Achtes Kapitel. Gedanken über die Duelle. — In Frankreich häufiger als in anderen Ländern. — Aus was für Ursachen. — Zwei Offiziere wählen mich zum Sekundanten in einer Ehrensache.

Geschichte ihres Streites. — Ich söhne sie aus. — Meine Ankunft in Paris. — Ich eile in das Hotel der Frau von . . . Ich suche Sophien auf. — Frau von... empfängt mich. — Sophie ist vermählt. — Wut und Verzweiflung. — Strafe der Verführer. — Anekdote von Versailles. — Vorfall, der mir zur Ehre gereicht. — Verführerischer Vorschlag. — Ich habe den Mut, ihn zu verwerfen. — Ich betrüge den, der mich zu seinem Mitschuldigen machen will. — Der Bischof von Limoges. — Ich bediene mich seiner zu einem guten Zweck. — Er will zu weit gehen; ich halte ihn zurück. — Furchtbarer Zweikampf des „Grafen Du Touchet mit einem Unbekannten. — Er tötet ihn vor meinen Augen. — Meine Empfindungen. — Geschichte des Grafen Du Touceville. — Der Prinz von Bauffremont. — Der letzte Prinz aus dem Hause Monaco. — Tod des Grafen Du Touceville. — Sein Mut. — Seine letzten Reden. — Sein Porträt. Meine Gründe, ihn zu lieben. — Frau von . . . schreibt an mich. — Klagt sich an. — Gibt ihrem Herzen schuld. — Wünscht, mich wiederzusehen. — Ich bin nicht edel und stark genug, ihr zu willfahren. — Ich reise ab. — Sie stirbt. — Betrachtungen über die Nichtigkeit der menschlichen Natur. — Nachforschungen. — Hoffnung einer besseren Welt.

Il est plus aisé de mourir pour une femme que d’en rencontre une qui le mérite.


Frankreich ist das Vaterland der Zweikämpfe; Duelle sind die Frucht seines Bodens. Ich habe den größten Teil von Europa bereist, bin bis nach Amerika gekommen, habe unter Hof- und Kriegsleuten gelebt, habe aber nirgends so sehr als in Frankreich jene unglückliche Reizbarkeit gefunden, jene traurige Neigung, sich für beleidigt zu halten und eine oft nur eingebildete Beleidigung zu erwidern. Ich weiß es, man schmückt diese Empfindlichkeit mit einem volltönenden Namen aus, man will daraus folgern, in Frankreich besitze man Zart- und Ehrgefühl in höherem Grade als in den übrigen Ländern, in Frankreich verstehe man sich besser auf die feineren Schattierungen der Lebenskunst; in Frankreich lerne man besser die Achtung kennen, die man anderen und vor allem sich selbst schuldig sei. Aber ich weiß auch zugleich, daß dieses ehedem mit Grundsätzen zusammenhing, die ebenso strafbar in der Anwendung waren, als sie tadelnswert und verwerflich in ihrem Ursprunge sind.

Bevor ich hier meine Meinung näher auseinandersetze, muß ich daran erinnern, daß es Nationen gibt – ich nenne und bezeichne keine besonders – welche vielleicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen, obschon sich daraus nichts gegen ihre persönliche Tapferkeit schließen läßt, die im Kriege, in Schlachten, sich in ihrem vollen Glanze zeigen würde. Es ist ferner unleugbar, daß es kein Land gibt, wo auf alles, was die Ehre billigerweise erheischen kann, so streng und mit solcher Beobachtung der Konvenienz gehalten wird, als in Frankreich. Hier gab es zu meiner Zeit eine Ehre für alle Klassen;*) es gab, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein allgemeines Schamgefühl, das niemand ungestraft angreifen, oder nur leise berühren, und erröten machen durfte. Außerhalb Frankreich wird fast überall dieses geheime Gefühl für zu zart, zu kleinlich (minutieux) gehalten; man ist daher übereingekommen, daß es in der Ausführung zuviel Unannehmlichkeiten, zuviel Kopfzerbrechens, zuviel Ungemach nach sich ziehen würde, so daß unser französisches Point d’honneur, dieser mit einer Nadelspitze verletzbare Punkt der Ehre (cette pointilleuse délicatesse), im übrigen Europa unbekannt ist. Wie läßt sich’s aber behaupten, daß Frankreich ein Recht hatte, dieses Punctilio, dieses zu weit getriebene quant-à-soi, (Campe verdeutscht diese Redensart nicht. Den Sinn gibt Punctilio, nur daß dieses Wort ebenfalls fremd ist. Uebers.) sich anzueignen, wenn alle übrigen Nationen es entweder nicht gekannt oder es von sich gewiesen haben?

Ist es Moralität? Ist es Religion? Ist es Grundsatz der Menschlichkeit? Oder ist das alles zusammengenommen die Ursache, nicht bei jeder Gelegenheit Anstoß an Worten und Handlungen zu nehmen, welche als beleidigend ausgelegt werden könnten, und demnach die Zahl der Zweikämpfe zu vermindern?

Denn, im Grunde und im ersten Ursprunge hat die Natur einem Volke nicht mehr als dem andern die Neigung gegeben, das Blut eines Nebenmenschen zu vergießen, oder sein eigenes zu verspritzen, um wegen eines zweideutigen Worts, wegen einer vermuteten oder gar nur angeblichen Beleidigung Rechenschaft zu fordern und zu geben! Ueberall sind die Menschen mit demselben Instinkt, mit dem Trieb und der Liebe zum Leben begabt; und solange sie nicht in wilde Ungeheuer verwandelt sind, tragen sie ein Herz in sich, das über ein geraubtes Leben Reue und Qual empfindet. Auch ist zu vermuten, daß die Natur allen Völkern ursprünglich dasselbe Maß von Tapferkeit und Mut gegeben haben wird, da sie überall einförmig und ebenmäßig zu Werke geht.

Woher kommt es denn, daß dem Franzosen diese besondere Stimmung und Neigung zum Duell so eigentümlich geworden ist? Der Charakter der Nation ist zu edelmütig, als daß wir diesen Zug desselben der Rachsucht zuschreiben könnten. Gewöhnlich schlägt man sich aus unbedeutenden Gründen, aus lächerlichen Ursachen, aus Veranlassungen, die das Phlegma der übrigen Nationen nicht einmal aus dem Gleichgewicht bringen würden. Ich nehme die entarteten Völker aus – wenn es deren noch gibt – bei welchen Stilett, Mord und Erdolchung fest eingeführt und einheimisch sind. Woher denn (so frage ich nochmals), woher diese außerordentliche Empfindlichkeit, aus welcher der Entschluß entspringt, die kleinste Beleidigung mit Blut zu sühnen, sogar solche, die es in keines andern Augen ist, als dessen, dem sie sein überspanntes Ehrgefühl dazu macht? Hier kommt nicht Klima, nicht Temperament, nicht physische Nahrung in Betracht. Keines von den dreien kann unserer Nation den Trieb einflößen, mit ihrem Mute Mißbrauch zu treiben.

Was tut es denn?

Die Erziehung, einzig und allein die Erziehung!

Nirgends als in Frankreich hört man sagen: „Die Ehre ist alles; es gibt nichts auf der Welt, als die Ehre. Das Leben ist nichts, sobald ein Mensch, der mit uns auf derselben Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie steht, uns demütigt, uns stolz oder scheel ansieht. Das Leben ist nichts, sobald sich nach einer Schlacht der leiseste Verdacht über unsern Mut erhebt; scheint heute unser General im geringsten daran zu zweifeln, so müssen wir zwar nicht subordinationswidrig handeln, aber uns morgen totschießen lassen, um ihm seinen Zweifel zu benehmen.“ –

Es hat sich zwischen deinem Freunde und dir ein Streit erhoben; du bist nicht über die Grenze einer erlaubten Hitze gegangen, auch er hat den feinen Anstand nicht aus den Augen gesetzt. Finden sich aber Frauen, welche behaupten wollen, daß euch in der Leidenschaft beleidigende Ausdrücke entfahren sind, und daß du entehrt bist, wenn du deinen Freund nicht umbringst oder dich von ihm umbringen läßt, – so mußt du dich mit ihm schlagen, denn der Ruf steht höher als das Leben, und man muß lieber sterben, als lebend mit dem Verdachte der Feigheit von Frauen belegt werden, welche sich – wie jedermann weiß! – so gut darauf verstehen.

Du spielst, ein Stich ist zweifelhaft; es ist ein unglückliches Ungefähr, und dabei klar wie die Sonne und ausgemacht, daß es weder deine noch des Mitspielers Absicht war, eine falsche Karte zu ziehen. Dessenungeachtet darf nur Herr N. N. den Mund spöttisch verziehen, die Nase rümpfen, seiner Schwester ein paar Worte ins Ohr raunen, diese darf nur ihrer Cousine etwas zuzischeln – was bleibt dir übrig? Du mußt dich schlagen, um nicht für einen Falschspieler gehalten zu werden, da bekanntlich nichts so sehr über eine Sache dieser Art Licht verbreitet als ein Pistolenschuß und ein Degenstich. Bilde dir auch ja nicht ein, daß die Sekundanten den Streit ausgleichen werden. Beileibe nicht, müßten sie nicht fürchten, selbst für schwach und feige zu gelten und dein Schicksal zu teilen? Wird sie das Vorurteil nicht bewegen, von sechs Malen, wo sich ein Ehrenstreit auf eine ehrenvolle Art beilegen ließe, ihn fünfmal der blutigen Entscheidung zu überlassen?

Dein Weib ist eine ausgemachte Kokette. Schlage dich mit ihrem Liebhaber, laß dich von ihm erstechen; auf diese Weise verhilfst du deinem Weibe wieder zur Ehre.

Jene Tänzerin, die dir bereits sechs schöne Wiesen, vier fette Hufen und einen ganzen Wald kostet, betrügt dich, gibt einem hübschen Jüngling, der ihr keinen Grashalm geschenkt, den Vorzug. Was ist zu tun? Laß dich von dem vorgezogenen Rival totstechen; denn die Bravour macht alles Unrecht, alle Fehler, und vor allem alle Lächerlichkeiten eben und gleich.

Du stehst bei einem Regiment, dein Oberst hat dir bei irgendeiner Gelegenheit auf der Parade, vom Feuer des militärischen Enthusiasmus hingerissen, ein paar hitzige Worte gesagt, schweig in der Garnison, suche ihn aber in Paris auf, und fordre ihn. Kann sein, daß er, ein treuer Anhänger der Subordination, sich nicht schlagen will; kann sein, daß er dich angibt, und daß du die Forderung mit zwanzig Jahr und einem Tag Gefängnisstrafe büßen mußt – gleichviel, er wird dadurch entehrt, und du wirst in deinem Turm, mit Ruhm gekrönt, dich ehrenvoll zu Tode langweilen.

Du hast die Frau eines rechtlichen Mannes verführt. Er hat es vielleicht im Verdruß über seine unangenehme Lage an feinem Benehmen gegen dich fehlen lassen, ist dir mit Bitterkeit begegnet; stoß ihn nieder, denn da du ihm Glück und Ruhe geraubt, ist es ja nur eine Kleinigkeit, ihm auch das Leben zu rauben; wer wollte da lange markten? usw.. usw.

Sind diese Gemälde mit zu grellen Farben aufgetragen? Ich sollte denken, nein, oder wenn sie es sind, so verstoßen sie mehr gegen die Wahrscheinlichkeit als gegen die Wahrheit. Und noch habe ich nicht einmal von einer gehässigen Klasse gesprochen, von den Schlägern von Metier, die man aber jetzt nicht mehr sieht, von den Klopffechtern, deren einziges Vergnügen darin bestand, Händel zu suchen und zu finden; von den Raufbolden, deren bloßer Blick, wenn sie einen von oben bis unten maßen, schon für eine entehrende Beleidigung galt, man mochte sie nun rächen oder nicht. Ich will damit nicht gesagt haben, daß diese Klasse, welche aus durchaus schlechten Leuten bestand, die man aber leicht im Zaum halten konnte, zahlreich war; allein sie war da, und war ein Beweis mehr, daß in unsrer Nation die Duellwut obwaltete, und daß sie dem Vorurteile huldigte, das sich stillschweigend ihrer bemächtigt hatte und den Grundsatz befolgte: nichts sei so edel und groß als diese Gattung von Tapferkeit; mit ihrem Glanze überstrahlte sie alles, und ein Schurke, un malhonnête homme. der sich gut schlage, höre fast auf, ein Schurke zu sein.

