Er wollte eine Gemeinde um sich sammeln, Seelen erbauen, nicht Kirchen!

Er wollte eine Gemeinde um sich sammeln, Seelen erbauen, nicht Kirchen!

Und so geht denn der Weg zurück zu den Stätten, an denen die großen Männer Wittenbergs weilten, denn deren Zahl ist noch immer nicht erschöpft: Neben den Reformatoren und Künstlern steht noch ein für deutsche Eigenart kaum minder Bedeutender, der die Brücke zu Goethe schlägt: Faust.


Das alte Buch über „das ärgerliche Leben und schreckliche Ende des viel berüchtigten Erz-Schwarzkünstlers Dr. Johannis Fausti“ erzählt uns, Faust habe wohlbegüterte Vettern in Wittenberg gehabt, die ihn an Kindesstatt nahmen. Eine halbe Meile Wegs von der Stadt fand er einen Wegscheid, der fünf Ausfahrten und Gänge hatte. Hier beschwor er den Teufel, der ihn dann in seinem Studier-Stüblein in der Schergasse besuchte. Hierher brachte der Geist Mephistopheles ihm die schöne Helena, Königs Menelai Gemahl, als Konkubine und Beischläferin; die so wunderschön war, dass Dr. Faustus nicht wusste, ob er bei sich selbst wäre oder nicht; und die er so lieb gewann, dass er schier keinen Augenblick von ihr sein konnte oder wollte. Hier oder doch in dem nahen Dorfe Rimlich fand er sein schreckliches Ende durch die würgende Hand seines teuflischen Herrn. Bei Eröffnung der Stube, sagt das Faustbuch, fand man, dass die Wände, Tisch und Stühle voll Blut waren; ja man sah mit Erstaunen, dass das Hirn Dr. Fausti an den Wänden anklebte, die Zähne lagen auf der Erde, der Körper außerhalb des Hauses auf einem Misthaufen. Kein Glied an dem ganzen Leichnam war ganz, es schlotterte und war ab; der Kopf war mitten von einander und das Hirn war ausgeschüttet.

Der Verfasser des Faustbuches schrieb 1587: Tatsächlich war um 1530 ein Johannes Faust in Wittenberg. Kurfürst Johann wollte ihn festsetzen, aber er entfloh; Melanchthon erzählt, er sei in Knittlingen bei Bretten geboren gewesen. Wie hier Wahrheit und Dichtung sich mischt, das ist Gegenstand besonderer Forschung. Hier ist es mir wertvoll zu erkennen, dass die Sage Faust, den großen Zweifler nach Wittenberg versetzte, Luther und Melanchthon an die Seite. Helena aber floh mit Faustens und ihrem Sohn Justus durch die Lüfte in unbekannte Fernen.

Die Renaissance ist Vermählung der antiken Schönheit mit dem Geiste des verinnerten Wissensdranges und des ihn begründenden Zweifels an der überlieferten Wahrheit. Auch hier dichtet sich der deutsche Geist eine solche Vermählung auf Wittenberger Boden. Auch Albert der Große, Roger Baco und viele andere Gelehrte des Mittelalters, standen nach dem Volksglauben mit dem Teufel im Bunde. Faust aber ist es, der Helenen herbeizauberte, um mit ihr Justus Faust, den echten, gerechten, den wahren Faust zu zeugen. Als Goethe ist er ins Leben getreten.

Das Lutherhaus ist für Besucher gegen die üblichen Führertrinkgelder geöffnet. Das Haus Melanchthons aber wurde 1846 vom König Friedrich Wilhelm IV. aus Privatbesitz angekauft und dem Seminar zugewiesen, das jetzt seit Verlegung der Universität nach Halle in deren Kollegiengebäude seinen Sitz hat. Dort erhielt ich auch den Schlüssel und einen gefälligen Begleiter mit auf den Weg.

Melanchthons Haustüre hat noch jene waagerechte Teilung in der Mitte, so dass man die obere Hälfte für sich allein öffnen kann: diese traulich gemütliche Form ist selten geworden in Deutschland. Man muss sie in Ludwig Richters Bildern suchen, will man sehen, wie hübsch sie Außen und Innen verband, die Bewohner zum Hinausschauen anlockte, ohne sie auf die Gasse zu setzen. Durch die Türe kommt man in einen gewölbten Gang, der die ganze Länge des Hauses durchziehend in den Hof führt.

