Am Mineralbrunnen

Der eisige Novembersturm streift die letzten braunen Blätter von den Bäumen und wirbelt sie mit vereinzelten kleinen Schneeflocken durcheinander. Bleifarbig hängt der Himmel über der öden Landschaft, als ob er sich in jedem Augenblick auf die Erde niedersenken wolle, um das letzte, im Freien zurückgebliebene Leben gewaltsam zu erstarren.

Ohne Furcht oder Bedauern über meinen Entschluß sehe ich dem Winter entgegen, den langen einsamen Nächten und den kurzen Tagen. Ohne Furcht oder Bedauern stehe ich im Begriff, mich auf Monate in diese Widnis zu vergraben, in eine Wildnis, in der keine menschliche Stimme an mein Ohr dringt, der Ton meiner eigenen Stimme von niemand gehört, unheimlich in den endlosen Räumen verhallt.


Doch nein, ich darf nicht ungerecht sein; denn während ich die Geschichte meines wechselvollen Lebens niederschreibe, werde ich mit schüchterner Anhänglichkeit beobachtet, und wenn ich von meiner Arbeit zufällig emporschaue, blicke ich in die dunklen melancholischen Augen eines indianischen Kindes, meines Schützlings, wahrscheinlich einer der letzten des einst so mächtigen und glücklichen Mandanen–Stammes.

Das arme Mädchen, das mit dankbarem Herzen zu mir wie zu einer Gottheit emporblickt, mildert das traurige Gefühl der gänzlichen Vereinsamung, das mich bei dem Gedanken an den langen, unerbittlich strengen Winter beschleicht. Ich kann mir wenigstens sagen: „ich bin nicht allein“; und ist es mir auch nicht vergönnt, mit dem armen, von der ganzen Welt verlassenen Wesen eine meiner Vergangenheit entsprechende Unterhaltung anzuknüpfen, so vermag ich doch es zu belehren und zur Aufnahme in eine Mission vorzubereiten.

Das verflossene Jahr war für mich ein glückliches, wenigstens insoweit, als ich genug erübrigt hatte, um abgesondert von andern Menschen und unbelästigt von den Anforderungen selbstsüchtiger Handelsgesellschaften den Winter verbringen zu können. Auch besser ausgerüstet habe ich mich, denn was mir in früheren Jahren mangelte, das besitze ich jetzt in Fülle, nämlich die Mittel, mein wechselvolles Leben zu beschreiben und dabei meine ganze Vergangenheit gewissermaßen noch einmal zu durchleben. –

Welch seltsamer Kontrast zwischen dem Früher und dem Jetzt; zwischen dem Knaben, der einst in jugendlicher Vermessenheit wähnte, den Himmel erstürmen zu können, und dem ernsten Mann, der als einsamer Pelzjäger die wilde, freie Natur durchstreift, um sein kärgliches Brot zu erwerben!

Eine selbstgeschaffene Erdhöhle bildet meinen Palast, ein von Bibern und Ottern reich belebtes Nebenflüßchen das Feld meiner Tätigkeit, und in geringer Entfernung wälzt der Missouri seine gelben Fluten auf tausendjähriger Bahn dem Golf von Mexiko zu.

Wie der Himmel so schwer, so bleifarbig niederhängt; wie der Sturm mit dürren Blättern und Schneeflocken spielt und heulend zwischen den Hügeln hindurch auf den majestätischen Strom niederfährt! Wie die Raben und Krähen unheimlich krächzen und ihre starken Schwingen im Kampfe gegen den heftigen Wind prüfen! Wie lange wird es noch dauern, und der Missouri träumt unter starrer Eislast, während tiefer Schnee Wald und Flur ungangbar macht und mir jede Verbindung mit andern Menschen vollständig abschneidet?

Das verkohlende Holz knistert auf dem glühenden Aschenhaufen und verbreitet eine angenehme Wärme in meiner wenig umfangreichen Hütte; die junge Mandanen–Waise arbeitet mit einer für ihre Jahre ungewöhnlichen Fertigkeit an weichen Mokasins, und zu ihren Füßen spielt ein gezähmter Waschbär gar anmutig mit einer Büchsenkugel. Ich selbst aber sitze vor einem Felsblock, und mit leisem, schnarrendem Geräusch fliegt die Feder über das Papier.