Haben die übrigen Nationen unrecht, diesen herrlichen Grundsatz zu verwerfen, oder sind sie strafbar, weil ihr Blut träger fließt? Nein, nur muß man von dem einen Aeußersten nicht in das andre fallen.**) Man darf weder zu aufgeregt, noch zu schläfrig sein. In medio virtus.

*) Dem Uebersetzer begegnete es einst, vor einem deutschen Edelmanne von hoher Geburt, dem Baron von K ...th, bei welchem er tête à tête speiste, zu behaupten: er würde schlechterdings von keiner Mannsperson auf Erden eine Ohrfeige hinnehmen, ohne sie zu erwidern. Der Edelmann lächelte. „Hier ist,“ sagte er, „ein großer Unterschied und der Fall doppelter Art. Gäbe ich Ihnen z. B. eine Ohrfeige, und Sie gäben sie mir zurück, so müßte ich aufstehen, nach meinem Degen greifen und Ihnen denselben durch den Leib rennen. Ihnen hingegen stände es frei, nach erhaltener Ohrfeige mich zu verklagen; ich würde zur Geldstrafe verurteilt, und Ihre und meine Ehre blieben unverletzt.“ Ich muß gestehen, es juckte mir bei diesen Worten und bei diesem Ehrenunterschiede in allen Fingern, und ich fühlte große Lust – mir den Degen durch den Leib jagen zu lassen. Uebers.

**) Ich kenne einen Mann, der an einem nordischen Hofe ein ausgezeichnetes Amt bekleidet, und von dem ich zur Steuer der Wahrheit und der Gerechtigkeit sagen muß, daß er blödsinnig geworden ist, seitdem er, fast ohne es zu wollen, seinen Gegner im Duell erstochen hatte. Er ist so zerstreut und von dem Augenblick an so unhöflich geworden, daß man sich des Gedankens nicht erwehren kann, er sei in eine fixe Idee versunken, die das bißchen Gehirn in seinem Kopfe in Unordnung gebracht hat. Der arme Teufel hört kaum, was man spricht; seit nahezu zwanzig Jahren weiß er weder, was er tut, noch was er sagt. Dies gereicht ihm aber zur Ehre. Dagegen gibt es mehr als einen Franzosen, der im Duell mehr als einen Gegner getötet hat und nichtsdestoweniger von vierundzwanzig Stunden die Hälfte ruhig durchschläft ... Beweist dies für oder gegen Frankreich? Ich antworte im ganzen Ernste: gegen!!! Verf.



Ich war, wie man im vorhergehenden Kapitel gelesen, auf dem Wege nach Paris. In Chartres, wo ich die Pferde wechselte und abgestiegen war, wurde ich von zwei Offizieren in königlichen Diensten angeredet, die ich nicht die Ehre hatte zu kennen, welche mir aber die Ehre erwiesen, mich zum Zeugen eines Handels zu wählen, den sie im Begriff standen, miteinander abzumachen. Ich trug Uniform und schreibe es diesem Umstande zu, daß sie sich an mich wandten, und mich höflich und angelegentlich ersuchten, sie unweit der Stadt an einen Ort zu begleiten, wo ihre Ehrensache mit dem Degen entschieden werden sollte. Die Zumutung schien mir unzeitig; ich nahm mir die Freiheit, ihnen vorzustellen, daß ich das Unglück hätte, beiden völlig unbekannt zu sein, daß der Dienst, welchen sie von mir verlangten, von der Art sei, wie ich ihn nur der vertrautesten Freundschaft leisten könnte, daß ich kein langweiligeres Geschäft kenne, als das eines Sekundanten, es müßte denn vielleicht das Geschäft des Duellierens selbst sein, und daß ich in der Tat nicht wüßte, ob ich letzteres nicht vorziehen würde.

Sie bestanden auf ihrem Gesuch und meinten, dieses sei ein Dienst, den ein Militär dem andern nicht abschlagen dürfe. Sie setzten hinzu: da sie die Ehre einer Frau nicht aufs Spiel setzen wollten, ob jene gleich dieser Schonung unwert sei, so hätten sie, anstatt einige der Notabeln der Stadt anzusprechen, sich lieber an einen ganz Fremden gewendet usw.

Es fiel mir schwer, bei dem theatralischen Ton, mit welchem sie das alles vorbrachten, mich des Lachens zu erwehren. Gleichwohl gab ich zuletzt nach, und da der eine von ihnen mit einem angenehmen Aeußeren die edelsten Manieren verband, da überdies das Abenteuer mich vielleicht belustigen konnte, so entschloß ich mich, drei Stunden in der Stadt zuzubringen, doch unter der Bedingung, daß sie vorher mit mir eine Mahlzeit einnähmen, welche mein Kammerdiener (mon confident) sogleich bestellen mußte. Ich machte mich meinerseits verbindlich, ihre Geschichte anzuhören, um die Sühne zu versuchen, und gab ihnen mein Wort, wenn sich keine Annäherung vermitteln ließe, der Sekundant zu sein. Sie nahmen meine Einladung an, setzten aber hinzu, sie wären fest entschlossen, nach geendigtem Mahle sich in meiner Gegenwart die Hälse zu brechen; ihr Handel sei so klar wie die Sonne, und ließe sich auf keine Weise in Güte ausgleichen.

Der Gastwirt, mit dem ich Gelegenheit fand, im Vorbeigehen ein paar Worte zu wechseln, sagte mir, die Herren seien zwei geachtete Edelleute der Stadt oder Umgegend und ein paar vertraute Freunde.

Eine seltsame Freundschaft! dachte ich bei mir selbst.

„Messieurs (so redete ich sie bei Tisch an), Messieurs, meine Meinung kann Ihnen kein großes Zutrauen einflößen, da ich nicht die Ehre habe, von Ihnen gekannt zu sein. Ueberdies zeugt mein Alter nicht von einem hohen Grade von Klugheit, aber ich bin älter als mein Taufschein, und ich glaube die Frauen hinreichend zu kennen, um Ihnen mit gutem Rate beizustehen, und vorläufig eine Betrachtung zum Nachdenken vorzulegen, die so einfach ist, daß ich mich wundern muß, daß sie sich nicht von selbst Ihnen dargeboten hat. Entweder ist die Person, um welche Sie sich die Hälse brechen wollen, unendlich achtungswert, oder sie verdient die tiefste Verachtung. Im ersten Fall wird sie trotz aller dabei gebrauchten Vorsicht durch den Auftritt, (l’esclandre). den Sie zu machen im Begriff sind, entehrt, im zweiten ist sie den Blutstropfen nicht wert, den Sie für sie vergießen würden.“

„Das heißt gründlich, das heißt vernünftig sprechen“ erwiderte der Aeltere. (Er schien fünfundzwanzig, und sein Gegner zwei bis drei Jahre jünger. Dabei war er groß, wohlgewachsen, hatte martialische Züge, stand aber seinem Rival, der, wie gesagt, das liebenswürdigste Gesicht hatte, in dieser Hinsicht weit nach.) Er fuhr fort: „Nichts ist verständiger als die soeben von Ihnen aufgestellte Alternative; gleichwohl gibt es besondere Fälle, die von der gewöhnlichen Regel durchaus abweichen, Ausnahmen, die Männern von Ehre und Herz nach kluger und ruhiger Beratung keine Wahl, keine Entscheidung übrig lassen. ... Wollen Sie sprechen (setzte er hinzu, sich an den Jüngeren wendend), so trete ich Ihnen das Wort ab.“ – „Nein,“ versetzte dieser, „Sie haben es, und solange Sie sich, wie ich davon überzeugt bin, genau an die Tatsachen halten werden, soll es Ihnen unbenommen sein.“ – „Wohlan denn, so will ich die Sache erklären, die uns entzweit, die uns, trotz einer Freundschaft, die so alt ist wie wir selbst, gegeneinander bewaffnet.“ Jetzt wendete er sich zu mir, zeigte auf seinen Rival mit der Hand, und fuhr folgendermaßen fort: „Monsieur hatte ein intimes Verhältnis (était du dernier bien) mit der Tochter eines Edelmanns dieser Stadt, mit dem ich verwandt bin. Die Liaison dauerte eine geraume Zeit, und, wie es in der Regel sein muß, niemand ahnte das Geringste davon, ich am allerwenigsten, weil ich ein ganzes Jahr von hier abwesend gewesen. Monsieur hatte meiner Anverwandten die Ehe versprochen, aber ein Familieninteresse, dessen ganze Wichtigkeit mir selbst einleuchtet, hielt ihn davon ab, sein Wort zu halten. Seine Schöne. (maîtresse.) ...“ Hier unterbrach ihn der andere: „Sagen Sie die Ihrige!“ – „Wenn Sie reden wollen (versetzte jener), so verspreche ich, zuzuhören und zu schweigen; machen Sie es ebenso, oder lassen Sie uns abbrechen. Wir werden bald Zeit die Fülle haben, uns um die Sache zu schlagen, warum wollen wir uns um Worte streiten? Und vollends sind wir dieses Zeichen der Achtung dem Herrn hier schuldig, der die Güte hat, uns anzuhören, und den wir mit diesem Wortstreit zu ennuyieren nicht den Schatten der Berechtigung haben. ... Ich sagte also, daß seine damalige Geliebte (So ist’s recht! schien hier der Jüngere mit einer Bewegung des Kopfes zu bejahen) klagte, jammerte, und ihm mit Bitterkeit vorwarf, sie verführt zu haben, und sein Wort zu brechen.

So stand die Sache, als ich zurückkam. Es entging mir nicht lange, daß mein Freund, denn damals war er’s noch, einen geheimen Kummer im Herzen trug, den er mir beharrlich zu verbergen suchte. Sein Geheimnis tat mir wehe, doch ich achtete es, und forschte nicht nach. Inzwischen entdeckte ich in mir, daß die Reize des Fräulein von D... – ich nenne sie hier Julie – einen tiefen Eindruck auf mich zu machen anfingen. Ihr Geist, ihr Gemüt vollendeten den Sieg, zumal da ich bedachte, daß ihr Vermögen mit dem Wenigen, was ich besitze, in eine Schale gelegt, mir sehr zustatten kommen würde. Der Dienst begann mich zu langweilen. Ich sagte mir: Wozu kann er mich führen, als etwa zum Ludwigskreuz im Knopfloch, das zu haben und nicht zu haben gleich sehr zum Spott gereicht, wie jener Bonmottist sich geäußert hat. Besser, in das Joch der Ehe gehen, als das Joch der militärischen Disziplin tragen! Ich teilte Monsieur meinen Plan mit, und Monsieur, weit entfernt, mir davon abzuraten, wie es die Pflicht eines treuen Freundes gewesen wäre, bestärkte mich in meiner Idee. Ich gebe zu, daß es bequem ist, einem Freunde unsere Schmach aufzubürden, und ihn zum Verbesserer unserer Fehler zu bestellen, allein ich habe die Ehre, Sie zu fragen: Ist das ein anständiges Verfahren, und hätte ich es von dem Manne erwarten sollen, der mein bester Freund auf Erden war?“

Hier unterbrach sich der Redner, seine Blicke fest auf mich heftend; ich antwortete weder mit den Augen, noch mit dem Munde. Er fuhr fort: „Auf diese Weise ward ich Juliens Anbeter, fest entschlossen, ihr mit meinem Herzen auch meine Hand zu geben. Jetzt kehrt die Ruhe in ihr Gemüt zurück; auf dem Gesichte ihres Verführers findet sich die Heiterkeit wieder ein. Meine Liebe gegen den Treulosen nahm zu: ich war einfältig genug, mir einzubilden, sein persönlicher Kummer sei der Freude über mein Glück gewichen.