Ein wunderbarer Hof: Vier uralte Taxusbäume stehen um den Rohrbrunnen, dessen Wasser 1556 sieben reiche Freunde, darunter Cranach, in die Stadt leiteten. Sie führten es in ihre Häuser und schenkten dem Philippus seinen Anteil. Es ist so still, so weltabgeschlossen in diesem Gärtchen. Dort drüben zog sich die Stadtmauer hin, die Aussicht beschränkend. Sie hatte ein kleines Tor, durch das man bequem ins Kloster zu Luther hinüber kommen konnte, ohne die Straße zu betreten.

Dies jetzt vermauerte Tor lehrt viel Schönes und Edles, es lehrt die innige Freundschaft zweier großer Männer, die in einer nicht auf schwärmerischen Gefühlsergüssen, sondern auf tiefer, still wirkender, das Leben erwärmender, nun in der Geschichte das Leben überdauernder Seelengemeinschaft begründet ist. Die drei größten Männer Deutschlands haben solche Freundschaften gehabt und aus ihnen einen guten Teil ihrer erlösenden Kraft gesogen: Luther und Melanchthon, Goethe und Schiller, Bismarck und Kaiser Wilhelm. Diese Freundschaften, die in ihnen waltende deutsche Treue, waren nicht nur ihnen zum Heile, sondern sind uns Nachlebenden ein leuchtendes Beispiel dafür, wie vollausgelebtes deutsches Menschentum, diese höchste und stärkste Kraft unseres Volkes, nicht zur Abschließung, zur Vereinsamung, sondern zur Ergänzung ihrer Träger führt. Denn diese drei Freundespaare gehören nicht nur zusammen durch die Gemeinsamkeit ihres Strebens, sondern durch die neidlose Erkenntnis des Einzelnen, dass der Andere ein durchaus Anderer, aber ein ebenso Berechtigter sei. Welches Volk hat gleiche Paare aufzuweisen.

Eine Holztreppe führt in die beiden oberen Stockwerke. In allen ist das tiefe und nicht sehr breite Haus durch Querwände in drei Teile zerlegt, so dass nach der Straße und dem Hof zu sich Wohnräume befinden. In den unteren Geschossen sind diese ungeteilt: Stattliche Gelasse. In den oberen Geschossen wurden sie in Kammern zerlegt. Im Mittel befindet sich im Erdgeschoss die Küche, darüber der Öhren, der große weite Hausflur, der dem knauserig angelegten modernen Wohnhaus zu seinem Schaden so ganz verloren gegangene Spielraum der Kinder.

Das Haus war ganz leer. Einige Gelasse waren neu tapeziert und erwarteten die von dem Seminar ihnen bestimmten Bewohner. An der Anlage des Baues ist nichts Wesentliches geändert. An die Wand gemalte Wappen von Melanchthons Schülern zeigen, dass selbst die Riegelwände noch die alten blieben. Ein gutes Geschick hat dies Haus vor Umbauten bewahrt. Die „rabies theologorum“, die Wut der Theologen, hat einst dem großen Bewohner dieser traulichen stillen Räume die schwerste Sorge bereitet: Mögen sie vor der rabies restauratorum bewahrt bleiben, vor jener modernen Wut, alles Alte verschönern zu wollen, jener Wut, die z. B. das Lutherhaus zu einem jeden Feinfühligen abschreckenden Zwitterwesen umgestaltete.

Auch die Raritätensammler sind dem Haus fern geblieben. Eine alte Truhe steht in dem Arbeitszimmer neben einem Tisch für das Fremdenbuch, einige Inschriften sind angebracht worden. Das ist aber auch alles ; Luther und Melanchthon haben uns von den kirchlichen Reliquien befreit — wer befreit uns von dem neuen Sammlerkram, der mit geschäftiger Hand den weihevollsten Räumen aufgezwungen wird! Hier endlich einmal ein Haus, in dem das Vorhandene echt und dem ausgestalteten Gedanken Raum gegeben ist. Dieses fest verschlossene, unbewohnte Haus hat etwas von einer Grabstätte. Es mag nicht jedem heimisch in ihm sein: wer Geister sieht, dem mögen sie hier leichter begegnen als anderswo. Aber es werden die Geister der Milde und der Stille sein, die Geister der Gemütstiefe und der Glaubenskraft: freundliche Gespenster, die nicht schrecken, nicht alpdrückend uns beängstigen, sondern uns Stunden der Seligkeit träumen lehren.