Wie merkwürdig die Buchstaben sich zu Worten, die Worte sich zu Gedanken und Sätzen aneinanderreihen!

Doch wie ich versuche, meine Gedanken zu bannen, stürmen auch schon die Bilder der Vergangenheit mit fast erdrückender Wucht auf mich ein, so daß ich sie kaum voneinander zu scheiden und zu ordnen vermag.

Mögen die Bilder aber eine Färbung tragen, welche sie wollen, bei allen tritt der erste Genosse meiner Jugend, der liebe, rebenbekränzte, alte Vater Rhein in den Vordergrund; der Rhein mit seinen anmutigen Tälern und altertümlichen Städten, mit seiner malerischen Felseinfassung und den grauen Ritterburgen, der Rhein endlich mit seinen schönen Sagen und den edlen Weinen, und vor allem mit der heiteren, warmherzigen Bevölkerung, die den majestätischen Strom mit Stolz ihren Vater nennt.

Ja, am Rhein bin ich geboren, und zwar an einem Punkte, der sich, hinsichtlich seiner romantischen Schönheit, kühn mit allen hervorragenden Stellen seiner Ufer in einen Vergleich einlassen darf. Wes Kind ich sei und wo meine Wiege einst stand, wenn ich überhaupt je in meinem Leben gewiegt wurde, dürfte kaum in meiner Erzählung von Wichtigkeit sein. Ebenso bieten meine glücklichen Kinderjahre nichts, was sie vor der Jugendzeit anderer Kinder besonders auszeichnete.

Ich war, wie die meisten Knaben, keiner von den besten, keiner von den schlechtesten. Es prägte sich dies bereits auf der Schule sehr scharf aus, indem ich keineswegs für die letzten Bänke schwärmte, aber auch kameradschaftlichen Sinn genug besaß, nicht durch angestrengtes Hinarbeiten auf den Primusplatz mir ein gewisses Übergewicht über meine Mitschüler anmaßen zu wollen. Die Bezeichnung „ziemlich gut“ erschien mir als vollkommen genügend, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß ich das Abiturientenexamen ziemlich gut bestand und ziemlich gut vorbereitet zur Universität abging.

Leider hatte ich meine Eltern frühzeitig verloren. Sie waren, als ich noch die untern Klassen des Gymnasiums besuchte, in dem kurzen Zeitraum von zwei Jahren gestorben, mir gerade soviel hinterlassend, daß ich mit ruhigem Gewissen mich für das kostspielige und vorläufig sehr wenig versprechende Studium der Rechtsgelahrtheit entscheiden durfte.

In meinen äußeren Verhältnissen bewirkte der Tod meines Vaters die in solchen Fällen fast gewöhnliche Veränderung: Ich erhielt einen Vormund, wurde in Pension gegeben, und zum Überfluß entdeckten alle Menschen, namentlich aber die Gattin meines Herrn Pensionsvorstehers, plötzlich in mir so viele Anlagen zum Bösen, und prophezeite man mir so oft die ehrenwerte Karriere eines Rinaldo Rinaldini, daß ich selbst an mir hätte verzweifeln können.

Eine rühmliche Ausnahme von denjenigen, die mich nie ansehen konnten, ohne einen vorwurfsvollen Blick gen Himmel zu senden und mit einem erschütternden, frommen Stoßseufzer mich vollständig aufzugeben, bildete mein Vormund.

Der alte Kriegskamerad meines Vaters, und von diesem schon bei Lebzeiten zu meinem Vormunde bestimmt, fand Gefallen an meinem lebhaften Temperament und meinen tollen Streichen. Er schleuderte mir zwar gelegentlich die ganze Auswahl von Flüchen, die er 1790 im Felde erlernt und höchst sorgfältig in seinem Gedächtnis aufgestapelt hatte, im grimmigsten Kommandotone entgegen, sie klangen aber drohender, als sie gemeint waren und endeten gewöhnlich damit, daß er mir eigenhändig eine Pfeife stopfte, mich einen verdammten Sansculotten nannte, und schließlich bei allen Granaten und Bomben, die seit Julius Cäsars Zeiten jemals platzten, beschwor, daß er noch nie einen gesunden Knaben gesehen, der nicht hundertmal verdient habe, gehangen zu werden.

