Drittes Kapitel. Eine Frau von sechsunddreißig Jahren; ein Jüngling von sechzehn. — Erster Funken dieser Flamme. — Vorläufige Einleitung. — Porträt der Dame.

Antwort einer berühmten Frau. — Fernere Entwicklung unserer Liebe. — Demoiselle Lescaut, Schauspielerin in Versailles. — Mein Glück bei ihr. — Der Ragengouverneur übt Strenge. — Mein Oheim setzt ihn in Furcht. — Ich setze meine Besuche bei Frau von... (der 36 jährigen Dame) fort. — Halbe Liebeserklärung. — Ungewißheit. — Der Ludwigsritter und seine Nichte. — Porträt beider. — La Bruyere angeführt. — Literarischer Streit zwischen dem Offizier und mir. — Geschichte des Offiziers. — Die Nichte (Sophie) macht Eindruck auf mich. — Verstellung. — Mangel an Erfahrung. — Billett der Frau von... — Zweideutiger Inhalt. — Mein Roman rückt nicht weiter. — Ein paar Worte über die Romanschilderungen. — Ich stelle mich krank. — Unruhe der Frau von... — Mein Sieg. — Heimliche Zusammenkünfte.

Wenn eine Frau von sechsunddreißig Jahren, von vielem Verstande und dabei noch schön, einem jungen, sechzehnjährigen Etourdi ihr Herz und ihre Liebe schenkt, so ist es nicht anders möglich, sie muß, von einem geheimen Zauber besiegt, zu ihm hingezogen worden sein. Nur durch den Verrat ihrer Sinne angezogen oder von einem innern Instinkte überwältigt, kann sie das Glück ihres Lebens und den größten Schatz desselben, ihren bisherigen Ruf, in die Hände des Leichtsinnes dahingeben.


Die Verschiedenheit und Ungleichheit der Jahre, die Notwendigkeit, auf mehr als halbem Wege entgegenzukommen, alles sollte sie zurückhalten und abschrecken. Nur dadurch, daß sie ihrer Leidenschaft immer mehr Gewalt einräumt, bis sie ganz von ihr hingerissen wird, nur durch einen heimlichen, ihr selbst entgehenden Zug, der sich nicht messen und berechnen läßt, kann eine Frau von Ehre zu einem Falle dieser Art kommen, der aber alsdann auch desto tiefer und reißender ist, je höher sie stand.

Ein ganzes Jahr war vergangen, und noch hatte ich einer Dame nicht aufgewartet, die, aus einer von Le Mans nur wenig entfernten Provinz gebürtig, mir kaum mehr als dem Namen nach bekannt war und jetzt ein Hofamt bekleidete; – als sie mir sagen ließ, sie komme von ihren Gütern und habe einer ihrer Bekannten, die sich für mich interessiere, versprochen, mich zu sehen. Auch diese letztere will ich nicht nennen; ihr Name würde selbst jetzt noch gar zu deutlich dahin führen, diejenige kenntlich zu machen, von der dieses Kapitel handelt. Sie ist zwar tot, aber ihr Andenken lebt in meinem Herzen, und ich muß es ehren.

Ich begab mich zu ihr. Sie setzte mich mit wenigen Worten in Kenntnis des Auftrages, den sie erhalten hatte; bezeigte mir, erst in allgemeinen Ausdrücken, eigenes Interesse für mich, tat dann verschiedene Fragen, welche diesen Anteil näher zu erkennen gaben, und als sie einige Blicke auffing, die ich auf ihre Reize warf (denn sie war wirklich schön und eben bei der Toilette), schien sie einen Augenblick verwirrt und teilte mir dadurch die ganze Aufregung mit, die ich in ihr erweckt hatte und sie nur mit Mühe verbergen konnte. Sie schalt ihre Frauen und entließ sie endlich nach einer für mich ewigen Toilette von – zwanzig Minuten.

Ich fühlte, als wir allein waren, daß ich errötete. Dieses Gefühl trieb noch mehr Blut in meine Wangen. Ich fand mich glücklich, da zu sein – und doch hätte ich mich gern weit weg gewünscht. Es war eine tiefe Stille eingetreten, die ich mir nicht recht zu erklären wußte, und die ich nicht unterbrochen hätte, hätte es mir auch das Leben gekostet. Endlich knüpfte sie den Faden der Unterredung wieder an; es waren aber nur abgebrochene Worte. Nach langer, sichtbarer Anstrengung sagte sie endlich mit Lebhaftigkeit: „Sie sind außerordentlich gewachsen, seit ich Sie gesehen habe; Sie haben ausnehmend gewonnen ... Sie werden ein schöner Mann werden ... Ihre Stimme hat einen überaus angenehmen Klang ... Man hat mir Ihren Verstand gelobt ... Ich bin überzeugt, Sie haben ein gutes Herz. Beherrschen Sie nur Ihre Leidenschaften. Mit dem Namen, den Sie führen, werden Sie zu allem gelangen und Ihr Haus auf die alte Höhe heben.“

Was sie mir damals sagte, wiederhole ich hier ohne Eitelkeit. Dreiundzwanzig Jahre, welche seitdem verflossen sind, (Dies ist 1804 geschrieben.) und Jahrhunderte, welche in diesen dreiundzwanzig Jahren über Frankreich dahingeflogen, machen diese Rückerinnerung für mich zu einem lieblichen Traume, der aber im Augenblicke des Erwachens kaum eine Spur zurückläßt.