Nun entstand aber ein neues Hindernis. Ein entfernter Anverwandter, von dem ich einst zu erben hatte, widersetzte sich meiner Verbindung, aus Gründen, die er mir mitzuteilen nicht für gut fand. Sein Schweigen befremdete mich nicht; er ist in der ganzen Provinz als ein Original bekannt, das den Mund selten oder nie öffnet. Gleichwohl hoffte ich, sein einsilbiges Nein durch Beharrlichkeit in Ja zu verwandeln, und meine Schöne, der es daran gelegen war, mich unwiderruflich in ihr Netz zu ziehen, sträubte sich gerade nur so viel, als dazu gehörte, meine Wünsche durch ihren Widerstand noch mehr zu entflammen. Endlich gewährte sie mir Proben derselben Gunst, die sie dem Herrn da bewilligt hatte; aber, sei es, daß sie mich weniger liebte, wie das denn sehr natürlich scheint, oder sei es, daß sie durch Erfahrung klüger und verschlagener geworden, genug, sie zwang mir ein förmliches Eheversprechen ab, wodurch ich mich verpflichtete, ihr binnen Jahresfrist meine Hand zu geben. Der Termin ist vorgestern abgelaufen; ich würde mein gegebenes Wort pünktlich und gewissenhaft gehalten haben, wären mir nicht kurz vor der Zeit die Augen am Rande des Abgrundes geöffnet worden, in den ich mich sonst gestürzt haben würde. Ich werde die Ehre haben, Ihnen zu sagen, wie?

Die treulose Julie war mit einer Dame in dieser Stadt befreundet, die man im Verdacht hatte, die Lesbische Sappho, aber nicht als Dichterin, zum Muster genommen zu haben; denn zur Schande der französischen Sitten sei es gesagt, diese Nachahmungssucht hat nicht nur in Paris, sondern selbst in den Provinzen weit um sich gegriffen. Man hatte viel von, über und wider die Verbindung beider Freundinnen gesprochen; man hatte aufgehört davon zu sprechen, es war mir zwar etwas davon zu Ohren gekommen, doch muß ich gestehen, daß ich mich schämte, auf ein Gerücht dieser Art einigen Wert zu legen ... daß ich es verachtete, und sogar leichtsinnig genug war, darüber zu lachen.

Beide Damen waren vor einigen Tagen auf einem Ball. Aus einem bisher noch unbekannten Anlaß entstand zwischen ihnen ein lebhafter Streit. Nur so viel weiß man, daß ein heftiger Wortwechsel vorfiel, und sie sich gegenseitig bedrohten, sich zugrunde zu richten.

Am folgenden Morgen erhielt ich ein Billett von der neuen Feindin meiner Zukünftigen. Es enthielt die Bitte, zu ihr zu kommen. Ich hoffte, es würde von einer Aussöhnung die Rede sein, und eilte zur Dame. Sie werden aber sehen, daß sie mir ganz andere Sachen zu sagen hatte. Sie stellte mir ein Paket Briefe zu, sämtlich von Monsieurs Hand, und an Julien gerichtet. Julie hatte sie ihrer damaligen Freundin aus Furcht anvertraut, daß sie bei ihr gefunden werden, und sie kompromittieren könnten. Die Niederträchtigkeit, zu der die Rachsucht diese Frau verleitet hatte, empörte mich; gleichwohl benutzte ich den Vorfall, und las die Briefe. Ich fand darin den bündigsten Beweis, daß die Freundschaften auf Erden nur Resultate der Konvenienz, und dem, was zu unseren Neigungen und zu unserm Interesse stimmt, stets untergeordnet sind. Ich belehrte mich aus dieser Liebhaberkorrespondenz, daß Monsieur lange vor mir alles erhalten habe, was man mir nur aus gewissen Rücksichten, und um mich zur Ehe zu bewegen, gewährt hatte. Ich muß aber dem Schreiber die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß in keinem seiner Briefe, so oft er meiner darin erwähnt, Ehre und Achtung im mindesten verletzt sind, daß sie sogar inniges Interesse für mich verraten; nur, daß sie insgesamt damit schließen: ich müsse die Cousine heiraten. Nachdem er in einem dieser Briefe mein Geschick einigermaßen, doch nur schwach bedauert hat, wird er leichtsinnig, spöttelt über die Sache selbst, und führt zwei Zeilen an, von ich weiß nicht welchem Schriftsteller; denn ich muß Ihnen freimütig bekennen, daß ich in meinem Leben ganz andere Dinge zu tun gehabt habe, als Bücher zu lesen; aber die beiden Zeilen haben sich mir eingeprägt, und ich kann sie Ihnen wörtlich wiederholen:

Quand on le sait, c’est peu de chose;
Quand on l’ignore, ce n’est rien.“*)

(weiß man es, – was ist es?
Wenig. Weiß man’s nicht, – was ist es? Nichts.)

Hier hielt der Redner inne, und da ich glaubte, daß er fertig sei, nahm ich das Wort, und sagte: „Ihre beiden Zeilen eines Schriftstellers sind zwei bekannte Verse von Lafontaine. Sie enthalten die ganze Rechtfertigung Ihres Freundes, der nicht beschuldigt werden kann, daß er Sie zur Heirat verleitet, um sich selbst aus der Klemme zu ziehen, und dessen ganzes Unrecht darin besteht, Ihnen nicht davon abgeraten zu haben. Ich finde Sie sehr aufgeregt; ihn hingegen sehr ruhig; und das (erlauben Sie mir, es zu sagen) spricht schon für ihn. Erlauben Sie mir ferner, Sie zu fragen, was, so wie die Sachen jetzt stehen, der materielle Grund zu Ihrem Streite ist, denn bis jetzt sehe ich nicht ein, wer von beiden dem andern unrecht tut, wenn Sie beide das junge Mädchen nicht heiraten.“

„Ich werde die Ehre haben, es Ihnen zu sagen,“ erwiderte er. „Mein Gegner behauptet, ich verdanke meine Entdeckung zum Teil seiner Unbesonnenheit, an Julien geschrieben zu haben, weit mehr aber dem Verrate der Frau, die Julien durch die Mitteilung dieser Briefe in ein Unglück gestürzt habe, für dessen Urheber er sich ansehen müsse. Er will mich nun zwingen, meine Verbindlichkeiten zu erfüllen, um so mehr, da er das zur Rettung der Konvenienz für durchaus notwendig hält usw.. Er setzt hinzu: ich müsse heiraten, widrigenfalls die Welt zu „klein für uns sei, und einer dem andern Platz machen müsse. Ich meinerseits bestehe nicht nur darauf, nicht zu heiraten (wovon wohl nicht einmal weiter im Ernst die Rede sein kann), sondern ich bestehe darauf, daß der Herr da heirate, und auf diese Weise die Ehre meiner Cousine wiederherstelle, die nur er wiederherstellen kann; ich bestehe darauf, daß er das Uebel wieder gutmache, das sein Werk ist, da er der Verführer ihrer Unschuld gewesen. Ich bestehe um so mehr darauf, da dieses das einzige Mittel ist, mich auf eine schickliche Art aus dem Handel zu ziehen, damit das Publikum in der Zurücknahme meines gegebenen Worts nur ein Opfer sehe, welches ich der Freundschaft bringe. Würde ich sonst nicht, wenn ich, ohne diesen Grund anzugeben, zurückträte, für einen bösen Windbeutel gelten? Denn das wird doch niemand von mir verlangen, daß ich den wahren Grund angeben und die Schande meiner eigenen Cousine aufdecken soll.“

Hier war es mir nicht möglich, länger an mich zu halten. Ich brach in ein lautes, unwillkürliches Gelächter aus; der jüngere Offizier folgte meinem Beispiele, aber der ältere war im Begriff, es übel aufzunehmen, als ich ihm zuvorkam. „Haben Sie die Güte,“ sprach ich zu ihm, „mir zu antworten. Verlangen Sie wirklich und im ganzen Ernst, daß Ihr Freund (denn Freunde müssen Sie bleiben) die Heirat eingehe?“ – „Im vollen Ernst,“ versetzte er.

„Wie?“ rief ich aus. „Was ist das für eine Wut, für eine Krankheit, für ein ... erlauben Sie mir, es zu sagen – für ein Wahnsinn! Sie müssen, ja, Sie müssen die reine Wahrheit von mir hören, Sie müssen suchen, wieder zu Sinnen zu kommen. Sie haben keinen andern Grund, Feinde zu sein, als weil Sie sich um Ihre beiderseitige Vernunft gebracht haben; denn das heißt den Verstand verlieren, wenn man sich, wie Sie, einander zu einer Heirat zwingen will, welche dem einen wie dem andern unter den obwaltenden Umständen und unter der Voraussetzung, daß Sie Männer von Gefühl und Bildung sind, gleich sehr unmöglich fallen muß. Das einzige, was Sie zu tun haben, besteht darin: Suchen Sie einen Dritten, der in der Unwissenheit seines Herzens ein Bündnis schließe, das keiner von Ihnen mit Ehre schließen kann; und ist die Helena, die Sie entzweit, der Mühe wert, ist sie hübsch, so fahren Sie fein mit ihr auf dem bisherigen Fuße fort. Ich darf mir schmeicheln, auch sie würde mir für diesen Rat Dank wissen, wenn sie ihn erführe oder aus meinem Munde hörte. Glauben Sie mir, meine Herren, diese Dame, und alle Damen, die ihr gleichen, verdienen nicht, daß man mehr Umstände mit ihnen mache.“

Meine Meinung fand Eingang, und bekehrte sie. Noch ehe wir zu Ende gespeist hatten, nahmen sie nicht nur den Vorschlag an, sondern dehnten ihn weiter aus, und schwuren sich ewige Freundschaft. Ich ließ sie sich noch einmal umarmen, ehe ich in den Wagen stieg; sie begleiteten mich bis vor die Türe, überhäuften mich mit Dankergießungen, mit Lobeserhebungen, und versicherten: Salomo selbst würde nicht weiser geurteilt haben; kurz, ich sei die Weisheit selbst!

*) Herr von Buffon sagt: „Toutes ces conjectures d’ètre le premier sont si trompeuses, que les hommes devraient bien se tranquilliser sur tout cela, aulieu de se livrer, comme ils le font souvent, à des soupçons injustes, ou à de fausses joies, selon qu’ils s’imaginent avoir rencontré.“



Ich hatte, außer dem oben angeführten, keinen Brief von Sophien erhalten. Man denke sich, sobald ich in Paris angekommen war, meine Sehnsucht, meine Ungeduld. Sie war um so größer, da Frau von ..., mit der ich ebenfalls keinen fleißigen Briefwechsel unterhielt, in ihren Briefen es auffallend vermied, ihre junge Freundin zu erwähnen, obschon ich keinen Grund hatte, daran zu zweifeln, daß jene noch immer bei ihr sei. Kaum war ich aus dem Wagen gestiegen, als ich die Kleider wechselte und in das glückliche Hotel eilte, wo ich diejenige zu finden hoffte, von der ich zuerst gelernt hatte, mein Herz zu fühlen und zu beleben. Ich wurde von Frau von ... mit aller Einfachheit und Unbefangenheit einer alten Freundin empfangen. Ich beeilte mich mit den nach langer Abwesenheit gewöhnlichen Fragen nach ihrem Wohlsein, um zu der allerwichtigsten zu gelangen, und erkundigte mich, bei dem ersten schicklichen Uebergang, nach dem Fräulein von Lorville. „Sie ist vermählt,“ gab sie mir mit eben der Kälte zur Antwort, als wenn ihr Mund gesagt hätte: „Sie wird gleich kommen.“ – „Vermählt!!“ rief ich aus, auf dieses Wort einen furchtbaren Ton legend. – „Ja.“ – „Ohne mich davon zu benachrichtigen?“ – „Sie hatte es Ihnen gemeldet; allein ich habe es besser für uns gehalten, ihren Brief Ihnen nicht zukommen zu lassen.“ – „Für uns? Für uns alle!? Wer hat Ihnen, gnädige Frau, den Rat und das Recht gegeben, sich in unsere Interessen, in unsere Leiden und Freuden einzumischen? Wer hat Sie berufen und berechtigt, über mich und mein Leben zu schalten? Etwa der Gedanke, daß Sie meine ersten Schritte vergiftet (corrompu) haben? Gehen Sie! Ich verabscheue, ich verachte Sie; Sie sehen, Sie hören mich zum letzten Male; ich bin tot für Sie!“ Sie wollte antworten; ich war schon aus dem Hause und auf der Straße.

Ach! Meine Augen haben sie nie wiedergesehen. Schon trug sie in sich den Keim der tödlichen Krankheit, deren Spuren sich auf ihrem erloschenen Gesicht zeigten. Sie starb bald nachher, noch ehe ich meine Reise in die Schweiz angetreten hatte.

Meine Leser werden an einem anderen Orte erfahren, wie sich das Ereignis, das meinem Herzen beinahe den Todesstoß versetzt hätte, an- und ausgesponnen hat; sie werden den Aufenthalt dieser Sophie erfahren, die ich nicht mehr lieben darf, die ich damals über alles liebte; sie werden erfahren, wie und wo ich sie als das Muster der Gattinnen und Mütter wiedergefunden.