Unter solchen Umständen konnte es nicht fehlen, daß ich mit innigster Liebe an meinem Vormunde hing und ihm zu Gefallen wer weiß was hätte aus mir machen lassen.

Leider sah ich ihn nur selten, indem ich der Schule wegen in der Stadt wohnte, während er, mit dem Posten eines Oberförsters betraut, an einem der anmutigsten Punkte des Siebengebirges sein Domizil aufgeschlagen hatte. Ich brachte indessen, zur größten Genugtuung meiner sparsamen Pensionsvorsteherin, stets die Ferienzeit bei ihm zu und beobachtete sehr strenge das zwischen uns stillschweigend getroffene Übereinkommen, ihm erst am Tage meiner Abreise nach der Stadt und schon mit der Mütze in der Hand, meine Zensur zur gefälligen Unterschrift zu überreichen.

Er zählte, als ich zur Universität abging, bereits einundsechzig Jahre; doch mochte die Zeit seine spärlichen Haare und den mächtigen Schnurrbart hagelweiß gefärbt haben, mochten Runzeln sein ausgewettertes, gutes Gesicht nach allen Richtungen hin durchkreuzen und die männliche Fülle der Glieder allmählich einer mumienartigen Hagerkeit gewichen sein, eine straffere Haltung und einen festeren Schritt hätte man bei einem jungen Gardeleutnant nicht finden können. Dabei blitzte das eine graue Auge – das andere war ihm bei Jena von einem „unvorsichtigen Granatsplitter“ ausgeschlagen worden – so jugendlich und doch so wohlwollend unter der buschigen, rot und weiß gemischten Braue hervor, und klirrten die Sporen – er hatte bei der Kavallerie gestanden – so lustig an seinen Stiefeln, und prangte das schönste aller Ehrenzeichen 1) so stattlich auf seiner hohen, breiten Brust, daß der leibhaftige Kriegsgott Mars über den alten Helden in Ekstase hätte geraten können.

Und ebenso glücklich und sorglos wie er auf seiner Oberförsterei lebte, fühlte sich seine bejahrte Gattin, eine herzensgute alte Dame, der man vielleicht nur den einzigen Vorwurf machen konnte, daß sie die himmlischen Freuden zu sehr von der strengen Beobachtung irdischer kirchlicher Formen abhängig glaubte. Sie war Katholikin, betrachtete die Geistlichkeit als etwas Überirdisches, glaubte an Wunder und betete und beichtete sehr viel, obwohl sie kaum andere Sünden zu beichten hatte, als etwa, daß sie ihrem „Alten“ hin und wieder einmal nicht rechtzeitig den brennenden Fidibus zu seiner Morgenpfeife dargereicht hatte oder in ihrem Eifer, alles zugleich zu besorgen, die Milch überkochen ließ.

Der alte Herr aber ließ seine Gattin für sich mitbeten, und dafür erlaubte er sich, – wie er sich sehr zart ausdrückte – gelegentlich für seine treue Ehehälfte ein kleines Donnerwetter unter das Hausgesinde zu dirigieren und auf diese Weise das Gleichgewicht wieder herzustellen.

Er war Protestant, duldsam und liberal in Religionsangelegenheiten und nachsichtig gegen Holzfrevler, namentlich wenn sie die Kriegsdenkmünze trugen und ihn, statt mit „Herr Oberförster“ „Herr Oberschleitnamp zu Befehl“ anredeten.

Bei aller seiner Güte und Nachsicht besaß er aber auch eine empfindliche Seite, die man nur schief anzusehen brauchte, um die ganze Hölle mit allen nur denkbaren Generationen von Teufeln, väterlicher- sowohl als mütterlicherseits, auf den Leib gehetzt zu erhalten.

Für ihn gab es nämlich nur zwei Farben: schwarz und weiß; nur zwei Melodien: „Heil dir im Siegerkranz“ und „So leben wir“; nur einen Musterstaat: Preußen, und nur einen König: Friedrich Wilhelm den Dritten.