Ich bemerke hier ein für allemal, daß ich eine Geschichte schreibe, deren einziger Schmuck die Wahrheit ist. Da nun die Wahrheit aus einzelnen Zügen besteht, die sich zu einem Ganzen bilden, so kann und darf ich diese nicht weglassen. (Dies diene auch dem Übersetzer zur Entschuldigung.) Ich erkläre ferner, daß ich mir und dem, was ich von mir zu sagen habe, so wenig Wichtigkeit beilege, daß die Eitelkeit hier nicht im geringsten im Spiele ist. Ich halte sie in diesem Augenblicke für die seichteste und nichtigste von allen Leidenschaften, für ein Gefühl, dem ich längst und für immer mein Herz verschlossen habe.

So viel ein für allemal, und um mir jede Wiederholung zu ersparen.

Ich dankte der Dame, ohne mich schüchtern und linkisch dabei zu benehmen, aber doch mit einer Art von Verschämtheit, wodurch die Gefahr vermehrt wurde, die sie bei mir lief; – gerade als hätte ich es gefühlt, daß sie für mich etwas empfinde, da ich es doch nur undeutlich ahnte, weil es nicht zu dem Begriffe paßte, den ich mir von ihrer Tugend gemacht hatte. Dieses Halbgefühl drückten ihr meine Augen aus; sie verstand die Sprache und ihre Verwirrung nahm zu. Ein Besuch, der eben eintrat, gab mir Gelegenheit, mich zu entfernen. Ich benutzte sie, und atmete freier. Sie ebenfalls. Sie hat es mir nachher gestanden, und mir – nichts Neues entdeckt.

Die Dame, von welcher die Rede ist, war in jeder Hinsicht eine Frau von vieler Bedeutung. Sie hatte einen Mann gehabt, der ihrer auf keine Weise wert war, der nichts für sich hatte, als seinen Titel, einen ziemlich wurmstichigen Ruf, und ein großes Vermögen, welches aber mehr Schulden als Eigentum zählte. Das ihrige mußte ihm wieder aufhelfen; aber was noch schätzenswerter ist, sie deckte mit der Achtung, die man ihr zollte, die Fehler eines Mannes zu, den sie nicht liebte, und blieb ihm getreu, trotz dem doppelten Grunde, der sie zum Gegenteil hätte verleiten können, nämlich der Nichtliebe für ihn und der Anbetung von so vielen. Er hinterließ sie bald als Witwe, und nun widerstand sie allen Liebhabern, allen Erklärungen, allen Bewerbern. Man kann nicht hinzusetzen: allen Bestürmungen; denn es hielt schwer, dergleichen bei ihr zu wagen. Niemand, selbst nicht der eingebildetste Geck, der unerschrockenste Eigendünkler, durfte diesen Weg einschlagen. Sie war auf einen Punkt gelangt, wo der Ruf einer Frau fest steht, wo sie die größten Gefahren bestanden und überstanden hat. Männer, die sich für Glücksritter in der Liebe (Hommes à bonnes fortunes.) halten und ausgeben oder es wirklich sind, nehmen es selten mit einer geprüften, feuerfesten Tugend auf, und fürchten sich, ihre Eitelkeit an einer Klippe zu versuchen, an welcher schon so mancher gescheitert ist. Für eine solche Frau gibt es weiter keine Gefahren zu besorgen als von seiten der anziehenden, kunstlosen Unschuld, oder des raschen Angriffs eines unwiderstehlichen Verführers.

Ich entsinne mich, einst eine durch ihre Reize berühmte Frau gefragt zu haben, wie es gekommen, daß sie sich einem Manne hingegeben, von dem ich wußte, sie liebe ihn nicht, und der auch wirklich ihrer Liebe unwürdig war. Nach langem Leugnen sagte sie mir endlich: „Ich lebte in einer Art von Abgeschiedenheit des Herzens: Er war da, ich war da; ich sah ihn täglich, und sah fast niemanden sonst.“ – Von allen Antworten, die mir Verachtung eingeflößt haben, ist diese eine der ersten. Ich würde es lieber gesehen haben, wenn sie mir geradezu gestanden hätte: „Ich hatte Sinne!“ Aber jene Art von Selbstentsagung, von Verzicht auf Ehre (denn hierin besteht die Ehre der Frauen, und es wird einmal wieder dahin kommen ! – ), jene Gefühllosigkeit des Herzens, jene apathische Hingabe der köstlichsten aller Gunstbezeigungen, die Verschenkung seines Wesens an einen Mann, an dem man nicht einmal Gefallen findet; dieses – (und sollte man mich auch im Verdacht haben, daß ich aus dem Monde oder aus der Unterwelt komme; sollte mich auch alles auslachen, was in der Mode den Ton angibt!) – dieses erkläre ich für eine Monstrosität, die der äußersten Ahndung wert ist, für ein Verbrechen, welches die Person, die es begeht, auf die niedrigste Stufe der Niederträchtigkeit in der Schöpfung herabsetzt. Die Frau, welche sich im äußersten Elende verkauft, hat wenigstens eine Entschuldigung: sie bettelt mit ihren Reizen um ein Almosen. Ich bedaure sie. Derjenigen, welche von ihrem Temperamente fortgerissen wird, schenke ich meine ganze Nachsicht; – in den argen Tagen meiner Jugend würde ich gesagt haben, meine ganze Achtung.