„Hier stand das Bett, wo am 19. April 1560 um 7 3/4 Uhr abends M. Philippus Melanchthon sanft in Christo entschlief.“ So sagt eine der Inschriften. Seit beinahe dritthalb Jahrhunderten hat also jener Geist den Raum verlassen. Und doch erfüllt er ihn noch so ganz und gar, unsichtbar sichtbar. Noch spürt man den Frieden des Hauses, seine Stille, seine Weltabgeschlossenheit. Die Fenster mit den breiten Holzriegeln, die Butzenscheiben statt der großen Glasflächen, dieser unschönen Errungenschaft moderner Technik. Die alten Scheiben öffnen den Raum nicht nach dem Innern, setzen uns nicht auf die Straße, sondern schließen uns mit uns ein, das Haus erst recht zum Heim machend. Hier herrscht der nach innen gerichtete Geist, der Geist der Sammlung und Stetigkeit! Es braucht ja allerorten nicht viel, um den sinnenden Besucher die Stimmung vergangener Zeit zu geben: nur einen echten Rest und den Mangel aller aufdringlichen Stimmungsmacherei, alles Gefühlsüberschwanges und falscher Stilechtheit.

Nun ging ich nach dem Lutherhause hinüber. Das alte stattliche Gebäude, einst das Augustinerkloster, in dem Luther seit 1508 als Mönch gelebt hatte, wurde 1518 in spätgotischen Formen errichtet. Es ist die Zeit des Ausklingens des Stiles, der Herausbildungen zwar nicht vollendeter, doch eigenartiger neuer Formen. Im Jahre 1844 hat es der berühmte Berliner Architekt Stüler restauriert, d. h. er hat das schlichte alte Haus möglichst seinem Ideale eines schönen gotischen Bauwerkes genähert. Dieses Ideal entsprach der Ansicht der Zeit, dass die Gotik malerisch empfunden habe, dass sie sich daher im Profanbau am besten für Jagdschlösser, Parkhäuser u. dgl. eigne. So ist denn aus dem Lutherhaus ein Schlösschen mit allerhand romantischem Firlefanz, Erkern und Giebeln, Kuppeltürmen u. s. w. geworden. Die einst ruhigen Mauerflächen mussten sich eine zwecklose Quaderung gefallen lassen — kurz die echte Stimmung ist dem Bau genommen und dafür eine Theaterstimmung gegeben. Er könnte nach einer Dekoration aus dem „Freischütz“ gemacht sein. Nicht mehr Luther und seine Zeit spricht zu uns, sondern die Friedrich Wilhelms IV. und Stülers; nicht die Zeit der Befreiung von Rom, sondern die Zeit des Liebäugelns mit dem Katholizismus; nicht die Überwindung des Mittelalters, sondern die künstliche Hineinversetzung in dieses: Wird es kommenden Geschlechtern in der Schlosskirche anders ergehen??

Nur das Tor erhielt sich unverändert, das Luthers Frau ihrem Gatten 1540 fertigen und während seiner Abwesenheit setzen ließ. Es ist in Pirna gefertigt worden und trägt die Merkmale seiner obersächsischen Herkunft, die stark ausgekehlten Gewände, in denen ein Sitz auf jeder Seite angebracht ist, wie die Vorliebe für Überschneidungen der reich gegliederten Profile. Das Zeichen des Meisters ist auf dem Tore angebracht. Es scheint, als sei er stolz auf seinen Auftrag gewesen. Auf den schildförmigen Kämpfersteinen sieht man Luthers Bildnis und sein Wappen. „Im Stillsein und Hoffen wird meine Stärke sein!“ sagt die Umschrift um dieses. Um jenes sehen wir die Buchstaben „V. I. V. I. I.“, deren Sinn zu lösen ich den Gelehrten empfehle.

Die Wendeltreppe hinaufsteigend, gelangen wir in Luthers eigentliche Wohnung. Zunächst sind in einem Vorzimmer einige Bilder und Raritäten aufgestellt. Ein wunderlicher altväterischer Schrank beherbergt die letztgenannten. Ein sehr schönes emailliertes Venetianerglas liegt in Trümmern. Es soll aus Luthers Besitz stammen und vom Kaiser Peter dem Großen mutwillig zerschlagen worden sein, weil man es ihm nicht verkaufen wollte. Hierdurch und durch eine unter Glas erhaltene Kreideinschrift seines Namens in der Lutherstube hat sich der Russe im Hause des Deutschen verewigt. Es ist selbst für diesen Größten seiner Nation bezeichnend, dass er, obgleich selbst Reformator, am Ort der Reformation eines fremden Volkes durch Bubenstreiche sich in Erinnerung zu halten trachtete. Karl XII. von Schweden, der auch diese Räume betrat, hatte den besseren Geschmack, darauf zu vertrauen, dass seine Anwesenheit auch ohne persönliche Bemerkbarmachung der Welt in Erinnerung bleibe.