Dies sind also die beiden Leute, die mir nach dem Tode meiner Eltern am nächsten standen und denen ich ein ganzes Herz voll kindlicher Liebe entgegentrug.

Sie selbst waren kinderlos, konnten mir also mehr Teilnahme zuwenden, als es vielleicht im andern Falle geschehen wäre; und wenn es mir auch nicht beschieden ist, ihnen in ihrer letzten Stunde wie ein treuer Sohn zur Seite zu stehen, nicht schmerzbewegt in ihre brechenden Augen zu schauen, so weiß ich doch, daß beim Scheiden aus dieser Welt sie meiner segnend gedenken, ein Gebet für mein Lebensglück auf ihren Lippen schwebt. Ist es aber den Menschen vergönnt, mit fernen Lieben geistig in Verbindung zu treten, dann müssen sie längst wissen, daß meine treue, dankbare Anhänglichkeit, weit, weit über ihr, über mein Grab hinausreicht.

Seit sechs Monaten war ich im schwarzen Sammetrock mit weißseidenem Futter als flotter Bursche in den krummen Straßen Bonns umherstolziert, seit sechs Monaten hatte ich mit lobenswerter Regelmäßigkeit den Fechtboden des Herrn Seger besucht, seit sechs Monaten, wenn es mir die Zeit erlaubte, auch den Kollegien meine Aufmerksamkeit zugewendet, und nicht weniger als sechsmal war ich in den sechs Monaten auf der Mensur gewesen.

Eine sehr sauber geheilte Schmarre zierte meine rechte Wange, ein stattlicher Bart Mund und Kinn, meine starken braunen Haare fielen in Locken bis auf meine Schultern nieder, mein Kopf ragte noch eine gute Handbreit über die Köpfe anderer mittelgroßer Menschenkinder empor, kein Wunder daher, daß ich im jugendlichen Übermute mich für eins der gelungensten Schöpfungswerke hielt und schließlich zu der Überzeugung gelangte, meine Blicke nur in die schüchternen Augen einer Jungfrau senken zu brauchen, um sie vor Liebesgram, wie eine frühzeitig geknickte Blume, dahinwelken und sterben zu machen.

Dergleichen Gefühle beseelten mich denn auch, als ich am zweiten Pfingsttage des Jahres 1832 vor dem Dorfe Godesberg mich von einigen heiteren Kommilitonen trennte und meine Schritte geraden Weges dem Mineralbrunnen zulenkte. Wir hatten verabredet, gegen Abend in einem der öffentlichen Gärten wieder zusammenzutreffen und von dort aus so geräuschvoll wie möglich die nächtliche Wanderung zurück nach Bonn anzutreten. Es blieben mir also noch mehrere Stunden, die ich ganz nach meinem eigenen Geschmack verbringen konnte, und da ich schon damals liebte, auf einsamen Spaziergängen mich so recht aus vollem Herzen dem kühnen Fluge meiner Gedanken hinzugeben und mich mit dem Ausbau der phantastischsten Luftschlösser zu beschäftigen, so konnte eine romantische Umgebung, wie die von Godesberg, nur anregend auf mich einwirken.

Mich erfüllte ein unbeschreibliches Wohlbehagen, als ich in der alten, im heitersten Frühlingsgrün prangenden Allee dem Mineralbrunnen zuschritt.

Die knorrigen Baumstämme und das reiche Laub, die üppig wuchernden Gräser und die sich entfaltenden Blumen, die wunderbar schön gelegene Ruine Godesberg und den mit tiefen Schatten malerisch abwechselnden Sonnenschein, die scharlachfarbig gesattelten Reittiere und die sonntäglich geputzten Bäuerinnen, alles, alles hätte ich vor Freude und Wonne umarmen mögen. Aber meine Arme reichten ja nur weit genug, hier einer mit Gebetbuch und Rosenkranz sittsam zur Nachmittagsmesse eilenden Dorfschönen schäkernd unter das runde Kinn zu fassen, dort einem alten, in wollener Zipfelmütze, kattunener Jacke, Kniehosen und Schnallenschuhen prangenden „Bestevader“ 2) freundschaftlich die Hand zu drücken und alle Professoren der Universität auf das Angelegentlichste zu grüßen.