Einige Tage nach diesem Besuche begegnete mir jemand, dem Frau von ... genau bekannt war. Ich erkundigte mich näher nach ihr und suchte in meine Fragen so wenig Ungeschick als möglich zu legen, um mich nicht zu verraten. Vor allem brannte ich vor Begierde, zu erfahren, ob sie Liebhaber gehabt. Die Antwort war: „nicht einmal in der Einbildung der Leute; sie ist über allen Verdacht erhaben; selbst Männer, welche sich die Verleumdung zum Berufe machen und niemanden verschonen, – selbst Frauen, die, um sich in ein besseres Licht zu stellen, den guten Namen anderer anschwärzen, – haben es nie gewagt, den ihrigen anzutasten. Sie hat dabei mehr zu kämpfen gehabt als viele; denn sie ist mit einer tiefen Empfindlichkeit begabt; aber ihre Tugend, die sich anfangs auf Grundsätze stützte, ist ihr mit der Zeit zur Gewohnheit geworden.“

Wohl, sagte ich zu mir, als ich wieder allein war, du kannst frei atmen; eine törichte Eigenliebe hatte dich getäuscht; du hast nichts zu hoffen, nichts zu fürchten.

Ich ging wieder zu ihr, vollkommen belehrt, und legte in meine Haltung mehr Sicherheit und Ruhe.

Mit ihr war es anders; sie schien verloren zu haben, was ich gewonnen; sie verwirrte sich das zweitemal, wie das erste; war verlegen; kam mir blässer vor; ein Anstrich, ein Schatten von Trübsinn bedeckte ihr interessantes Gesicht; es schien sie habe gelitten; ... sie sah unzufrieden mit sich aus; sie legte mehr Sanftheit in ihre Stimme.

Nach einer schläfrigen Unterhaltung über Versailles, über die Königin, über Madame Adélaïde, über meine Kunstübungen und Studien, über den heranrückenden Zeitpunkt meines Eintritts in die Welt, bat sie mich, sie zu verlassen; sie habe etwas Notwendiges zu schreiben, das sie morgen selbst in Bellevue *) abgeben müsse.

Kaum war ich auf freier Straße, als ich mir das Wort gab, so bald nicht wieder ihr Haus zu betreten. „In welche Schlingen läßt uns die Eitelkeit fallen!“ rief ich mir zu.

*) Bellevue, zwischen Versailles und Paris, an der Seine, war der Sitz von Mesdames, Schwestern Ludwigs XV.)




Es befand sich damals beim Versailler Theater eine junge, liebenswürdige, einschmeichelnde Schauspielerin, Mlle. Lescaut; sie sang ziemlich gut nach der damaligen Manier; ihre Stimme war schön, ihr Gesicht reizend. Späterhin hat sie bei der Oper in Paris gestanden, und ist in der Blüte ihrer Jahre, aber zu rechter Zeit, gestorben, denn sie war ungeheuer stark geworden und zu einer Masse angewachsen, die sie verunstaltete. Als ich sie kennen lernte, besaß sie alles, was zur Liebe einladen kann.

Sie hatte eine stocktaube Mutter, die aber nichts weniger als blind war. Die Dame war schön gewesen, hatte alle Liebhaberkünste und Streiche aus dem Grunde gelernt, und wußte an den Fingern herzuzählen, wie man Vormünder, Mütter und Aufseherinnen sowohl auf den Brettern als in dem wirklichen Leben hinters Licht führe. Ihr war der tollste Plan von der Welt durch den Kopf gefahren. Sie wollte ihre Tochter unter die Haube bringen oder wenigstens sie nur dem überlassen, der ihr einen soliden Glückstand für das ganze Leben versichern könnte. In beiden Beziehungen war ich nicht der Mann nach ihrem Herzen, wohl aber nach dem Herzen des Töchterleins; und mir fällt dabei die Antwort eines jungen Mädchens ein, die soeben das Kloster verlassen und einen Liebhaber gefunden hatte. Dieser fragte: „wie haben wir es anzufangen, uns zu lieben? Die Mutter steht uns überall im Wege.“ – Sie erwiderte: „ IhreSache ist, mir zu gefallen; für das übrige werde ich sorgen.(Plaisez-moi assez, et ne vous inquiétez pas du reste.)

