworden, und dessen Glaubwürdigkeit über jeden Zweifel erhaben ist, dasselbe Abenteuer (nur mit einigen anderen Nebenumständen) mit einer der bedeutendsten Damen in einer der ersten Hauptstädte Europas begegnet ist. Was beweist dies aber? Daß es in allen Klassen sehr verderbte Frauen gibt, sowie es zu allen Zeiten und in allen Ländern sehr tugendhafte gegeben hat, daß aber auch überall diejenigen Frauen, welche zu den höheren Klassen der Gesellschaft gehören, wenigstens im Aeußeren, sich mit aller Dezenz und Würde ihres Standes in Worten und Handlungen benehmen, daß sie, ihre Neigungen und Sitten mögen noch so entartet sein, von Seiten der Männer von Erziehung und Bildung ebenso viel äußere Zeichen der Achtung verdienen, als die Tugendhaftesten ihres Geschlechts; daß sie, weil sie Tugenden heucheln, auf den Schein der Verehrung Anspruch machen können, und daß nur Männer und Frauen, die sich von den Formen, welche die Welt in öffentlichen Reden und Handlungen eingeführt hat, entfernen, von der Welt ein strenges Gericht zu erwarten haben.

Ich muß noch, um die Ehre der Dame einigermaßen wiederherzustellen, insofern dieses nach dem, was man von ihr gelesen, möglich ist, hinzusetzen, daß ich sie nach mehreren Jahren wiedersah. Sie hatte damals ein zärtliches Verhältnis mit einem Manne, der zwar sehr bekannt, aber nichts weniger als liebenswürdig war. Er zeigte für sie, die so wenig Geschmack in dieser Wahl und Liebschaft bewies, eine so grenzenlose Leidenschaft, und sie eine so unverbrüchliche Treue gegen ihn, daß man hätte schwören sollen, er sei ihre erste Liebe gewesen. Wenigstens mußte er der erste gewesen sein, der den Weg zu ihrem Herzen gefunden. Ich erinnere mich, mit beiden zu Brüssel einen der langweiligsten Abende meines Lebens zugebracht zu haben, obschon sie eine Frau von vielem Verstande war, und es ihr an keiner Gattung desselben fehlte. Aber ach! Das verliebte Taubenpaar girrte so zärtlich, und führte ein so mattes Schäferstück vor mir auf, daß mir von den Süßigkeiten, die sie einander vorsagten, nur das Süßliche (fade) zuteil ward, und sie nicht zu bemerken schienen, daß ein Dritter als Zeuge zugegen war, Madame hatte Versailles und ihre Abendfahrt rein vergessen.

Das moralische System des Menschen ist wie dessen physische Organisation beschaffen. Beide sind Krankheiten unterworfen, von denen sich’s genesen läßt.

Ich konnte Paris und Versailles mit einer so finsteren, unfreundlichen Garnison wie Falaise nicht vertauschen, ohne das Gefühl zahlreicher Rückerinnerungen an mein verflossenes Jugendleben mit dahin zu nehmen. Als ich mich bei der Königin beurlaubte, versicherte sie mich ihres Schutzes, den sie mir aber nicht immer gewährt hat, und ihres Wohlwollens, welches sie mir in der Folge entzog. Doch damals, wie sie mir beides zu versprechen geruhte, war sie zuverlässig gesonnen, mir beides zu erhalten. Sie hatte vor ein paar Tagen einen Auftritt gehabt, der sie noch in dieser Stunde tief bewegte, und zugleich zum Beweise dienen kann, wie leicht es ihr bei ihrem guten Herzen geworden wäre, hätte sie nur bessere Ratgeber und bessere Umgebungen gehabt, sich die Liebe einer Nation zu erwerben, von welcher sie so sehr wünschte, geliebt zu werden. Diese Liebe wünschen, hieß ja schon sie verdienen. Sie fragte mich nämlich, ob ich das letztemal, als sie in Paris die Oper besuchte, auch dagewesen wäre? (Es war erst vor zwei bis drei Tagen geschehen.) – „Ja, Ihre Majestät.“ – „Warum“, fuhr sie fort, „bin ich so kalt empfangen worden?“ – „Kalt? Ich habe es nicht gemerkt.“ – „Sagen Sie das nicht. Sie müssen es bemerkt haben; es war gar zu auffallend... Uebrigens, denke ich, desto schlimmer für die Pariser (le peuple de Paris) ... meine Schuld ist es nicht.“ – Bei diesen Worten liefen ein paar Tränen die Wangen herab. – „Ihre Majestät legen zuviel Gewicht auf etwas, woran vielleicht der bloße Zufall schuld ist. Ueberdies, wenn die Königin mir erlaubt, es zu sagen, sollte sie auf dem erhabenen Standpunkt, wo sie steht, sich nur über das Gute betrüben, was nicht durch sie geschieht, und über das Böse, was sie nicht verhindern kann.“ – „Worte, Worte (des phrases), schöne Worte im Munde eines jungen Etourdi wie Sie; aber wenn man sich, wie ich, nichts vorzuwerfen hat, tut ein solches Verhalten wehe, sehr wehe!“