Die Mädchen schmollten, schauten sich aber doch errötend nach dem lustigen Burschen um; die Bestevaders schüttelten verwundert die Köpfe und kratzten sich hinter den Ohren, indem sie vergeblich darüber nachsannen, wo sie wohl die Bekanntschaft der gelehrten Herren gemacht haben könnten; ich dagegen schwang fröhlich meinen Ziegenhainer und sang aus voller Brust:

„ Am Rhein, am Rhein da wachsen unsre Reben!“

„Gesegnet sei der Rhein!“ wiederholte ich noch einmal, als ich die tiefer gelegene Rotunde mit dem Mineralbrunnen vor mir sah, und in der nächsten Minute spiegelte ich mein geliebtes Ich in dem kristallklaren Born.

Nachdem ich aus der hohlen Hand getrunken, sah ich um mich. In weiterem Umkreise befanden sich wohl noch Menschen, die sich im Schatten der Bäume ergingen, an der Quelle selbst dagegen stand außer mir nur noch ein Mann. Ich würde diesen kaum beachtet haben, wenn er nicht durch eine höfliche, aber kalte Verbeugung meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte.

„Ah, guten Tag Herr Bernhard,“ rief ich in heiterm Tone, als ich einen jungen Theologen erkannte, der freilich schon seine Studien beendigt hatte, aber doch noch mit einzelnen der älteren Musensöhne verkehrte und dem ich bei einer solchen Gelegenheit vorgestellt worden war.

Woher er stammte und was er bezweckte, wußte niemand von uns. Wir wußten nur, daß er vor zwei Jahren in Bonn erschienen war, dort die theologischen Kollegien noch anderthalb Jahre mit großer Regelmäßigkeit besucht hatte, trotz seiner stets rechtzeitig einlaufenden Wechsel sich nie an einem Kommers beteiligte, was sich freilich durch den von ihm gewählten Beruf entschuldigen ließ, und daß er endlich ein ausgezeichneter Schläger war.

Letzterer Umstand diente dazu, ihm, wenn auch keine freundliche Zuneigung, so doch einen gewissen Grad von Achtung unter seinen Kommilitonen zu verschaffen, obwohl sich niemand zu erinnern wußte, daß er jemals im ernsten Kampfe sich mit einem andern gemessen oder auch nur die leiseste Veranlassung zu einem Touch und darauffolgender scharfer Paukerei gegeben hätte.

Er war immer derselbe höfliche, süßlich lächelnde und doch auch wieder ein hohes Übergewicht verratende Denker, der zwar keine erklärten Feinde unter seinen Mitstudierenden besaß, aber auch weit entfernt davon war, sich eines wirklichen Freundes rühmen zu können.

Auf mich machte er stets den Eindruck eines verkappten Jesuiten, und ich konnte ihn nie ansehen, ohne eine tiefe, an Widerwillen grenzende Scheu vor ihm zu empfinden.

Aber als ich seiner nun plötzlich auf der andern Seite des Brunnens ansichtig wurde, hegte ich doch die redliche Absicht, meinen Widerwillen durch ein herzliches Entgegenkommen niederzukämpfen, und mit einer Freimütigkeit, die meiner glücklichen Stimmung entsprach, schloß ich an meinen Gruß die Bemerkung, wie sehr ich mich freue, ihn, den ernsten Denker, einem reinen Naturgenuß so gänzlich hingegeben zu sehen.

„Gerade die Denker sind oft am meisten geneigt, die Natur zum Gegenstande ihrer Betrachtungen zu wählen,“ entgegnete er mit einem verbindlichen Lächeln, während aus seinen Augen verstohlen das Mißvergnügen leuchtete, das er über unser Zusammentreffen empfand.

„Gewiß,“ versetzte ich schnell, „doch möchte ich fast behaupten, der eigentliche Genuß der Natur bestehe darin, daß man sich liebevoll zu ihr hinneigt und sich an ihrem sichtbaren, verständlichen Teil ergötzt, anstatt in ihre verborgensten und unerklärlichen Geheimnisse eindringen zu wollen, indem unlösbare Rätsel stets ein Gefühl der Nichtbefriedigung hinterlassen.“

Über Bernhards Züge flog das mir so unangenehme Lächeln geistiger Überlegenheit.