Wie war es ihr aber möglich geworden, in ein so trauriges Ehebündnis einzuwilligen? Wie war es ihr möglich geworden, so vieler Liebe, so vielen Eidschwüren zu entsagen, und mich zu verlassen? ... Möglich? Oh, die Antwort ist leicht! Es ist der Verführung Los, heftige Leidenschaften zu erregen; aber es ist auch der Verführung unausbleibliche Strafe, nur solche zu erregen, welche dem späteren Nachdenken und der Reue nicht widerstehen. Das Mädchen, das die Gesetze der Moral verletzt, das den bestehenden Vorurteilen Trotz bietet, das, dem Gegenstande ihrer abgöttischen Liebe gegenüber, die Welt in die Schranken fordert, wird bald enttäuscht. (se désillusionne bientôt) In der Einsamkeit ihres Herzens und ihrer Gedanken, sich selbst überlassen, kommt die Verführte zu sich; sie sieht den Urheber ihrer Lage von anderen verachtet; sie fängt an, ihn mit den Augen der Welt zu betrachten; das allgemeine Urteil ergreift sie; die Liebe schwindet allmählich; die Bitterkeit der Vorwürfe löst sie vollends auf; die Unglückliche erblickt im Fallen einen Abgrund, und in dem Urheber desselben den tödlichen Feind ihrer Ruhe und ihres Glücks. Bisweilen nimmt zwar die Leidenschaft eine günstigere Wendung und führt zu einem besseren Ausgange; dennoch beschwöre ich meine jungen Leser und Leserinnen, sich von mir warnen zu lassen, und meiner Warnung zu trauen; seltene Ausnahmen stoßen die Regel nicht um, und diese Regel lautet: „Wehe denen, welche sich durch Verführungskünste anziehen und fesseln lassen!“

War überdies Sophie, deren Sinnesänderung man vielleicht tadelt und Wankelmut zu nennen geneigt ist, – war sie nicht von Ratschlägen erdrückt und von einem Ansehen unterjocht worden, dem sie nachzugeben gewohnt war? Es gibt, bei beiden Geschlechtern, nur wenige, die, in der Liebe wie in der Freundschaft, hinreichende Kraft und Energie besitzen, für sich selbst zu denken, und den Eindrücken von außen zu widerstehen. Es ist, als bedürfe man der Meinung und des Einflusses anderer, um jemanden zu lieben. Feste Gemüter, welche sich gegen die Hindernisse anstemmen, den Einlispelungen widerstehen, selbständige Richter ihrer Herzen, ihrer Neigungen und Triebe, sind selten. Besonders die Frauen, welche sich anfangs durch den unwiderstehlichen Hang der Liebe fortreißen ließen, opfern fast immer dem Rate einer Freundin, den Vorstellungen einer bisweilen dabei interessierten, verschlagenen Rivalin ihre liebste Neigung auf. – In der Freundschaft ist es wie in der Liebe. Es gibt fast niemanden, der seinem Freunde treu bleibt, wenn dieser verleumdet worden, und die öffentliche Meinung sich gegen ihn erklärt hat!! Um so mehr, da es viel Mühe kostet, dem Zeugnis, welches man einem verleumdeten Freunde zugunsten ablegt, das gehörige Gewicht zu geben; und dagegen oft nur eines Augenblicks, nur eines Worts bedarf, das Böse in Umlauf und Kredit zu bringen, welches man dem gefallenen Freunde nachsagt. – Was aber vom Freunde gilt, gilt es nicht auch vom Feinde? Wie oft nimmt uns jemand gegen eine Person ein, die wir nicht kennen, und verlangt von uns, wir sollen sie hassen, weil er sie haßt? Und während wir seinem Beispiele folgen zu müssen glauben, hat er sich heimlich mit dem Feinde ausgesöhnt, und wir werden das Opfer ihrer Aussöhnung.

Das erinnert mich an eine ziemlich pikante Anekdote, welche mir von einer geistreichen Dame erzählt worden ist, die ehedem zum Hofe einer großen Fürstin gehörte.

Einer ihrer Freunde hatte ihr zugemutet, einen Mann, den er ihr mit den abscheulichsten Farben geschildert hatte, mit ihrem Hasse zu belegen. Sie glaubt, seinem Verlangen Folge leisten zu müssen, und fängt wirklich an, einen Menschen zu verabscheuen, den sie nicht kennt, der sich nie gegen sie verging, ihr nie das Geringste zuleide tat. Sie spricht von ihm bei jeder Gelegenheit mit der äußersten Geringschätzung; sie geht noch weiter: Sie verleumdet ihn; schwärzt ihn an. Einige Monate nachher wird dieser Mann der Fürstin vorgestellt. Die Hofdame würdigt ihn kaum eines Blickes, kehrt ihm den Rücken zu, antwortet kalt auf seine Fragen, spricht und tut gerade nur das, wars ihres Amtes Ist, bemüht sich sogar, die Fürstin gegen ihn einzunehmen; – alles das auf das Wort und Zureden ihres Freundes, alles ihm zu Liebe. Was geschieht? Der Freund tritt einen Augenblick nachher ein, zieht jenen mit sich in einen Fensterbogen, drückt ihm, den er noch vor kurzem für seinen ärgsten Feind erklärt hatte, freundschaftlich die Hand, scheint alles vorige rein vergessen zu haben, und seine ganze Seele in das hingehaltene Ohr des anderen auszuschütten. Frau von B*** fällt aus den Wolken. Sie erspäht den Augenblick, wo beide sich trennen, tritt zum Chamäleon hin, kann sich nicht enthalten ihm zuzurufen: „Was soll ich von Ihnen denken? Sie sagen mir Greuel von dem Manne; ich begegne ihm auf Ihr Anstiften mit der äußersten Verachtung; ich leiste ihm die schlechtesten Dienste, weil ich Sie mit ihm auf immer entzweit glaubte.“ – Ganz richtig, wir waren es: Aber seit fünf Minuten ist er der rechtlichste Mann von der Welt, und wir sind Freunde auf ewig.

Voilà de vos arrêts, Messieurs les gens du monde!*)

*) Parodie des Verses:
Voilà de vos arrêts, Messieurs les gens d’esprit!



Ich komme auf meine Angelegenheit zurück.

Ich war ohne Geliebte und wollte verzweifeln.

Ich bitte um Vergünstigung, daß man das, was nun folgen wird, für wahr halte. Der Vorfall ist zwar nicht belustigend und kein reiches Feld für Schadenfreude und Bosheit; doch halte ich dafür, daß er mir zur Ehre gereicht.

Ein Mann, der noch lebt, und die Revolution nicht anders behandelt hat als den Hof – das heißt, vor jener in allen ihren Perioden, wie vor diesem, in dem Staube gekrochen ist – erbot sich, um mich zu zerstreuen, und den Kummer, der an mir nagte, zu lindern, mich in ein Haus einzuführen, in welches er selbst nicht eben auf die lauterste Weise sich Eingang verschafft hatte. Er hatte nämlich damit angefangen, ein junges Mädchen zu verführen, eine der ersten Partien der Hauptstadt. Sie hatte eine vielleicht noch liebenswürdigere Schwester, welcher sie einen Liebhaber verschaffen wollte, damit die Jüngere der Aelteren nichts vorzuwerfen hätte. Die Wahl des Herrn*** fiel auf mich, und es kam nun darauf an, mich bei der jungen Person in meiner neuen Eigenschaft zu beglaubigen. Er verlangte nichts weiter von mir, als einen feierlichen Eid, daß ich mein Glück nicht offenbaren wolle; ich leistete ihn, und nun führte er mich, in einer für die Liebe geschaffenen Nacht, zum Rendezvous, wo die beiden Schönen uns erwarteten. Die Aeltere zählte noch keine siebzehn Jahre: Ich erstaunte, ich erschrak über ihre Jugend, über ihre Schönheit, über die getäuschten Hoffnungen einer ansehnlichen Familie, über die Schande, die dem Hause bevorstand, über die Abscheulichkeit einer solchen Verführung, über die Mittel, deren man sich bedient hatte, sie vorzubereiten. Als ich vollends mit dem zarten Opfer allein gelassen wurde; als ich ihre Verlegenheit, ihre Tränen, ihre Abneigung gegen das Beispiel und die Lehren ihrer Schwester sah; da beschloß ich fest bei mir, nicht allein sie wie ein Heiligtum zu verehren, (de la respecter) sondern auch sie vor der Gefahr zu bewahren, die ihr drohte. Vielleicht war ich in diesem Augenblick einen Teil meiner Tugend der Stimmung meines Gemüts schuldig, aus dem die Spuren einer unglücklichen Liebe nicht verwischt waren, und welches noch immer die Farbe der tiefsten Schwermut trug.

„Lassen Sie es,“ sagte ich zu ihr, „zwischen Ihrer Schwester und sich zu keiner Erklärung kommen; sagen Sie ihr, wir gefielen einander, wir würden uns bald wiedersehen; ich würde mich nächstens wieder einstellen.“ – Auf diese Weise verflossen zwei Stunden in der unschuldigsten Unterhaltung. Unser tête à tête war eben so anständig, als die Veranlassung dazu es nicht gewesen. Alles was sie mir sagte, alles was ich in ihrem Herzen las, machte mich zufriedener mit mir selbst und gab mir neuen Mut, bei meiner Handlungsweise zu beharren; – ein Verfahren, das ich großmütig und edel nennen darf, denn das junge Kind war ein Engel und besaß alles, was mich in meinem besten Vorsatz hätte wankend machen können. Ich darf es mir um so mehr als ein Verdienst anrechnen, nicht von der Bahn gewichen zu sein, da nach der ersten Stunde ihre Tränen versiegt waren, und es nur wenig Ueberredung gekostet haben würde, sie zu meiner Mitschuldigen zu machen.

Wenn sich im weiblichen Herzen ein Anfang von Neigung eingefunden hat, so gewinnt man die reifen Frauen durch Gleichgültigkeit; die Unschuldigen hingegen lassen sich durch Empfindsamkeit, besonders durch ein sanftes Wesen ohne auffallende Zudringlichkeit, erobern.

Mein Geleitsmann, der seine Zeit – wie man’s nehmen will – besser oder schlechter als ich benutzt hatte, rühmte sich bei der Heimkehr, daß ich ihm „unendlichen Dank schuldig sei, und daß er mit seinen besten Freunden sich überwerfen würde, wenn diese den Vorzug erfahren sollten, den er mir gegeben.“

Ich dankte ihm, wie er es wünschte, und wir trennten uns in der Straße du Clerche-midi, wo unsere Wagen auf uns warteten. Sollten ihm diese Blätter zu Augen kommen, so wird er finden, daß mir nicht der geringste Umstand entfallen ist; zugleich aber mag er auch folgendes hier lesen, was ihm noch nicht bekannt ist.