Ebenso ging es hier. Mademoiselle Lescaut fing an, mir Rendezvous am Fenster zu geben, welche für zufällig galten. Die Mutter war im Zimmer, nahm keinen Anteil an der Unterredung, schoß aber bald verdrießliche, bald grimmige Blicke auf die beiden Verliebten. Bald wurde ich (wohlverstanden, von der Tochter) ins Haus geladen. Ich fand die junge Person gewöhnlich am Klavier, sich mit ihrer wunderschönen Stimme begleitend, stellte mich dann hinter ihren Stuhl, zischelte ihr Liebes-Erklärungen zu, zuweilen untermischt von lautem Bravo, oder setzte mich neben sie, und drückte ihr Knie, während ich mir das Ansehen gab, den Takt zu schlagen, richtig oder unrichtig, was schadet’s?

Bis dahin war meine Weise klar, meine Mittel rein, meine Liebe der Vernunft untergeordnet; aber unser weiblicher Argus wollte unserer Tugend und Unschuld nicht recht trauen. Sie gab (so muß ich es glauben) dem furchtbaren Gouverneur einen Wink. Dieser Cerberus hatte längst einen Haß auf mich geworfen, ließ mich aber seit geraumer Zeit, höheren Winken zufolge, in Ruhe, und fand sich dazu auch bewogen durch die bestimmten Erklärungen eines meiner Oheime, welcher, wohl wissend, daß er mir aufsässig war, weil ich boshaft genug gewesen, mich über seinen Orden vor dem Verdienst lustig zu machen, – ihm geradezu die Versicherung gegeben hatte, sie würden Händel miteinander bekommen.

Desto erwünschter kam ihm diese Veranlassung. Ich bekam schimpflichen Arrest, weil es hieß, ich brächte meine ganze Zeit bei Schauspielerinnen zu, und suchte „diejenigen zu verführen, welche von der engen Bahn der Tugend nicht abweichen wollten.“

Nach Verlauf einiger Tage setzte man mich in Freiheit. Mit pochendem Herzen begab ich mich auf das Schloß, beruhigte mich aber, als ich die Königin bei meinem Anblick ein Lächeln unterdrücken sah.




Tags darauf erhielt ich von der Frau von ... eine Einladung auf sieben Uhr abends. Ich fand sie allein; sie empfing mich mit Kälte, und dieses Mal ohne die geringste Verlegenheit. Sie erklärte mir beim Eingange, meine Aufführung sei nichts weniger als erbaulich; ich würde meine Familie dadurch kränken; Schauspielerinnen, selbst die vorzüglichsten, wären nie eine nur halbgute Gesellschaft; sie rate mir, wenn ich je das Bedürfnis einer Neigung, oder die Notwendigkeit einer zärtlichen Verbindung in mir spürte, meinen Gegenstand besser zu wählen, mich an eine Frau von Ehre, Gefühl und Ansehen zu halten, deren Haus eine Schule von gutem Ton, von gutem Geschmack, von guter Sitte für mich sein würde. – Sie setzte nicht hinzu: „ Ich will diese Frau sein“, aber der Ton ihrer bewegten Stimme gab es mir deutlich zu erkennen. Für mich war es, als habe sie die Worte gesprochen. Ich warf mich ihr zu Füßen. Meine Handlung überraschte sie; sie hieß mich aufstehen, beschwor mich... Ich beteuerte ihr, sie habe ein ewiges Recht auf meine Erkenntlichkeit; ich wolle sie von nun an als die zärtlichste Schwester ansehen, als einen Schutzengel, als die Gottheit selbst, die mich besser und zartgesinnter ... die mich zu allem machen werde, was sie aus mir zu machen wünschen würde. Ich huldigte ihr mit einem Herzen, das nur für sie schlug. Meine Hände befanden sich, ich weiß nicht, wie? in den ihrigen, die sie, ohne sie zurückzuziehen, mit meinen Küssen bedecken, mit meinen Tränen benetzen ließ. Sie war außer sich, zitterte wie ein Espenlaub, und es ist buchstäblich wahr, daß die Schminke sich von ihren Wangen löste.

Ich lag noch immer auf den Knieen. Ganz außer sich flehte sie, ich möchte aufstehen. „Wenn jemand von meinen Leuten einträte“, rief sie aus; ... aber, als fürchte sie, zuviel gesagt zu haben, setzte sie hinzu: „so unschuldig auch Ihre Absicht und Ihre Wünsche sind, darf ich mich der Gefahr der Verleumdung nicht aussetzen. Kommen Sie Montag etwas früher; wir wollen von Ihren Aussichten ... von Ihnen selbst ... miteinander sprechen, und ich werde glauben, mich mit mir zu beschäftigen.“

Es waren einige Personen zum Abendessen eingeladen; ich entfernte mich, als der Kreis um die Dame größer wurde.

Ich hatte eine höchst unruhige Nacht. Die Zeit bis zum Montage schien mir eine Ewigkeit. Endlich schlug die Stunde. Ich eilte zu ihr und sie empfing mich mit den Worten: „Speisen Sie mit mir zu Abend; ich werde nur zwei Gäste haben, welche spät kommen und früh gehen.“ Man denke sich mein Entzücken; doch behielt sie mich nur unter der Bedingung, ins Pagenhaus zu schicken und die Erlaubnis für mich auszuwirken. Sie erhielt sie, und ich blieb.