„Und sollte die von Ihnen eben ausgesprochene Ansicht für sich betrachtet nicht schon genug Stoff zum Denken bieten?“ begann er zögernd. „Auch ich bewundere die Natur im großen und ganzen mit andächtigen Gefühlen und dankbarem Herzen, wie ich mich beim Anblick einer schönen Blume oder über den Gesang der Nachtigall innig freue. Tiefer in die Geheimnisse der Schöpfüngswerke eindringen zu wollen, liegt mir dagegen fern. Erhalten wir doch täglich immer neue Beweise, daß die Erfolge ernsten Forschens im Reiche der Natur entsittlichend auf die Menschheit einwirken, ganz abgesehen davon, daß die Forscher selbst sich sehr bald daran gewöhnen, alles Göttliche abzuleugnen und die größten Wunderwerke der Schöpfung auf irgendeine ihnen passend erscheinende Ursache, zum Beispiel auf den ewigen natürlichen Kreislauf im Weltall zurückzuführen.“

„Nur bis zu einer gewissen Grenze kann ich Ihnen beistimmen,“ erwiderte ich, obwohl ich einsah, daß es mir nie gelingen würde, meinen Ansichten bei ihm Eingang zu verschaffen, „nur der beschränktere Geist kann in der von Ihnen angedeuteten Weise abirren. Der Forscher dagegen, der liebevoll den Sinn der Natur zu erraten strebt und Gottes erhabenes Reich lernend und belehrend durchwandert, wird, ähnlich dem Kinde, das ahnungsvoll über die Farbenpracht einer Blume, über den Glanz des unzählbaren Sternenheers staunt, sich fromm vor einer schöpferischen, alles umfassenden Macht beugen und selbst in dieser, über mineralische Lager hinrieselnden Quelle die Gottheit verehren, ohne dabei den Mangel systematisch geordneter Formeln zu empfinden.“

Im Eifer hatte ich meine Stimme immer mehr erhoben. Als ich aber meine Blicke auf Bernhard richtete und einen spöttischen Ausdruck in seinen düster glühenden Augen entdeckte, gereute es mich, soweit gegangen zu sein. Ich fühlte, daß ich ihn durch meinen Widerspruch und gerade durch die in demselben enthaltene Wahrheit verletzt hatte.

„Dann haben Sie die Grenze, die den Atheismus von der Religion scheidet, wohl schon überschritten?“ fragte er dann auch mit einer sarkastischen Freundlichkeit, die mir das Blut des aufflammenden Zorns bis in die Schläfen hinauftrieb.

Ich wollte eine heftige Antwort erteilen, bemerkte indessen, daß Bernhards Züge sich plötzlich wie durch Zauber glätteten und einen mir an ihm fremden Ausdruck bescheidener Anspruchslosigkeit erhielten.

Natürlich folgte ich mit den Augen der Richtung seiner Blicke, und nicht wenig überraschte es mich, in einer jungen Dame die Veranlassung zu der unerwarteten Änderung seines Wesens zu entdecken.

Sie ritt auf einem nach dortiger Sitte scharlachfarbig gesattelten Esel, der von einem bejahrten Treiber sehr behutsam am Zügel geführt wurde. Offenbar wollte der alte Mann das vorsichtige Tier die wenigen Stufen hinunter und bis an den Brunnen vortreten lassen; auf eine leise ausgesprochene Bitte der jugendlichen Reiterin stand er indessen von seinem Vorhaben ab, dagegen half er ihr aus dem Sattel, worauf sie sich zögernden Schrittes der Quelle näherte.

Wenn nun die junge Fremde durch ihr Erscheinen einen besänftigenden Eindruck auf Bernhard ausübte, so war ich einem derartigen Einfluß in nicht geringerem Grade unterworfen. War mir doch, als sei eine Heilige aus einem Raphaelschen Madonnenbilde niedergestiegen, um in frommer Weise die heilspendende Quelle zu segnen. Auf den holden jungräulichen Zügen ruhte ein solcher Schimmer tiefer Frömmigkeit, daß dadurch ein derartiger Gedanke sehr nahegelegt wurde.