Wie weit war ich, als ich sie damals verließ, entfernt, mir einzubilden, daß jene schwachen Blitze Vorläufer des Wetterstrahls waren, der den Thron in den Staub schmettern sollte, dessen Besitz die Königin für die höchste Gunstbezeugung der Glücksgöttin gehalten hatte!

Am Morgen darauf reiste ich mit schwerem Herzen ab. Auch mir (wie tags vorher, der Königin) standen die Augen voller Tränen. Ich bemerkte hier im Vorbeigehen, daß ich fast nie Paris verlassen habe, oder nach längerer Abwesenheit dahin zurückgekommen bin, ohne im ersten Fall einen lebhaften Schmerz, im zweiten eine heftige Bewegung, eine tiefe Rührung zu empfinden. Trug ich vielleicht schon, wie unbewußt, die traurige Ahnung in mir, daß ich es einst, gezwungen, in den schönsten Jahren meines Lebens würde verlassen, und, sozusagen, aufhören müssen, Franzose zu sein, ohne es verdient zu haben, diesen schönen Namen zu verlieren? – Daß ich ihn verlieren würde, um Feinden zu entgehen, welche, aus dem Staube sich erhebend und mächtig geworden, unter der Larve des Patriotismus Rache an Höheren und Besseren zu nehmen entbrannten? Ahnte ich es vielleicht schon, daß ich in fremden Ländern umherirren, bald eine edle Gastfreundschaft finden,****) bald ein Opfer der Vorurteile werden, Kränkungen aller Art und eine Geringschätzung würde erdulden müssen,

qu’à l’abri du danger,
L’orgueilleux citoyen prodigue à l’etranger.

während die gütige Natur mein Los an ein so teures und so ausgezeichnetes Vaterland knüpfte, das ich nie aufgehört habe, im Herzen meines Herzens zu tragen?5)

E instinto di natura l’amor del patrio nido.

*) Wer sollte denken, daß ein und dasselbe Beiwort so vielen unter sich fremdartigen Dingen angepaßt werden könne? Welcher Mißbrauch! Vielmehr, welche Tollheit! Verf.

**)Nachgeahmt vom Misanthrope de Molièrs.
Ce style figuré dont on fait vanité,
Sort du bon caractère et de la vérité;
Ce n’est que jeux de mots, qu’affectation pure,
Et ce n’est point ainsi que parle la nature. Uebers.

***) Ueber dieses Gespräch – die Folge eines Abenteuers, welches zu rechtfertigen ich keineswegs auf mich nehme – begnüge ich mich zu bemerken: es ist wenigstens in reinem Französisch geschrieben und fand unter vier Augen statt. Aber ungereimt würde es sein, mit unseren neuen Romanschreibern behaupten zu wollen, daß Gespräche dieser Art je in Gesellschaftszimmern oder bei großen Soupers geführt worden sind. (Verf.)

****) Vor allem in Preußen, wo, wie in Sachsen, die französischen Flüchtlinge den edelsten Schutz und eine ungestörte Ruhe genossen haben. Verf.

5) Unter allen Uebeln (sagt ein alter Schriftsteller) ist in meinen Augen das größte, wenn man nicht in sein Vaterland zurückkehren darf, und derjenige, welcher daraus verbannt, seines Vermögens und des Bodens beraubt ist, auf welchem er geboren ward, ein zweiter Atlas, den die Last des Himmels erdrückt. Verf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band