Ich wohnte damals in der Vorstadt Saint Germain, mit dem Bischof von Limoges, bei einem Bader. Der Bischof war ein Biedermann von schlichtem, geradem Verstande; er kam selten nach Paris, und lebte dann ziemlich zurückgezogen, weil er kein Freund von großen Gesellschaften war. Er hatte mir Geld geliehen und hatte sich’s in den Kopf gesetzt, mich bekehren zu wollen. Ich weiß nicht, inwiefern ihm letzteres gelungen ist; so viel aber weiß ich, was das Geld betrifft, daß ich ihm die zweihundert Louisdor, die er mir geliehen, nie zurückgegeben, auch nie gewußt, an wen ich sie zurückgeben sollte. Ich mache mir übrigens kein Gewissen daraus; ich sehe sie als Geld aus dem Kirchenschatz an, und werde sie früher oder später den geistlichen Kindern Sr. Hochwürden, den Armen, wieder zustellen, – wenn ich selbst reich sein werde. Genug, am Morgen nach unserm nächtlichen Abenteuer, fand ich den Bischof bei seiner Schokolade sitzen; er las im Brevier, und murmelte halblaut etwas, wovon ich nichts verstand. Ich ließ ihn sein doppeltes Frühstück vollenden; und da er abwechselnd ernst und aufgeweckt, frei von Pedanterie und Weltlichkeit, und ein guter Gesellschafter war, so erzählte ich ihm, mit gehöriger Vorsicht, und mit Auslassung alles dessen, was den, der mir hatte gefällig sein wollen, hätte verraten und kenntlich machen können, die ganze Geschichte haarklein. Nie in meinem Leben habe ich einen Menschen so von Entsetzen und Abscheu ergriffen gesehen, wie ihn. Zum ersten Male verließ ihn Vernunft und Besinnung. Der gute Mann sprach von nichts Geringerem, als sich unverzüglich aufzumachen, und zum Minister von Paris zu gehen. – „Aber, Herr Bischof,“ rief ich ihm zu, „Sie verlieren ja den Kopf! Wollen Sie mich mit aller Gewalt kompromittieren, mich unglücklich machen? Ich erzähle Ihnen unschuldigerweise einen Vorfall, und Sie wollen mein Vertrauen und meine Aufrichtigkeit, die Sie so oft gepriesen haben, so schlecht belohnen?“ – „Nicht doch,“ rief er; „ Sie werden die größte Ehre dabei einlegen.“ – „Und das Geheimnis eines Freundes, das ich verrate! Und die Familie, die Sie in die äußerste Betrübnis und in Verwicklungen stürzen, welche sich weder voraussehen noch berechnen lassen! Und mein gebrochener Eid! Und das Aufsehen, der schreckliche Lärm, den es erregen wird! Und die jungen Damen, auf immer unwiderruflich verloren! Denn so viel sehen Sie doch wohl ein, daß der Schleier der Verleumdung nicht immer zerrissen wird, und daß die Bosheit nur allzuoft das Schlimmste für wahr hält ...“ – Jetzt fing er an, sich zu besinnen, mich zu begreifen, und sich etwas abzukühlen. Nach einigen Vorhaltungen von meiner Seite, nach einigen Einwendungen und Abänderungen von der seinigen, kam ein Vertrag zustande. Er bestand darin: Der Bischof sollte sich zum Vater der beiden jungen Damen begeben und ohne ins einzelne mit ihm einzugehen, sich bloß seines Ansehens und des Einflusses bedienen, den ihm sein öffentlicher und persönlicher Charakter und sein ausgebreiteter Ruf der Frömmigkeit gab, – um, ohne weitere Erklärung, ihn zu vermögen, daß er mit seinen Töchtern von Paris abreise, in seinem Verfahren gegen sie keine Aenderung treffe, und unter irgendeinem scheinbaren Vorwande den gefährlichen Mann sobald als möglich entferne. Die eine Tochter ist tot, die andere hat sich vermählt, und ist, nachdem sie in der großen Welt eine Rolle gespielt, vom Strome der Revolution fortgerissen worden. Sie lebt, wenn ich nicht irre, in einer der Provinzen Frankreichs und ist vergessen.

Ich mußte bald nachher die Jeremiaden und Threnodien meines nächtlichen Partners anhören, welcher eines Morgens früh zu mir kam und mich mit der Nachricht aufweckte: Unsere beiden Geliebten wären plötzlich verschwunden. Ich stellte mich von dem Bericht erschüttert; er seinerseits fand, daß wir beide gleich sehr zu bedauern wären.

Er wird sich vielleicht erinnern, daß wir zusammen frühstückten und ziemlich aufgeräumt und lustig wurden.

Ich will hoffen, daß er über den Streich, den ich ihm gespielt habe, lachen wird, und wünsche ihm von Herzen eine moralische, gute Besserung, damit er mir für den Streich danken möge. Uebrigens darf er mir nicht zürnen, denn ich erkläre ihm hiermit feierlich – sowie allen meinen Lesern – daß ich mich für bürgerlich tot ansehe, indem ich dieses Buch und die Wahrheit schreibe und mich folglich – des Geschriebenen wegen – keiner Verantwortlichkeit unterwerfe, mich keiner Herausforderung stellen werde.



Alles betrübte mich; alles ängstigte mein Herz; alles stellte mich den peinlichen Gedanken bloß, welche aus den Erinnerungen meines Lebens entstanden und sich mir wider Willen aufdrängten. Noch so jung, und schon enttäuscht und entzaubert, entschloß ich mich nach der Schweiz zu reisen. Dort wollte ich die gesunde, von den Alpenwinden gereinigte Luft einatmen; dort sollte meine verwelkte, verschrumpfte Seele sich wieder frisch entfalten; dort wollte ich meinen Zoll auf den Altar der Freiheit legen, deren Name noch nicht, durch Frevel aller Art, in jenen glücklichen Republiken entehrt war, die sich mit Recht die Wiege der Freiheit nennen.

Man wird aus dem, was folgt, sehen, daß ich nicht ohne hinreichenden Grund den Reflexionen über die unselige Duellsucht, gleich im Eingange dieses Kapitels, einen Platz angewiesen habe.

Ich schickte mich an, Paris zu verlassen, als ein Freund, der mir sehr zugetan war, mir vorschlug, ich weiß nicht mehr welches Stück, auf dem Théâtre des Boulevards, zu sehen, nach welchem ganz Paris lief; er bot mir einen Platz in einer Loge an, die er für sich und für eine Dame bestellt hatte, in welche er sterblich verliebt war, und deren Reize zu dieser Liebe berechtigten, obschon sie nicht von den Vorzügen des Verstandes und Herzens unterstützt wurden. Ich nehme das Anerbieten an, und wir sitzen zusammen in der Loge, als bald nachher die Türe der anstoßenden geöffnet wird, und zwei mir unbekannte Männer und ebensoviel Frauen eintreten. Einer von jenen bricht sogleich in ein unmäßiges Gelächter, und dann mit lauter Stimme in sarkastische Bemerkungen über Frauen ohne Sitten und Grundsätze aus. Er nennt sie die Pest der Gesellschaft, die sie aus ihrem Schoß ausstoßen sollte, anstatt sie in den Klöstern von Paris eine Zuflucht finden zu lassen – und schließt mit den Worten: „Wie früher der Welt, so sind sie jetzt den Klöstern ein Schandfleck.“ – Ich war von diesem Moralisten nur durch ein Brett getrennt, und nahm mir die Freiheit, ihn zu ersuchen: er möchte etwas leiser sprechen. Er tat’s, und zwar, wie es mir schien, mit guter Art, so daß ich glaubte, die Sache würde dabei ihr Bewenden haben. Im Zwischenakte war ich hinausgegangen und wurde beim Wiedereintritt von meinem Freunde, dem Grafen Du Touceville, unangenehm überrascht. Er sagte mir nämlich: Er bedürfe meiner nach dem Schauspiel, da er die Impertinenz jenes Herrn, der ihn schwer beleidigt hätte, rügen müsse. Nach dieser kurzen Erklärung ging er einen Augenblick hinaus, um sich von seinem Jäger einen Degen holen zu lassen, empfahl in der Zwischenzeit die Dame meinem Schutz, kam dann zurück und nahm seinen Platz wieder ein.

Nach Beendigung des Stückes führten wir die Dame zu ihrem Wagen. Ich muß es ihr zur Ehre nachsagen, daß sie äußerst bestürzt war, die Helena dieses neuen Kampfes zu sein. Während wir beide allein in der Loge waren, hatte sie mir vertraut, daß jener Hector ein Landjunker (hobereau) aus einer benachbarten Provinz sei, der ihr den Hof gemacht; sie setzte wohlbedächtig, und dem Gebrauche gemäß, die Worte hinzu: „In allen Ehren und Züchten.“

Ohne das genauer zu untersuchen, fahre ich in meiner Erzählung fort. Hinter einer Stelle des Boulevard du Temple zieht sich eine jähe, tiefe Kluft. Der Gegner meines Freundes schlug diese Stelle des Boulevard vor: „Hier könne man (dies war sein Ausdruck) recht bequem vom Leder ziehen; (en découdre là fort à son aise.) er verlange nur zehn Minuten, um bei einem Freunde in der Nähe einzusprechen, der ihm einen Degen leihen solle.“ – Herr Du Touceville hielt ihn einen Augenblick zurück, um sich zu erkundigen, mit wem er die Ehre haben würde, sich zu schlagen? – „Mein Name,“ erwiderte jener: „tut nichts zur Sache. Er kann Ihnen gleichgültig sein, und ist hier wenig bekannt. Das Wahre und Wesentliche ist: Ich habe Sie beleidigt; anstatt es zu bereuen, würde ich es noch einmal tun. Ich bin zugrunde gerichtet, verraten; mir bleibt nichts übrig, als von Ihrer Hand zu fallen, oder Ihnen den Degen durch den Leib zu rennen.“

Ich hatte Mühe, bei diesen Worten meiner mächtig zu bleiben. Eine so abscheuliche Logik und dabei ein so unverschämtes Wesen, ein so beleidigender Ton, oder vielmehr solcher Wahnsinn, solche Raserei!

Was Herrn Du Touceville betrifft, so war er ruhig wie die Unschuld selbst; in der Tat hatte er auch das Blut, welches soeben vergossen werden sollte, wenig oder gar nicht zu verantworten. Der andere hingegen, der an allem schuld war – ich meine den liebenswürdigen Kapitän Bramarbas – hatte mir auf meine Frage, ob er für keinen Sekundanten sorge, zur Antwort gegeben: Er schlage sich nie mit einem Zeugen; er habe zwanzig Ehrensachen abgetan, ohne das Leben eines Dritten in Gefahr zu setzen, und sei bereit, auch mir, wenn es mir anstände, zu zeigen, daß man sich ganz gemächlich, ohne Gehilfen, die Hälse brechen könne. Mit diesem Bescheide verließ er mich, um im vollen Laufe nach einem Degen zu suchen, und rief mir die Versicherung nach, er werde auf die Minute wieder da sein. Währenddessen sprach Du Touceville in einem mehr als feierlichen Tone und mit dramatischem Pathos zu mir: „Der Mann ist ein Kind des Todes, und hier sein Grab!“ Mit diesen Worten zeigte er auf den achtzig bis hundert Fuß tiefen Grund, der einige Schritte von uns lag.

Der Matamore ließ nicht auf sich warten. Er trug unter dem Arm einen Degen von einer Länge, die gegen die Gesetze der Ehre und die Vorschriften des Zweikampfes verstieß. Ich würde es für meine Pflicht gehalten haben, daran zu erinnern; allein Herr Du Touceville ließ mir nicht Zeit, warf blitzschnell die Kleider von sich, und zeigte seinem Gegner die offene Brust, was dieser ebenso schnell erwiderte. Es war noch ziemlich hell; gleichwohl, unter dem Vorwand besser zu sehen, zog ihn mein Freund dem Grunde, den ich früher beschrieben habe, näher und näher. Jetzt, fast am Rande desselben, begann der hitzigste, erbittertste, geschickteste Kampf, den man sich denken konnte, als plötzlich Du Touceville mit großer Behendigkeit eine Volle machte, die den Feind mit dem Rücken an den Rand drängte. Diesen Augenblick schien er nur abgewartet zu haben; denn jetzt stieß er ihm den Degen bis an den Griff in die Brust; packte ihn dann mit beiden Händen, wie ein heißhungriger Löwe, hob ihn vom Boden, und schleuderte ihn in die Tiefe. ... Ich gestehe, daß dieser Anblick mein Blut gerinnen machte, und ich einen lauten Schrei ausstieß, als ich den Unglücklichen, mit dem Degen in der Brust, hinabrollen sah. „Entfernen wir uns,“ sagte der Sieger, „er bedarf keiner menschlichen Hilfe mehr.“ Mit diesen Worten hob er den Degen auf, der dem Unbekannten aus der sterbenden Hand entfallen war, und fuhr fort: „Das ist ein böser Abend und ein schlechter Ersatz für ihn: Gehen wir!“

Das war auch meine Meinung; aber um alles in der Welt hätte ich mich von dem Orte nicht entfernen können, ohne mich nach Hilfe umzusehen, so sehr ich auch versichert war, daß sie vergeblich sein würde.

Du Touceville ging schweigend, betäubt, und im finstern Hinbrüten neben mir. Auf die vorige Waffenwut war ein Zustand der Abspannung und eine Art von Reue gefolgt: Ich gab ihm den Arm; er hatte Mühe, den ersten Fiaker zu erreichen, den wir vorfanden. Kaum hatte ich ihn in den Wagen gehoben, als ich in die nächste Wache (corps-de-garde du guet) lief und den Sergeanten besonders zu sprechen verlangte; ich drückte ihm ein Goldstück in die Hand und entdeckte ihm: Unten am Fuße des Boulevards (ihm den Ort näher bezeichnend) hätte ich Klagegeschrei und Winseln gehört. Darauf entfernte ich mich, und habe seitdem erfahren, daß hingeschickt und nachgesehen worden; daß aber die Hilfe zu spät angelangt, und der Unbekannte den verdienten – und vielleicht gesuchten Tod gefunden.