Ihre Gestalt war schlank, vielleicht noch etwas unter der gewöhnlichen Mittelgröße, und man entdeckte leicht, daß sie, obwohl erst auf der äußersten Grenze der Kindheit angekommen, bereits den höchsten Grad ihres Wachstums erreicht hatte.

Ihr schwarzes Haar fiel in dichten, seidenweichen Locken auf ihre Schultern nieder, ebenso schmückten schwarze Brauen und Wimpern ihre weiße Stirne und die niedergeschlagenen Augenlider, einen reizenden Kontrast zu der zarten, fast durchsichtigen Farbe des lieben Antlitzes bildend. Die Nase war sanft gebogen und erinnerte entfernt an das Profil der Südländerinnen, der Mund fein geschnitten, einer sich erschließenden Rosenknospe ähnlich, und auf den nicht vollen, aber klassisch abgerundeten Wangen bis zu den reinen Schläfen hinauf thronte ein lieblicher, rosenfarbiger Hauch, der indessen mehr mädchenhafte Verlegenheit als strotzende Gesundheit bekundete. Überhaupt schien eine äußerst zarte Gesundheit in dem sylphenartigen Körper zu wohnen, obwohl ihre Haltung eine aufrechte, dabei aber natürliche war und in ihren anmutigen Bewegungen sich jugendliche Kraft verriet.

So trat die junge Fremde zu uns heran, den runden italienischen Strohhut, der ihr beim Absteigen wahrscheinlich hinderlich gewesen war, vor sich tragend, und nicht eher sah sie auf, als bis sie sich dicht vor dem ausgemauerten Brunnenkessel befand.

Sie schlug die Augen empor, und nur mit Mühe hielt ich einen Ausruf des Erstaunens zurück, als ich, anstatt in zwei dunkle, den schwarzen Haaren und Brauen entsprechende Augen zu blicken, zwei milde blaue Sterne auf mich gerichtet sah.

Die Anwesenheit zweier ihr fremden Männer an der Quelle, die sie offenbar zu so früher Nachmittagsstunde vereinsamt geglaubt hatte, versetzte sie sichtbar in Verlegenheit, und daß Bernhard sowohl als ich sie mit bewundernder Neugierde betrachteten, diente am wenigsten dazu, diese zu zerstreuen. Erst als sie sich, zu Bernhard gewandt, kaum merklich verneigte, gewahrte ich, daß dieser höflich grüßend seinen Hut gezogen hatte.

„Mein Fräulein, Sie wollen trinken,“ sagte er mit einschmeichelnder Stimme, als er bemerkte, daß die junge Fremde, vor Befangenheit tief errötend, nach dem gewöhnlich auf dem Rande der Quelle liegenden Becher spähte, den er ohne Zweifel bereits vor meiner Ankunft entfernt hatte.

„Ich suche den Becher,“ stammelte die Angeredete leise, „er ist nicht hier, ich werde mir ein Glas aus dem nächsten Hause holen.“

„Hier ist eines,“ versetzte Bernhard, ein kunstvoll geschliffenes Kristallglas hervorziehend und aus der Quelle füllend, „nehmen Sie hin, mein Fräulein, und leeren Sie es zur Ehre desjenigen, der diese Quelle der leidenden Menschheit zum Heile schuf.“

Der salbungsvolle Ton, in dem Bernhard sprach, empörte mich, und widerwärtig wäre es mir gewesen, das holde Wesen den Becher aus den Händen des scheinheiligen Menschen nehmen zu sehen. Schnell entschlossen riß ich daher die kleine silbergestickte Mütze von meinem Kopfe, und diese hastig umkehrend und mit Wasser füllend, reichte ich der jungen Fremden die improvisierte Schale dar.