Frau von ..., ganz ihrer mächtig, sprach nun mit mir von der Notwendigkeit, meine Erziehung zu vollenden, von meiner Verpflichtung, an dieser Vollendung zu arbeiten, wenn ich meinen Dienst antreten würde. Sie legte mir einen Studienplan vor, den ich auch größtenteils in den drei bis vier Jahren befolgt habe, die ich zu meiner Geistesentwicklung brauchte; kurz, sie unterhielt sich die ganze Zeit mit mir, wie eine liebreiche, zärtliche, einsichtsvolle Mutter mit ihrem folgsamen Sohne.

Nach acht Uhr traten zwei Personen in das Zimmer. Sie gehörten einigermaßen zum Hause. Ich will sie schildern. Die eine war ein Kapitän, der das Ludwigskreuz trug, und fünfzig Jahre alt sein mochte. Seine Gestalt war noch immer edel und schön, obschon sichtbarlich im Abnehmen. Ohne eben krank auszusehen, hatte er das Aeußere eines Menschen, in dem keine Lebenskraft ist. Er schien es zu wissen, und sich’s wenig kümmern zu lassen. Das Feuer seiner Augen war erloschen, seine Stimme schwach und hohl; man sah es ihm an, daß nicht das Alter, sondern Mühseligkeiten, Beschwerden und Unglück ihn vor der Zeit gebeugt hatten. Ohne den besten Ton zu haben, hatte er keinen schlechten; was er sagte, war einfach und gedrängt, und seine Manieren, keineswegs kriechend, ließen den demütigen Mann erkennen, der in der großen Welt gelebt hatte, ohne zu derselben gehört zu haben. Nur bisweilen drückte er sich auf eine für die gute Gesellschaft zu bestimmte Art aus.

Die junge Person, die ihn begleitete, war seine Nichte, eine hübsche zwanzigjährige Blondine, von der Natur mit tausend Reizen begabt, die tiefern Eindruck machen als Schönheit. Ihr Gesicht war nicht regelmäßig, (correct) aber es herrschte, wenn ich so sagen darf, zwischen ihren blauen Augen und ihren weißen Zähnen eine Verwandtschaft, (Alliance) welche, so oft sie lächelte, ihr alle Herzen gewann. Sie hatte eine Nymphengestalt, die Frische der Rosen, einen weichen biegsamen Wuchs, eine Stimme, eindringend und verführerisch wie ihr Gang, und einen der größten Reize des schönen Geschlechts, – unvergleichliche Arme und Hände. Bald hätte ich eine, wenigstens in meinen Augen, Haupteigenschaft vergessen, eine schmachtende Blässe. Ich will nicht behaupten, daß ein Maler sie für eine streng-vollkommene Schönheit gehalten haben würde; so viel aber ist außer Zweifel, kein gefühlvoller Mann von gesunden Augen und gesundem Verstande würde den Wunsch unterdrückt haben: „Wäre sie dein!“

Sie war schüchtern, aber nicht ohne Anstand, und begabt mit einer natürlichen Grazie, die keine Kunst lehrt.

Wie mich dünkt, ist es La Bruyère, welcher gesagt hat: „Personen, die sich immer einander ansehen, und Personen, die sich nie ansehen, stehen im nämlichen Verdachte, einander nicht gleichgültig zu sein.“ Wir beide sahen uns anfangs mehrere Male an, dann aber hoben wir den ganzen übrigen Abend die Augen nicht mehr gegeneinander auf.

Ich werde es nie vergessen, daß der Oheim, ich weiß nicht mehr, durch welchen Übergang, das Gespräch auf Zemire und Azor brachte; er behauptete, dieses Stück sei sehr rührend. Ich wandte ein, Zaïre oder Andromaque wären es in einem weit höheren Grade; er aber, ohne sich überzeugen zu lassen, blieb dabei, es sei in der Welt nichts interessanter, als die Häßlichkeit, wenn sie durch den Zauber der Sanftmut und Güte über den Abscheu siegt, den ihr Anblick erregt. Bei diesem Satz blieb er, doch ohne sich im geringsten zu ereifern. Dann schwieg er lange, und erst bei Tische sagte er: der Herzog von Vendôme sei ein größerer Feldherr gewesen, als der Marschall Turenne. Ich war in unserer Kriegsgeschichte bewandert genug, um diese Behauptung bestreiten zu können; er aber, ganz ruhig einen Hühnerflügel zerlegend, wiederholte seinen Satz, und versicherte zugleich: er habe nie etwas so Delikates gegessen. Beim Aufstehen sprach er davon, daß er sich entfernen würde, und erwiderte den Blick seiner Nichte, welcher deutlich zu fragen schien: „Schon?“ mit den rauhen Worten: „Ja, Fräulein!“ Wie war ich ihm in diesem Augenblicke gram! Gleichwohl gönnte er uns, auf der Frau von ... Bitte, noch einige Minuten, und benutzte sie zu der Behauptung: „Europa sei in der Aufklärung weit hinter China zurück.“ Jetzt hatte ich alle Mühe, mich zu halten; ich war im Begriffe, ihn nach Peking zu schicken, aber ich dachte an die Nichte, die ihn dahin hätte begleiten müssen, und verschluckte meine Worte. Nur ein lautes Lachen konnte ich nicht unterdrücken. Er schien es nicht zu bemerken, grüßte mich mit einer tiefen Verbeugung, freute sich über die Ehre, meine Bekanntschaft gemacht zu haben, sprach diese paar Worte mit kalter Feierlichkeit aus, und brach mit seiner Nichte lauf.