Da dieses Werk auch besonders zur Aufbewahrung meiner Erinnerungen bestimmt ist, so will ich hier eine historische Notiz des Helden dieses tragischen Abenteuers niederlegen, und das Grab eines Mannes mit Blumen bestreuen, der von wenigen gekannt, von vielen verkannt oder ihnen doch nur von einer schlechten Seite bekannt geworden ist. Ich will seine Fehler nicht zu verschleiern, wohl aber sein Gedächtnis vor Verleumdung und falschen Beschuldigungen zu retten suchen. Ich will von ihm sagen, was ich zuverlässig von ihm weiß und verbürgen kann. Er war kein Mann von gewöhnlichem Schlage.

Was ich hier niederschreibe, kann nützlich und heilsam für junge Leute sein, die mit Vorzügen, mit denen sie Mißbrauch treiben, oder mit Leidenschaften, denen sie nachgeben, ins große Leben eintreten.

Herr Du Touceville war aus einer sehr alten Familie in der Normandie entsprossen, welche, zwar selbst ohne Glanz, gleichwohl mit den besten Häusern der Provinz zusammenhing. Seine Voreltern, bis auf seinen Großvater ausschließlich, waren Protestanten gewesen; und man weiß, daß das eben kein Umstand war, um zu Hofgunst und Auszeichnungen zu gelangen. Sein Vater hatte in seiner Jugend eine Dragoner-Kompagnie im Regiment von Condé erhalten, verließ aber den Dienst, wo er sein Vermögen zugesetzt hatte. Er beging nachher den Fehler, eine ziemlich untergeordnete Stelle im Magistrate einer Stadt in der Normandie anzunehmen, und den noch größeren, diese Stelle zu einer Art von Geldgeschäft für sich zu benutzen. Dabei benahm er sich so ungeschickt, daß er noch tief unter das schon so unscheinbare Amt herabsank, das in keiner Hinsicht für ihn paßte. Zuletzt ergriff ihn Verdruß und Ekel; er ging ab. Ich rede von dieser Stelle als von einer, die nur der Vater bekleidet hat; denn man hat sich Mühe gegeben, sie in der Folge auf die Rechnung des Sohnes zu schieben, als seine Feinde die Absicht hatten, ihm wehe zu tun und ihn unglücklich zu machen. Der Sohn hat sie nie bekleidet; er ist als Page des Prinzen von Condé erzogen worden, und mochte es wohl leiden, daß man an ein näheres Verhältnis zwischen ihm und der Herzogin von Bourbon glaubte, an deren Hof er zuerst angestellt wurde. Da er sich aber nie über diesen Punkt deutlich gegen mich ausgesprochen, da ich sogar eine Menge Gründe habe, das Gegenteil vorauszusetzen, so bin ich um so mehr entfernt, dem Leben dieser Fürstin diesen Flecken anhängen zu wollen, da die Zeit der Widerwärtigkeit für sie ausgebrochen ist, und da in meinen Augen das Unglück einen noch heiligeren, unverletzlicheren Kreis um die Großen bildet, als die Konvenienz des Ranges, obschon diese für eben so heilig und eben so unverletzlich geachtet werden sollte.

Herr Du Touceville hatte eine einnehmende Gestalt und besonders etwas Edles und Großes in seinem Wesen.

Er ließ sich von zwei Anmaßungen fortreißen, die ihm beide verderblich geworden sind, weil sie zugleich einen gefährlichen, wilden und einen eiteln, kleinlichen Charakter andeuten. Im Grunde war der seinige keines von beiden.

Er galt nämlich für einen Mann, der sich durch Duelle und durch Glück beim schönen Geschlecht einen Ruf erworben hatte. Man kann nicht leugnen, daß er eine Menge Ehren- und Liebeshändel gehabt, deren einige großes Aufsehen gemacht haben. Zu den ersten zählt man vor allem die Ehrensache mit dem Grafen Durfort, der späterhin als Offizier in die Gardedukorps eintrat, und noch später, gleich nach dem Beginne der Revolution, zu ihr überging. Der Streit war auf einem Ball bei Frau von Espagnac entstanden, zu dem halb Paris eingeladen worden war. Die Veranlassung war eine Tanzstelle, die man sich streitig machte. Die Herrenhatten sich schon versöhnt; aber am folgenden Tage entschieden die Damen: Der Auftritt sei von der äußersten Umständlichkeit gewesen; es wären Worte gewechselt worden, wie man sie im Leben nicht gehört; (qu’ils s’étaient dit des choses de l’autre monde) es sei unerhört, unbegreiflich, daß sie sich noch nicht geschlagen hätten; beide hätten die Ehre verwirkt; hinfort sei es eine Schande, sie zu grüßen, und unmöglich, ihren Gruß nur mit der leichtesten Verneigung zu erwidern. Gründen von solcher Stärke mußte freilich nachgegeben werden. Die Damen erhielten volle Genugtuung. Die beiden Opfer ihres Geträtsches kamen überein, sich zu schlagen, und fingen mit der Versicherung an, daß sie einander hochschätzten, daß keiner über den andern zu klagen Ursache habe, daß sie aber einer den andern umbringen würden, einem Geschlechte zuliebe, das in der Gesellschaft vorschreibt, was Recht oder Unrecht, was ein guter oder schlechter Name ist, – so oft es sich nämlich die Mühe geben will, darüber zu entscheiden. Der Zweikampf fand unter der Leitung des Herrn von Foufay statt, der nachher eines so tragischen Todes gestorben ist. Sie verwundeten sich beide in demselben Augenblick, mußten mehrere Wochen das Bett hüten, schwebten neun Tage zwischen Leben und Tod, und der am leichtesten wegkam, war sieben- bis achtmal zur Ader gelassen worden.

Wenn es seine Richtigkeit hat, daß Herr Du Touceville sich oft geschlagen und sich viel damit wußte, so möchte ich doch nicht eben so zuversichtlich behaupten, daß es ebenso sich mit den bonnes-fortunes verhalten sei, deren er sich rühmte; wenigstens ist die Sache nicht ganz so klar, obgleich er alles tat, sich und andere von seinen Erfolgen beim schönen Geschlecht zu überzeugen. Er hatte Mätressen, das ist richtig; er wechselte sie oft; da es aber in diesem Punkt mehr auf die Auswahl als auf die Menge ankommt, und seine Freundinnen überhaupt aus geschiedenen Frauen, aus prozeßsüchtigen Pimbeschen (Vgl. Les Plaideurs de Racine. Uebers.) von der Provinz, aus Damen, welche im Précieux Sang, in der Conception (Klöster in Paris, in welchen gewisse Geheimnisse in der Stille abgetan wurden.) untergebracht waren, aus Tänzerinnen vom Corps de ballet, aus Schauspielerinnen der dritten Klasse usw. bestanden, so habe ich oft daraus geschlossen und es ihm selbst ins Gesicht gesagt, daß seine bonnes-fortunes (mit Ausnahme einer einzigen) nicht viel auf sich hätten und ihm keine sonderliche Ehre machten. Es lag in ihm ein Gemisch von Romanton, von Theaterton, von Hofton (denn er kannte den Hof) und vom Tone der niedrigen Gesellschaften, die er durch eine Folge der Umstände geraten war; und dieses Gemisch machte ihn unfähig, bei Frauen von gereifter Erfahrung, oder bei Frauen von gar keiner, sein Glück zu machen. Er verstand sich schlecht auf die Taktik der einen wie der anderen, der Ausgelernten wie der Naiven, kurz, er benahm sich ganz wie einer aus der Provinz. Ebenso linkisch behandelte er die schönen Künste. Er liebte Dichtkunst und Musik, ohne gründliche Kenntnisse darin zu haben. Besonders habe ich an ihm bemerkt, daß er, dem es übrigens nicht an Sinn und Geschmack fehlte, nie einen so schlechten Ton hatte, als wenn er verliebt war.

Frau von Vierville vom Hofe Orleans war mit ihm verwandt. Es war ihr gelungen, ihm in die Gesellschaft des Herzogs von Orleans und der Frau von Montesson zu bringen. Bei letzterer spielte er Komödie; schlecht genug, aber in seinen Augen sehr gut, und das lief bei ihm auf eins hinaus, obschon nicht bei andern. Die Folge war, daß er eine Menge Verse auswendig wußte, die er bei jeder Gelegenheit in den Gesellschaften anbrachte, wobei er aber nicht verfehlte, wie so viele Schauspieler von Metier,*) sie zu verzerren, bald durch Einschiebsel, bald durch Versetzungen, bald durch Verstümmelung, bald durch Verwechselung eines Wortes mit einem andern. Nie habe ich einen Menschen gekannt, der so wenig Takt und Gehör gehabt hätte wie er.

Seine zur Unzeit prahlende Geckenhaftigkeit; das Gerücht (wahr oder falsch), das sich durch seine Schuld verbreitet, und durch ihn Gewicht erhalten hatte; ungereimte Anmaßungen und sogar Forderungen hatten ihm das Palais-Bourbon verschlossen. Ebenso verschloß sich eines Duells wegen für ihn das Palais-Royal. Er schob zwar die Schuld auf das Spiel; allein der Herzog von Orleans würde gewiß die Spielschuld übernommen haben, hätte sich Du Touceville bereit finden lassen, mit einem Obristenpatent in der Tasche nach Ostindien abzusegeln.**) Er hatte (wenn ich nicht irre, in Rainsy) mit den Herren De la Marck und de Gouvernet gespielt und verloren. Er bezahlte nicht; es kam zu Worten, zu Anzüglichkeiten; man wurde empfindlich; ein Duell erfolgte, in welchem Herr von Gouvernet verwundet wurde. Der Herzog, der ihm persönlich zugetan war, nahm so viel Anteil an dem Handel, daß er sogar als Vermittler bei dieser kleinen Stänkerei (tripotage) aufzutreten geruhte, Herrn Du Touceville zu sich in sein Kabinett berief, und ihn, wie dieser selbst gegen mich verlauten ließ, mit den Worten eines Vaters zur Vernunft zu überreden suchte. Allein Du Touceville hatte einen so übermütigen und respektwidrigen Ton angenommen, daß er die Gunst des Fürsten verscherzte. Dazu kam noch die Wunde des Herrn von Gouvernet, die dem Herzog um so empfindlicher war, da er alles getan hatte, sie ihm zu ersparen. Du Touceville erhielt die höfliche Weisung, in Zukunft nicht mehr zu erscheinen. Das tat er denn auch, nachdem er vorher einen höchst unschicklichen Brief an den Herzog geschrieben hatte. Jetzt wendete er sich mit seinen Hoffnungen nach Versailles, wo er bereits vorgestellt worden war. Allein er konnte es nie dahin bringen, nur zur Cour aufgerufen zu werden, (d’obtenir un ordre de début.) weil man dem K?nige ein ungünstiges Vorurteil gegen ihn beigebracht hatte. Man hat ihm sogar das Recht der königlichen Wagen streitig machen wollen; (ses preuves pour les carosses.) worüber mir aber, der ich den Beglaubigungsschreiben des Herrn Cherin und einen Brief des Herzogs von Coigny in Händen gehabt, nicht der Schatten eines Zweifels bleibt. Ueberdies scheint mir jetzt das alles ziemlich gleichgültig, und wenn ich es erwähne, so geschieht es bloß historisch; ich rede davon, wie von den Ruinen von Palmyra, Athen und Rhodus.

Herr Du Touceville richtete, wie schon gesagt, seine Blicke auf Versailles, wo er einige Wochen lang bei der Königin in ziemlicher Gunst stand; allein Haß und Verfolgung bleiben nicht auf halbem Wege stehen; ihr Motto ist:

Nil actum reputans, dum quid superesset agendum.

Ich kann aber auch nicht in Abrede stellten, daß er seinen Feinden viele Blößen gegeben. Man erinnerte an die Vergangenheit, man stellte ihm sein Horoskop für die Zukunft; man tat, was man konnte, ihn zugrunde zu richten; man ging so weit, daß man das Geschäft und die Handlungsweise seines Vaters aus dem Grabe hervorzog und den Sohn dafür verantwortlich machen wollte; man sprach von jenem niedern Amte, dessen ich erwähnt; man schloß damit, daß man ihm den Adel streitig machte.