„Trinken Sie, mein Fräulein,“ rief ich enthusiastisch aus, in meinem gewagten Spiel gegen Bernhard alles auf einen Wurf setzend, „trinken Sie, und verschmähen Sie nicht die Gabe eines fahrenden Ritters; trinken Sie, und gedenken Sie dabei aller derjenigen, denen Sie in Liebe zugetan sind!“

Das arme Mädchen befand sich in einer peinlichen Lage; die wunderbar schönen Augen wanderten mit einem rührend flehenden Ausdruck von dem einen zum andern hinüber. Ich empfand das innigste Mitleiden, und dennoch hätte ich nicht vermocht, zurückzutreten und meinem zufälligen Nebenbuhler den Vorrang zu lassen, um so mehr, da dieser, im sichern Bewußtsein seines Sieges, mit einem mitleidigen Lächeln meine triefende Mütze flüchtig betrachtete.

Diese Szene dauerte indessen keine Minute, denn die junge Fremde überwand ihre Verlegenheit schneller, als ich erwartet hätte. Sie bückte sich zu der Quelle nieder, und ihre kleine wohlgeformte Hand in das klare Wasser tauchend, sagte sie, die Augen verschämt niederschlagend: „Diogenes, von einem Hirtenknaben belehrt, verschmähte den Becher und trank aus der hohlen Hand; dem Andenken meiner Lieben,“ fügte sie dann kaum verständlich hinzu, indem sie einige Tropfen schlürfte, „und zur Ehre Gottes,“ sprach sie etwas lauter, worauf sie die Hand zum zweitenmal in die Quelle tauchte und gefüllt an ihre frischen roten Lippen führte.

„Auf das Wohl der schönen Wanderin, die mit sicherem Scharfblick und überraschender Geistesgegenwart die richtige Mittelstraße zu finden wußte!“ rief ich aus, einige tiefe Züge aus meiner Mütze trinkend und den Rest, wie einen Sprühregen, rückwärts schleudernd.

Die junge Fremde dankte durch ein leichtes Neigen ihres Hauptes und wendete sich ab, um sich zu ihrem Reittier zu begeben. Sie hatte indessen noch keine zwei Schritte getan, als das laute Klirren, mit dem Bernhard seinen Becher auf den Fliesen zertrümmerte, sie veranlaßte, noch einmal zurückzuschauen und sich dann mit beschleunigter Eile zu entfernen.

Es war dies das erste, aber auch das letzte Mal, daß meines Wissens Bernhard sich von seinen Gefühlen hinreißen ließ und übereilt handelte. Ich folgerte daraus den hohen Grad seiner Enttäuschung, und daß er vielleicht schon seit Stunden an dieser Stelle auf die Gelegenheit gewartet habe, sich dem jungen Mädchen zu nähern. Weniger erklärlich war mir dagegen der Blick des giftigsten Hasses, der mich ganz flüchtig aus seinen düsteren Augen traf und der wohl kaum durch mein an sich harmloses Durchkreuzen seiner Pläne allein hervorgerufen sein konnte.

Den Blick hätte ich ihm wohl vergeben, das absichtliche Erschrecken des jungen Mädchens dagegen erschien mir als ein unverzeihliches Verbrechen, das die härteste Strafe verdiente. Meiner ersten Regung folgend, schritt ich daher um den Brunnen herum, und nachdem ich Bernhard mit unterdrückter Stimme einen nur mit Blut zu sühnenden Namen beigelegt, eilte ich, ohne ihn weiter meiner Beachtung zu würdigen, der Fremden nach.

Ich traf bei ihr ein, als sie ihr Reittier eben wieder bestiegen hatte und der Führer den Zügel ergriff, um den Weg nach der Ruine Godesberg hinauf einzuschlagen. Der Ausdruck des Schreckens war noch nicht aus ihrem lieben Antlitz gewichen, doch dankte sie freundlich und unbefangen, als ich sie bat, mir zu verzeihen, daß ich durch mein unzeitiges Dazwischentreten Veranlassung zu der so wenig ergötzlichen Szene gegeben und sie in eine so unangenehme Lage gebracht habe. Der Führer hatte sich unterdessen in Bewegung gesetzt, und da ich in ihren Augen zu lesen glaubte, daß ich eine Antwort von ihr zu erwarten habe, so nahm ich dies für die Erlaubnis, neben ihrem Tier herschreitend, sie begleiten zu dürfen.



1) das Eiserne Kreuz
2) Großvater
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Mandanenwaise