„Nun,“ sagte Frau von ..., als wir allein waren, „was sagen Sie?“ – Mit aller Falschheit, deren ich fähig war, erwiderte ich: Ich sage: Die junge Nichte ist so so, nicht wohl, nicht übel; aber dem Oheim oft zu begegnen, der mit Paradoxen um sich wirft, sie kalt wiederholt und dem Widerspruche Schweigen entgegensetzt, würde für mich unerträglich sein. – „Die junge Person ist also nicht wohl, nicht übel? Sie ist nur so so? Das tut mir leid. Ihr Urteil beweist mir, daß es Ihnen an Geschmack oder an Aufrichtigkeit fehlt ... Ein andermal werden Sie sie wohl genauer betrachten.“ – Ich nahm meine Zuflucht zu einer bekannten Schmeichelei, um meine Verlegenheit zu verbergen: Wer kann eine andere ansehen, wo Sie gegenwärtig sind? – „Wohl,“ sagte sie, „aber wie haben Sie sich mit dem Oheim benommen? Ich habe Sie reden lassen und geschwiegen; mit Ihren ersten beiden Antworten war ich so ziemlich zufrieden, aber die dritte war nichts weniger als schicklich. Laut auflachen, die Achseln zucken, ist nicht höflich und heißt nicht antworten.“ – Aber, Madame!*) sagte ich, etwas aus der Fassung gebracht, hat man je solche ungereimte Behauptungen gehört? – „Desto leichter war es, sie zu widerlegen. Lassen Sie es sich sagen, mein junger Freund! Dem Alter und Unglück Achtung bezeigen, ist besser, als recht haben wollen und heißt eigentlich recht haben. So wissen Sie denn, daß Herr von Lorville (so mag er künftig hier heißen) auf meine Bitte seine Paradoxen aufgestellt hat, um Ihre Kenntnisse, Ihren Verstand und Ihre Geduld zu prüfen. Er wird sich einen besseren Begriff von jenen gemacht haben, als von dieser. Uebrigens glauben Sie ja nicht, daß der Mann ohne alles Verdienst sei; er hat in Indien gedient, hat Europa durchreist, ist gebildet, wissenschaftlich gebildet. Er machte früher eine stattliche Person, hat seit zehn Jahren auf den Gütern meiner Schwägerin gelebt und schickte sich an, wie er mir gesagt, nach Montpellier zu reisen, wohin ihn die Aerzte schicken, um eine nicht wieder herzustellende Gesundheit zu bessern und dort – zu sterben. Wie Sie wissen, ist meine Schwägerin kein Muster einer tadellosen und ganz achtungswerten Frau. Er bereut es, ihr die letzten Jahre seines Lebens geopfert zu haben, und weiß nicht, wo er eine Nichte zurücklassen soll, die er liebt und die kein Vermögen besitzt. Ich habe mich erboten sie zu mir zu nehmen und werde sie behalten, bis sich eine gute Partie für sie findet. Auf ihren Oheim, der nächstens abreist und den sie allem Anschein nach nie wiedersehen wird, darf sie nicht rechnen.“

Ich hörte diese Auseinandersetzung mit einer geheimen unstäten Unruhe an, die ich mir selbst nicht zu erklären wußte. So viel sah ich wohl ein, daß ich künftig oft Gelegenheit haben würde, die hübsche junge Person zu sehen und daß ich sie mit der Zeit auch lieben würde. Das machte mir Vergnügen. Zugleich aber fühlte ich, daß ich bereits angefangen hatte, eine andere zu lieben; daß ich folglich mein Herz nicht ganz zurücknehmen könne; das machte mir Kummer. Endlich dachte ich, ohne jedoch bei diesem Gedanken stehen zu bleiben und mich darin zu vertiefen: „Vielleicht kannst du sie beide zugleich lieben.“ Das war für mich eine süße Qual, ein innerer Kampf, der mein Herz zerriß, als ich wieder allein und zu Hause war. – Doch ich bin ja noch bei Frau von ..., und lasse sie weiter reden.

„Wie kommt es,“ fragte sie mich, „daß Sie in ein so plötzliches tiefes Hinbrüten verfallen sind?“ – Ich dachte (erwiderte ich, mich sammelnd und zu einer Lüge meine Zuflucht nehmend), ich dachte daran, daß Sie mit mir von allem sprechen, außer von sich, und daß Sie mich von der Geschichte anderer unterhalten, anstatt mich mit Ihrer Güte zu beglücken. Jene sind mir ganz gleichgültig. – „Wohl; nichts weiter davon, es ist spät; einer meiner Leute wird Sie begleiten. Gute Nacht! Schlafen Sie wohl und ruhig ... Denken Sie ein wenig an mich – setzte sie errötend hinzu – das ist nicht mehr als billig, da ich oft, nur zu oft, an Sie denke.“ Sie schellte, ein Kammerdiener trat ein und ich ging.