Der nächste Raum ist die Lutherstube. Es gelang mir, wenn auch nicht ohne Kampf, die beredte Führerin, welche mir im Tonfall des Eingelernten die Sehenswürdigkeiten erklären wollte, zum Schweigen zu bringen. Sie verließ mich dafür aber auch unwillig und ließ sich durch eine Magd in meiner Beaufsichtigung vertreten. Ich erlangte aber somit, dass ich mir selber überlassen blieb. Wenn eine bunt bemalte Totenmaske und eine Stickerei, Luthers Wappen darstellend, aus dem Raum herausgenommen würden, so wäre er noch völlig intakt. Künstlerisch ist seine Gestaltung eine außerordentlich reizvolle. Die Decke ist einfach, in großen Rosetten geteilt; auf diesen wurden mit breitem Pinsel freihändig bunte Kartuschen und Ornamente gemalt. Die Wände sind von oben bis unten auf das einfachste vertäfelt, mit brauner Ölfarbe gestrichen. Als Fries zieht sich an der Decke ein Blumengehänge hin. Etwa zwei Meter über dem Boden umschließt die ganzen Räume eine breite Borde — das Kannrikchen nennt man sie in Thüringen. Die untere Hälfte der Täfelung ist wieder mit Ornamenten in Füllungen derb und wirkungsvoll bemalt. Einfache Bänke umziehen die Wände. Alle Farben sind voll und kräftig. Der alte Tisch und ein eigenartiger Sitz am Fenster gehören unverkennbar alter Ausstattung an. Auch die Butzen-Fenster mit den kleinen Scheiben sind noch ganz echt. Nicht mit Sicherheit möchte ich dies vom Ofen behaupten, der sich in fünf Kachel-Stockwerken stattlich aufgebaut. Es scheint mir nicht wahrscheinlich, dass er, obgleich ein Werk des 16. Jahrhunderts, vor Luthers Tod entstanden sei.

Außer einigen Stühlen mag der Raum nie viel mehr Ausstattung besessen haben, als sich jetzt in ihm findet. Jene Zeit der echten Renaissance liebte nicht die Möbelanhäufungen der unechten von heute. Sie war noch der unbescheidenen Ansicht, dass schließlich die Räume doch für die Menschen und nicht für Teppiche und Lüsterweibchen da seien. Hier in diesem so wohnlichen, so gemütlichen Raume vollzog sich also der beste Teil des Lebens des Reformators. Um diesen Tisch versammelte er seine Familie, den immer mehr sich erweiternden Kreis seiner Hausgenossen, der von ihm unterstützten Verwandten und der zahlenden und nichtzahlenden Kostgänger. Denn es war ein großer Haushalt, der sich an Luther schloss, immer mehr wachsend, weil sein milder, den Wert des Geldes missachtender Sinn es ihm schwer machte, auch Lästige, wenn sie bedürftig waren, von sich zu stoßen. Zu den großen Kämpfen seines Lebens kamen die kleinen Sorgen. Neben dem Widerstreben mächtiger Parteien die Widerspenstigkeit jener, die den Reformator von zu nahe sahen, um seine Größe überschauen, ja nur Teile seines Wesens beurteilen zu können. Er mag Melanchthon, dessen Hauswesen ja auch durch Schüler und Kostgänger Beunruhigung erfuhr, das sich aber doch in engeren Kreisen bewegte, manchmal beneidet haben, wenn immer mehr Menschen sich um ihn drängten, schnippische Nichten und aufsessige Neffen, untergeordnete Mitarbeiter, Studenten aus aller Herren Ländern, dann wieder gewichtige Gäste und neugierige Reisende, alle mit Empfehlungsbriefen, mit Ansprüchen, mit dem Wunsch, aus dem berühmten Manne irgend etwas Bedeutendes für ihre Erinnerung herauszuquetschen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Lutherstadt Wittenberg