Er war aber der Mann nicht, der eine Anschuldigung dieser Art ertragen konnte, so ungereimt sie auch immer sein mochte. Im Gegenteil, je mehr man seine Geburt anfeindete, desto mehr hielt er auf seinen Stammbaum, desto öfter führte er seine Abkunft, das Alter seiner Familie und die Verbindungen derselben mit den ersten Häusern der Monarchie an. Er trug fast immer heraldische Beweise, Scheine und Diplome bei sich, womit er sich brüstete und legitimierte. Der verstorbene Prinz von Salm und ich spotteten so lange darüber, bis er von der närrischen Gewohnheit abließ.

Das erinnert mich an eine lustige Anekdote. Er erfuhr einst, daß ich beim Prinzen von Bauffremont, der unendlich viel Güte für mich hatte, eingeladen war. Dieser Herr, einer der vortrefflichsten Männer von Frankreich, ist zwar nie zu den hohen Stellen des Hofes und des Reiches gelangt, hätte sie aber eben so sehr als andere durch seine Eigenschaften und mehr als viele andere durch seine Geburt verdient, ***) Du Toucevilleversicherte mir, er habe den Prinzen ehedem oft gesehen, und ersuchte mich, für ihn die Erlaubnis auszuwirken, ihm aufzuwarten. Ich tat es, und der Prinz erteilte sie.

Einige Tage nachher führte ich ihn ein. Wir kommen an. Du Touceville erschöpft sich in Eingangskomplimenten. Dann aber, mit einemmal, fängt er an: Prinz, die Ehre die ich habe, mit Ihnen nahe verbunden zu sein, macht mir das Glück doppelt unschätzbar, Sie wiederzusehen. Die vielen Eheverbindungen...“ – „Monsieur!“ sagte der Prinz mit einer verlegenen Verbeugung. – „Ja; Prinz, wir sind, Sie und ich, mit dem Königlichen Hause, folglich miteinander verwandt: Hyacinth Maximilian Du Touceville und Yolanthe von Burgund ...“ – „Monsieur!!“ – „Ja, Prinz, mein Haus und das Haus Bourbon haben zu mehreren Malen ...“ – „Monsieur!!!“ –

Der Prinz von Monaco, ein intimer Freund des Prinzen von Bauffremont, war gegenwärtig. Er ließ, wie man weiß, keine Gelegenheit vorbei, sich über andere lustig zu machen und persiflierte seinen Bedienten, wenn ihm gerade sonst niemand in den Wurf kam. Er nahm das Wort, unterbrach den Genealogisten, und sagte: „Mein Herr, nehmen Sie sich in acht, Sie werden dem Prinzen von Bauffremont einen solchen Schrecken einjagen, daß er es nie wagen wird, sich zu Ihrer Familie zu bekennen!“ – Man meldete jemanden, die Sache hatte dabei ihr Bewenden, und Du Touceville war der einzige, der nicht merkte, daß er die Zielscheibe des Spottes gewesen.

Nach dem verunglückten Versuche, bei Hofe anzukommen, schlug er seine Garderobe los, die nichts weniger als unbedeutend war: er scherzte selbst darüber und sagte: „Für Paris sei ein schwarzer Rock alles was er brauche.“ Als ich einst diese Saite berührte, nahm er einen tragischen Ton an und sprach: „Ich bin wie die Könige, welche, nachdem sie in der Weichlichkeit der Höfe den Luxus der Prachtkleider erschöpft haben, Helden und Eroberer werden und die einfache Kriegs- und Feld-Uniform anlegen!“ – Er hielt jedoch nicht Wort, denn in den letzten Jahren seines Lebens habe ich ihn bisweilen „mit Stickerei bedeckt“ einhergehen gesehen, besonders wenn er verliebt war, oder es ihm an Geld fehlte.

Man darf aber nicht glauben, daß er immer so sprach. Nein, er konnte bisweilen sehr liebenswürdig sein. Er hatte einen ausgebildeten Verstand, dem es aber meiner Meinung nach an einem gewissen Ichweißnichtwas? fehlte, das sich besser fühlen als beschreiben und erklären läßt. Dabei hielt er sehr auf altes Rittertum, übertrieb aber die Sache, und schien mehr daran zu hängen, als er im Grunde daran hing. Seine Huldigung und Ehrerbietung für die Damen ging über alles; ****) doch nur in der Theorie, denn in der Anwendung war es anders; da wich er oft genug von seinen Grundsätzen ab, worin er überhaupt strenger für die anderen, als für sich selbst war. Er war ein großer Komplimentendrechsler, fiel aber oft in das entgegengesetzte Extrem, und zeigte sich dann über alle Maßen kurz angebunden, rauh und grob. Von der feinen Ironie hatte er keinen Begriff, obschon viel Anlage zum Spott; was er aber im höchsten Grade besaß, und in ernsthaften, wichtigen Fällen geschickt anbrachte, war ein verschlossenes Wesen, eine stumme Miene, eine wichtige Attitüde. Er wußte sich ganz das Ansehen des Verschwiegenen zu geben.

Von Schicksalsschlägen getroffen und zu Boden geschmettert, aus den Reichen dieser Welt und von ihren Großen verstoßen und enterbt, zog er sich in die Provinz zurück, kam nach einigen unbedeutenden Liebesabenteuern und Siegen auf diesem Winkeltheater nach Paris zurück, mit sechzigtausend Franken, die ihm ein deutscher Fürst geliehen hatte, weil er ihn für einen zweiten Vardes hielt, den ein zweiter Ludwig XIV.5) von seinem Hofe verbannt habe. Wer vierhundert Stunden von Versailles entfernt ist, kann so etwas leicht glauben. Er machte nun ein Haus, und legte sich eine Dienerschaft und einen Hausstand zu, der ein Einkommen von hunderttausend Franken erfordert hätte. Auch wurde stark bei ihm gespielt. Gegen das Ende seines Lebens, das mit einem stürmischen Tage verglichen werden konnte, fielen einige Sonnenstrahlen auf seine Bahn. Auf einer Reise in die Bretagne vermählte er sich mit einem jungen Mädchen von guter Familie. Er behauptete sogar, sie stamme von einem Ritter ab, der bei der ersten Ordenspromotion Heinrichs III. zum Ritter geschlagen worden sei; (Heinrich III. stiftete 1352 den Heiligen-Geist-Orden. Uebers.) ein Punkt, der in meinen Augen so gleichgültig war, daß ich nie daran gedacht habe, ihn zu beleuchten. Seine Gemahlin brachte ihm einiges Vermögen zu. Kaum hatte er es aber in Händen, als er wieder nach Paris eilte, um es loszuwerden. Bei so vielen Schwankungen, bei so abwechselndem Steigen und Fallen auf der Glückswage, mußte er wohl vor der Zeit alt werden, und bald blieb ihm nichts übrig, als sich hinzulegen und zu sterben. Dazu entschloß er sich denn auch. Die Erde nahm ihn, nach einer langwierigen und schmerzhaften Brustkrankheit, in ihren Schoß auf. Ihm blieb beim Eintritt derselben die Gefahr, worin er schwebte, nicht unbekannt; mit großer Seelenruhe und Standhaftigkeit sah er dem Tode entgegen, und nur zwölf Stunden vor seinem Scheiden sagte er zu mir: „Ich mache es wie die großen Schauspieler, die von der Bühne abtreten, ehe sie aufgehört haben, dem Publikum zu gefallen. Wir leben in beklagenswerten Zeiten, (Er sprach das im Jahre 1791.) auf die noch schrecklichere folgen werden; ich erlebe sie nicht; ich habe von den Gebrechlichkeiten des Alters nichts zu fürchten; ich erlösche nicht im langsamen Todeskampfe meines verwitterten Wesens. Ich war kein Tugendheld, aber auch kein Bösewicht. Würdigt mich derjenige, der uns ins Leben ruft, eines Blickes, so wird er mir vergeben. Ich sterbe, wie der Rechtschaffene sterben soll, ohne Schwachheit und Kleinmut. Ich sterbe, wie man in Rom und Athen starb.“

Und in der Tat ist er zu sehr gelegener Zeit gestorben; selbst für seine Gläubiger, die sonst nichts von ihm zu erwarten hatten, als die Aussicht, ihm neuen Kredit zu geben.

Er zählte, wenn mir recht ist, noch nicht siebenunddreißig Jahre, und hinterließ zwischen drei- und viermal- hunderttausend Franken Schulden. Das heißt also, wie gesagt, zu sehr gelegener Zeit und nach allen Regeln sterben.

Ich kam von einer ziemlich langen Reise zurück, als ich ihn mit einem Fuße im Grabe fand. Meine Erscheinung war ihm angenehm; er unterhielt sich philosophisch mit mir über die kleine Anzahl derer, die ihn vermissen würden, über die große Zahl derer, die ihn verkannt hätten, und führte dabei Delilles Verse an: Quel homme vers la vie, au moment du départ, Ne se tourne, et ne jette un triste et long regard? A l’espoir d’un regret ne sent pas quelque charme, Et des yeux d’un ami n’attend pas une larme?

Ich versprach ihm, dieser Freund sein zu wollen, und habe Wort gehalten.

Die hier entworfene Schilderung ist zwar kein Panegyrikus und nichts weniger als geschmeichelt. Doch spricht sie ihm mehrere gute Eigenschaften nicht ab, die ihm Zuneigung und Teilnahme gewannen. Er war ein treuer Freund, sparte nichts, wenn es darauf ankam, denen zu dienen, die er wahrhaft liebte. Dabei ist noch zu bemerken, daß er, der sich selbst fast nie zu raten wußte, anderen fast immer guten Rat gab. Sein Herz war vortrefflich, und obschon seine Aufführung nicht tadelfrei gewesen, so habe ich doch nur wenige gekannt, die, wie er, sich durch das bloße Wort Ehre zu so großen Opfern verstanden, und sich – so vielen Gefahren ausgesetzt hätten. Es fehlte ihm in vielen Fällen an Takt; allein die Energie seines Charakters ersetzte fast immer diesen Mangel, und glich die Nachteile wieder aus. In der Liebe war er von einer grenzenlosen Eifersucht; dennoch konnte er sie (wie ich es durch eigene Erfahrung weiß) der Freundschaft zum Opfer bringen. Seine Leidenschaften waren um so heftiger, da sie ihren Sitz mehr im Kopfe und in der Eitelkeit, als in seinem von Natur wohlgeordneten Herzen und in seinem Verstande hatten, der ihm stets das Rechte und Richtige wies, wenn ihn gekränkte Reizbarkeit und beleidigter Stolz nicht irreführten. Um in dem alten monarchischen Frankreich zu Achtung und Glück zu gelangen, fehlte ihm – was man allerdings von einem jungen Manne, der ohne Leitung und Vorbereitung in die große Welt eintritt, schwerlich erwarten kann – so viel Charakter als man nötig hat, um ihn bei vorkommenden Fällen zu verbergen; so viel Verstand, um nur das Erforderliche davon zu zeigen; so viel Geschmack, um einfach und nicht abstoßend zu sein; so viel Solidität, als dazu gehört, den Schein zu vermeiden, als wolle man glänzen.

Ich habe ihn in seiner Glücksperiode gekannt, bin ihm in allen Glückswechseln treu geblieben, und habe in einer zwölfjährigen engen Verbindung mit ihm wichtige Freundschaftsdienste, unzählige Beweise der Willfährigkeit und unzweideutige Proben einer gänzlichen Ergebenheit von ihm erhalten. Er hat mir stets Anlaß zur Liebe, nie zur Klage gegeben. Es war nur Gerechtigkeit von meiner Seite, wenn ich ihm zugetan war, und sein heroisches Betragen bei seinem Ende, verbunden mit so mancher Erinnerung an unser Verhältnis, machen mir sein Andenken teuer. Ich muß noch hinzusetzen, um ihm volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß er, in vieler Hinsicht, weit über einer Menge von Leuten stand, die, nachdem sie mit ihm verkehrt, oder ihm wenigstens im Leben begegnet sind, sich in der Folge gestellt haben, als sei er ihnen unbekannt und sogar verächtlich gewesen (was überhaupt etwas Gewöhnliches und Bequemes ist).