Es wird mehr als einen Leser geben, der über mein linkisches unbeholfenes Wesen ungeduldig geworden sein wird. Haben aber alle Anfänger, sie mögen debütieren, wo sie wollen, nicht ein Recht auf Schonung und Nachsicht?

Am folgenden Abende stellte mir, beim Eintreten in das Schauspielhaus, ein Mann von unscheinbarem Ansehen und Anzuge, ein Briefchen folgenden Inhalts zu und verschwand.

„Versailles, 5 Uhr morgens.“

„Gestern abend bin ich mit Ihnen nicht zufrieden gewesen. Das sicherste Mittel, zu gefallen, ist die Natürlichkeit; bei jungen Männern ist sie die gefährlichste Verführungsweise. Das Gesuchte und Vorbereitete erreicht seinen Zweck nicht; was vollends in Falschheit (Perfidie) ausartet, entfremdet auf immer ein Herz. ... Vielleicht irre ich mich. Ist dieses der Fall, so sei mein Irrtum meine Strafe. ... Habe ich aber recht, so sind Sie es nicht wert, daß ich mich näher erkläre. ... Doch, was tue ich jetzt? ... Bin ich nicht eine Törin? Diese Zeilen? ... an Sie? ... Aber quälen Sie sich nicht damit, strengen Sie Ihren Kopf nicht an, in das Billet einen Sinn zu bringen, oder ihn gar erraten zu wollen. Was ich hier schreibe, ist ein Rätsel, Sie können es nicht entziffern, so hoffe ich wenigstens, oder vielmehr so muß es sein. – Bringen Sie mir dies Blatt zurück, so unbedeutend es auch ist, so würde ich doch sehr unglücklich sein, wenn es einem anderen als Ihnen, in die Hände fiele. Man würde vielleicht ein anderes Interesse argwöhnen als das ganz einfache, welches ich hineinlege. Ich will, mein junger Freund, daß Sie an meine vollkommene Freundschaft glauben, aber ich will nicht, daß Gleichgültige dieses Geständnis kommentieren oder Mißbrauch damit treiben.“

„Nachschrift. Donnerstag gegen fünf Uhr abends, wenn das Wetter fortdauernd schön ist, gehe ich nach Trianon und werde durch den Park zurückkommen. Seien Sie dort und stellen mir dann dies Blatt wieder zu, das ich schwach genug bin, nicht zu zerreißen, obschon ich mir vorwerfe, daß ich es schrieb.“ –

Dieses Blatt, welches Frau von ... für so dunkel und unverständlich hielt, gab mir volles Licht in der Sache. Ich ersah daraus, daß ich weit natürlicher gewesen war, als sie es dachte, weil ich den Eindruck, welchen Sophie auf mich gemacht, nicht hatte verbergen können, und weil sie darüber eifersüchtig geworden war. Ich überlegte lange mit mir, ob ich mich nicht stellen sollte, als hätte ich ihren Brief nicht verstanden; endlich entschloß ich mich aber zum Gegenteil, in der vollen Ueberzeugung, daß Unschuld und Geradheit bei einer Frau, die nicht zu denen von verdorbenem Charakter gehört, eine treffendere Waffe ist, als Verschlagenheit und Verstellung. Ueberdies war ich gewiß, mit Offenheit weniger strafbar in ihren Augen zu erscheinen.

Ich stellte mich pünktlich ein. Mit dem Anscheine der Aufrichtigkeit schilderte ich ihr meine Ueberraschung beim Empfang ihres Briefes. Ich dankte ihr zärtlichst für den Inhalt und für ihre Güte. Zugleich bat ich um Aufklärung über einige mir unverständliche Stellen.

Ich fand Frau von ... abgespannt, ihr Gesicht war entstellt, ihr Gang schwankend, ihr Wesen bekümmert und melancholisch. „Mademoiselle de Lorville,“ sagte sie, „ist abgereist, sie begleitet ihren Onkel bis Amiens, wo sie bei einer Verwandten bleibt. ... Sie erröten? ... Was würde vollends daraus werden, wenn Sie sie wiedersähen! Folgen Sie meinem Rate, treiben Sie eine Grille nicht weiter, die Sie doch aufgeben müßten. Die junge Person ist keine Partie für Sie, und zum Verführen ist sie ...“ Mein Gott, Madame, rief ich, wohin schweift Ihre Einbildungskraft aus? Welche Pläne vermuten Sie bei mir! Was denken Sie von mir! Ich bin so wenig auf das vorbereitet, was Sie mir da sagen, daß ich kein Wort der Erwiderung finde – „Denken Sie darüber weiter nach,“ sagte sie, „wir sind hier vor dem Hotel der Frau von Tavannes. Ich habe einen Besuch bei ihr abzustatten.“ Hiermit nahm sie freundlich Abschied von mir und wir schieden voneinander.