Ich bin in dieser Schilderung weitläufig gewesen. Die Stimmung meines Gemüts brachte mich dazu. DuTouceville war einer von denjenigen, die in mir ein unauslöschliches Andenken zurückgelassen haben, ohne daß ich es mir recht erklären könnte, wie und warum ich mich so eng mit ihm verbunden. Man hat mir unser Verhältnis zum Vorwurf gemacht; mein Herz hat es beständig gerechtfertigt. Ein Mann von Ansehen warf es mir einst in England vor, und gab mir sein Befremden über meine Parteinahme für einen solchen Freund zu erkennen. Ein anderer, der in jeder Hinsicht noch höher stand, fragte mich einst in Berlin: „Was wohl eine Verbindung dieser Art so Anziehendes für mich hätte haben können? Er habe Du Touceville in Paris gekannt, ohne je das Geheimnis seines Verdienstes auffinden zu können.“ Diese Bemerkung hat mich nicht befremdet. Du Touceville konnte weder mittelmäßig gefallen noch mißfallen. Aber Sie werden sich erinnern, teuerster Prinz, daß ich Ihnen damals zweierlei versprach; erstens, Ihnen den Beweis zu liefern, daß Sie ihn nie gekannt haben; zweitens, Ihnen ein treues Bild zu entwerfen, aus welchem Sie entnehmen möchten, daß Sie ihn bloß gesehen haben. Ich habe mein Versprechen erfüllt.

Wenn das, was man von Du Touceville hier liest, einigen lang und weitschweifig vorkommen sollte, so müssen diese es mir verzeihen, wenn ich sie für oberflächliche Leser erkläre, bei denen das Ansehen der Person gilt. Seine Name klingt vielleicht unangenehm in ihren Ohren; sein Andenken kann keinen Reiz in ihren Augen haben. Sollte denn aber gar nichts Merkwürdiges und die Aufmerksamkeit Fesselndes sein, ich will nicht sagen, in den Farben, deren ich mich bedient habe, sondern in dem Ensemble, in den Details des Bildes, von dem ich hier die Skizze entwarf? Sollte kein Vorteil aus dem Spiele zu ziehen sein, welches das Schicksal mit ihm getrieben? keine Lehre daraus zu ziehen sein ? Sollte nichts aus der Betrachtung der Widersprüche und Gegensätze, welche in ihm waren, aus den verschiedenen Aspekten und Erscheinungen zu lernen sein, welcher dieser zugleich so starke und so schwache Charakter entwickelt hat?

Habe ich unrecht, so habe ich mich gröblich getäuscht, so bedarf es für mich der ganzen Schonung und Nachsicht meiner Leser, und ich ersuche sie darum. Habe ich aber recht? Nun dann kommt’s nicht auf die Person an, die meinem Pinsel gesessen hat, und ich bin absolviert.

Ich gehe noch weiter, lieber Leser, und wünsche dir in den schwierigen Lagen deines Lebens einen so ergebenen Freund, ein so zuverlässiges Herz, ein so zartes, feinfühlendes Gemüt, als ich in dem Grafen Du Touceville gefunden habe. Doch da sein Name in diesen Memoiren wieder vorkommen wird, so wirst du Gelegenheit finden, ihn nach seinen Handlungen besser, als nach meinen Worten zu beurteilen.

Ich möchte gern im Schreiben Ordnung und Zeitfolge beobachten; allein mich reißen die Ideen, die Rückerinnerungen meines Lebens, mit sich fort, und so geschieht es, daß ich oft lange Zeiträume durchlaufe, die ich hernach wieder zurückschreiten muß.

So hat mich z.B. die Episode dieses Todes zehn Jahre überspringen lassen. Ich eile zurück, und komme wieder auf den Punkt, wo ich den natürlichen Gang meiner Geschichte unterbrochen hatte.

Man hat gesehen, wie ich Frau von De***, das letzte Mal, als ich ihr in diesem Leben begegnet, verließ. Einige Tage nach unserer Trennung erhielt ich von ihr ein Billet, dessen Inhalt das kälteste Herz gerührt haben müßte. Sie warf sich den Kummer vor, den sie mir verursacht; sie suchte nicht einmal ihre Absicht zu verhehlen, und gestand mir offenherzig, daß Eifersucht die Reinheit derselben vergiftet habe; sie gab dieser feindseligen Empfindung, die sich ihrer bemeistert hatte, alle Schuld; und, von Reue verzehrt, einer Krankheit unterliegend, die von den Aerzten für unheilbar erklärt worden war, wünschte sie nur noch einmal vor ihrem nahen Ende, mich zu sehen. Ich würde ein Barbar gewesen sein, wenn ich sie in diesem Zustande mit neuen Vorwürfen gekränkt hätte, auch tat ich es nicht; aber ich fand mich nicht edel und großmütig genug, sie zu trösten, weil ich mich selbst untröstlich fühlte.

Ich reiste noch an demselben Tage ab, und beantwortete ihr Schreiben erst in Lyon, wenige Tage vor ihrem Abscheiden.

So schwinden Individuen und Menschenalter dahin, nach einigen Augenblicken eines peinlichen Ringens, eines ängstlichen Lebenstraumes, dessen kurze Dauer so qualvoll, dessen Ziel so beschränkt, dessen Wünsche und Aussichten so grenzenlos sind! So drängt und stürzt – wie die Naturkraft Wolken auf Wolken in ewiger Folge um die höchste Bergspitze sammelt und sie von ihr einsaugen läßt – ein eiserner Arm auf unsichtbare Weise die große und beweinenswürdige Familie der Menschheit in einen Abgrund, dessen Tiefe keine Hand gemessen, dessen Räume kein Fuß durchwandert hat, aus dem keine Rückkehr zu hoffen ist!

So wirst du denn, o Mensch – vollkommenes Wesen, Beherrscher der Natur, Bändiger und Eroberer aller Elemente – der Erde, diesem Sitze der Zerstörung und Verwüstung, dessen Herr und Gebieter du dich dünkst, nur gezeigt, um einen Augenblick den Staub derselben zu betreten und schon im folgenden den deinigen mit ihm zu vermischen!

Where is the dust, which has not been alive!

O Nichtigkeit aller unserer eitlen Bemühungen! O Leere aller unserer trügerischen Freuden! Wie? Der Mensch, ein so vollendetes, vollkommenes Wesen. ... Doch halt! bleiben wir einen Augenblick hier stehen! Ist jene so gerühmte Vollkommenheit, ist jenes Gefühl einer in unseren Augen so allgemein anerkannten und bestehenden Ueberlegenheit nicht vielleicht das phantastische Werk unserer stolzen Vorurteile? Bestehen sie in der Wirklichkeit, wie wir es so keck bejahten? Können wir überhaupt wissen, ob etwas auf dieser Erdkugel existiere, die wir nicht kennen, die von Welten umgeben ist, welche wir ahnen und mutmaßen, von welchen wir aber nichts mathematisch beweisen können? Wer hat uns gesagt, ob es uns nicht an Sinnen fehle, deren Besitz und Gebrauch uns die Unvollständigkeit des uns zugeteilten Unterrichts, und das Geheimnis unserer Organisation und unserer künftigen Schicksale enthüllen würde? Wer hat uns gesagt, ob der Elefant, der Biber nicht ebenso vollkommen, ob sie nicht in den Augen der Natur und ihres Erschaffers weit künstlicher zusammengesetzt und unbegreiflicher sind als wir?

Wer hat uns gesagt, ob sie sich nicht ihrer überwiegenden Intelligenz, ihrer Vorzüge über uns rühmen? Und überdies, selbst in der Voraussetzung, daß wir die vollkommensten tierischen Geschöpfe auf Erden sind, würde schon daraus folgen, daß wir überhaupt die herrlichsten, die vollendetsten Werke der Schöpfung wären? Würde daraus folgen, daß unsere Bestimmung die Unsterblichkeit sei? ... Doch ja, wir sind für die Unsterblichkeit geboren; wir sind ein ungeteilter Ausfluß der ewigen Substanz; wir sind die Sprößlinge des himmlischen Urhebers aller Dinge, der, wie ohne Anfang, so auch ohne Ende ist!! Wären wir bestimmt, mit unserer sterblichen Hülle vernichtet zu werden, wie müßte jenes Wesen in unseren Augen erscheinen? Würden wir nicht zugleich in ihm den Mächtigen sehen, der uns das Leben gab und erhält, und den Sinnlosen, den Schadenfrohen, der es uns zur Qual gemacht, der uns dazu verdammt hat? Würden wir nicht zugleich in ihm das freigebige und das barbarische Wesen erblicken, den Spender der Existenz und den Sender aller Plagen, die die Bedingung und die Geißeln derselben sind? Würde er uns nicht als derjenige erscheinen, der zugleich den unauslöschlichen Durst nach Glück, und das Bedürfnis in uns legte, uns gegenseitig den Weg zum Glücke zu versperren? Der zugleich den Durst nach Vergnügen und Genuß in uns weckte, und uns die Fähigkeit versagte, darnach zu haschen, oder wenigstens das Erhaschte festzuhalten? Der den Werken seiner Schöpfung das Siegel des Friedens und der Harmonie aufdrückte, und im Menschen den Keim legte zum ewigen Kriege mit dem Menschen? – Würde dieses Wesen in unseren Augen nicht unbegreiflich, nicht bizarr und im Widerspruch mit sich erscheinen, wenn es, ohne ein genau berechnetes Ersatzsystem, ohne vergütenden Hinblick auf die Zukunft zugäbe, daß ein Lavoisier, ein Malesherbes, ein Marschall de Mouchy unter den Streichen eines Robespierre fielen?? Ohne allen Zweifel!!!

O du, das gerechteste, das bewundernswürdigste aller Wesen! Ich irre nicht, wenn ich mit einem Blicke zu dir ausrufe: Wir sind unsterblich! Der Uebergang aus diesem Leben ist nur eine Stufe zum andern; diese Welt nur ein Stand der Prüfung und Lehre! Nachdem wir daraus geschieden, werden wir erkennen, daß wir nur die notwendigen Teile eines Ganzen waren, das von dir zu fein angelegt worden ist, als daß wir dessen Zusammenhang erraten könnten; wir werden einsehen, daß alles hienieden Verzweiflung und Lüge ist, nur die Tugend ausgenommen; und daß diese, die allein dazu beiträgt, uns minder unglücklich auf Erden zu machen, uns in einer bessern Ordnung der Dinge wahrhaft glücklich machen wird.

*) Besonders der große Schauspieler, der mit so schönem Talente, mit so ausgezeichneten Kunstgaben so viele und große Fehler verband – Molè. Es war ihm nicht möglich, einen Vers herzusagen, ohne ihn durch den Zusatz eines si, eines mais, eines tenez! zu verhunzen. Dazu kam noch sein beständiges Anstoßen und Stottern! Verf.

**) Man bemerkt hier für einige auswärtige – und auch für einige andere – Leser, daß hier vom Herzoge von Orleans, dem Großvater des jetzt Lebenden, die Rede ist. Ein vortrefflicher Fürst, der es noch im Grabe, wie ich glaube, für ein Glück schätzt, gewisse Zeiten nicht erlebt zu haben. Verf.

***) Die strengen Moralisten warfen ihm vor, daß er sich noch als Greis eine Maitresse hielt und im späten Alter allen Schwachheiten der Jugend nachhing. Doch was will das sagen? Er war ein galant homme, von liebenswürdigem Verstande, von einem herrlichen Gedächtnisse. Er war des Herzogs von Choiseulvertrautester Freund gewesen, der doch seine Freunde nicht gewöhnlich aus der Klasse der Dummköpfe und Langweiligen nahm. Der Hof tat nichts für ihn; Spanien schickte ihm das Goldne Vließ, als er schon in den Sechzigern war, weil es dem alten Schlendrian folgte (l’Espagne était routée.) und seit mehr als zweihundert Jahren gewohnt war, den Bauffremonts, von Vater auf Sohn, das Widderfell umzuhängen. Verf

****) Auf einem Spaziergange bei Vincennes sah er einst jemanden, der eine Frau, allem Anschein nach eine Geliebte, schlug. Er stürzte auf ihn ein, prügelte ihn halb tot und rief immer dabei: „Auf die Knie vor Madame! auf die Knie!“

5) Soll heißen: ein zweiter Heinrich IV. Dessen Leibkoch war Vardes , der aber auch die Liebesbriefe der Schwester des Königs besorgte, so daß Heinrich von ihm zu sagen pflegte: Il gagne plus à porter les poulets de ma soeur, qu’á piquer les miens. – Wortspiel mit poulets, Liebesbriefe, und poulets, Hühner. Uebers.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band