„Was soll hieraus werden!“ dachte ich, als ich allein war. „Ich muß mich um jeden Preis aus dieser Lage befreien. Die Ungewißheit ist mein Tod. Frau von ... liebt mich ... ich habe Grund, es zu glauben ... ich bin davon überzeugt. Hängt mein Glück von dieser Liebe ab? Ich weiß es nicht, nur so viel weiß ich: dieser Liebe entsagen müssen, würde mich sehr unglücklich machen. Wie gelange ich zur Gewißheit?“

Unter tausend Mitteln, die Sache zur Entscheidung zu bringen, die sich mir darboten, wählte ich das abgegriffenste von allen. Ich beschloß, mich krank zu stellen, um ihre Teilnahme zu prüfen. Ich hätte nur unsere Romane aufschlagen dürfen, um einen feineren Kunstgriff, eine künstlichere Wendung zu finden. Sind diese Romane nicht von Männern geschrieben, welche die Liebe und ihre Stürme, die große Welt und ihre Intriguen, den Hof und seine Sitten von Grund aus kennen? Sind sie nicht von Männern geschrieben, die für die Maler der guten Gesellschaft**) gelten, für die Erzieher der Jugend in Garnisonen und Provinzstädten? Von Männern, welche treue Schilderungen der feinen Manieren der Hauptstadt gegeben und die Verführungsmittel in ein Système du bon ton gebracht haben? Jene großen Meister würden mir ohne viele Mühe und Anstrengung eine glücklichere Erfindung an die Hand gegeben und mir den erbärmlichen Ausweg einer Unpäßlichkeit erspart haben, welcher (ich muß es nur gestehen) von einem wenig fruchtbaren Geiste zeugte. Allein (ich muß es ebenfalls gestehen) mein Auskunftmittel gelang über alle Erwartung und so mag mich der glückliche Erfolg über die Erbärmlichkeit der Mittel und die Dürftigkeit meiner Einbildungskraft trösten.

Frau von ... schickte alle Tage zu mir, ließ sich angelegentlich nach meiner Gesundheit erkundigen, und sobald es mit mir zur Besserung ging, mich ersuchen, meinen ersten Ausgang zu ihr zu machen.

Es geschah. Unmöglich könnte ich die Aufregung schildern, worin ich sie fand und den Eindruck, den ich auf sie machte. Alle bisherigen Verhältnisse der Konvenienz wurden übersprungen, sie schloß mich in ihre Arme, drückte mich an ihr Herz, vergoß einen Strom von Tränen, gab mir alle Liebkosungen, die ich wagte, alle Entzückungen, denen ich mich überließ, mit Wucher zurück. Nach einer stummen Umarmung, nach einigen Minuten beredten Schweigens, wurde es mir klar, daß meinem Glücke nichts entgegenstehe. Es bedurfte nur einer Unze gemeinen Menschenverstandes dazu. Meinerseits erfolgte kein Sturm; ihrerseits kein Widerstand. Es war wie eine alte, wie eine heilige Schuld anzusehen, auf deren Zahlung ich drang und zu deren Abtragung sie sich für verpflichtet hielt.

Der glückliche Moment verschwand wie ein Blitz. Ihre Tränen hatten nicht aufgehört zu fließen; jetzt strömten sie häufiger. Ich beschwor sie, sich zu beruhigen. „Das Geheimnis dieser Stunde,“ rief ich aus, „soll mir ewig unverletzlich bleiben!“ – „Ach,“ sagte sie mit einem Ausdruck, den ich nie vergessen werde, „ich weine nicht über meine Schwachheit, nicht aus Furcht, daß sie einst bekannt werde, daß meine Schande an den Tag komme, ich weine, weil ich Sie verführt, weil ich mich Ihnen angetragen, weil ich Ihrer Sinnlichkeit, vielleicht Ihrer Eitelkeit, einen leichten Sieg über mich verstattet habe, den Ihr Herz gewiß nicht teilt!“

Man kann sich meine Antwort, meine Beteuerungen, meine Schwüre denken. Wir kamen überein, nicht in ihrem Hotel, sondern in einem kleinen Hause in der Pariser Allee zusammenzutreffen. Hier sollte ich sie an bestimmten Tagen und Stunden finden und immer in einem Rocke von unscheinbarer Farbe zu ihr kommen, das sei (sagte sie) das Sinnbild einer Liebe, die sich in Geheimnis und Dunkel einhüllen müsse.




*) Man erlasse mir das „gnädige Frau, Ihr Gnaden“ usw. Warum läßt man in Übersetzungen aus dem Englischen Mylady und Miß durchgehen und verwirft Madame und Mademoiselle? Uebers.

**) Vielleicht haben sich seit dem Jahre 1804, Im Original stand erst 1803. Die 3 ist in eine 4 verwandelt. Uebers. wo ich dies schreibe, die Sitten in Frankreich etwas geändert. Vielleicht ist die Schule einer gewissen Klasse von Romanschreibern auf immer geschlossen. Vielleicht wird man von nun an in die Zeichnungen mehr Korrektheit, in die Gemälde mehr Wahrheit bringen. Vielleicht werden unsere Schriftsteller, wenn von Gebräuchen die Rede ist, die den Stempel des ehemaligen bon ton tragen, so denken und fragen, wie der achtzigjährige Marschall von Termes, als in seiner Gegenwart von einer Wöchnerin gesprochen wurde: Est-ce qu’on fait encore l’amour? Werden noch Kinder geboren?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band