Aber neben den Sorgen sah dies Zimmer auch die Freuden Luthers.

Aber neben den Sorgen sah dies Zimmer auch die Freuden Luthers. Hier, auf dieser Fensterbank, saß ihm gewiss ungezählte Male seine Käthe gegenüber. Um diesen Tisch versammelten sich seine Kinder. Der furchtlose, gewaltige Geistesstreiter — hier war er ein deutscher Hausvater, behäbig, voll Laune bereit, sich eine gute Stunde zu bereiten, in Ehren fröhlich zu sein. Da erscheint das Bild eines bürgerlichen Lebens in unserem Geiste wieder, wie es einst dieser Raum in sich schloss; und das Bild jener Ehe, deren Reinheit für Deutschlands Gesittung ein unvergänglicher und nie hoch genug zu schätzender Besitz ist. Luther hing mit seinem starken Herzen an dem braven Weibe. „Ich bin und sterbe im Lobe des Ehestandes!“ sagte er einmal. „Ich habe ein fromm, getreu Weib, auf welches sich des Mannes Herz verlassen kann“, an anderer Stelle: „Ich achte sie teurer denn das Königreich Frankreich und die Venediger Herrschaft, denn mir ist ein fromm Weib von Gott geschenkt und gegeben, wie ich auch ihr.“ Und noch als Greis beteuerte er: „Wenn ich ein junger Mann wäre, so wollt ich doch, wenn mir gleich eine Königin nach meiner Käthe angeboten würde, lieber sterben als nur zum zweiten Male mich verehelichen.“ In dieser Ehe ist, wie der Schilderer von Luthers Haus, Georg Rietschel, erzählt, nichts Überspanntes, nichts Gemachtes, nichts Verzärteltes gewesen, alles sei gesund kräftig wahr, nüchtern. Und ich möchte mir dieses Urteil bis auf das letzte Wort zu eigen machen. Denn was wahr und gesund ist, kann nicht gut für nüchtern gelten, und nüchtern ist nicht der Gegensatz zu verzärtelt. So war auch Luthers Ehe nicht nüchtern, sie war erfüllt vom Glanz dichterischen Empfindens, von der festen, zweifellosen Liebe, des graden Sinnes, der vertrauenden und auf Vertrauen zählenden Hingabe. Nicht nüchtern war sie, sondern einfach, und das Einfache allein kann das Große sein!

Was die sogenannte Reformationshalle an besonders wichtigen Schätzen beherbergt, vermochte ich nicht zu übersehen. Ihr Besitz an neueren Bildern macht sie einem nicht besonders wertvoll. Denn diese sind ausnahmslos Mittelgut oder stehen noch tiefer. Das Übrige, soweit ich es sah, bietet manches Sehenswerte, aber nicht viel Eigenartiges. Die Absicht, ein Museum der Reformationszeit anzulegen, scheint geschickt durchgeführt zu werden. Aber Museen giebt’s aller Orten. Man reist nicht nach einem solchen von Berlin, Leipzig oder Dresden nach Wittenberg. Neben dem mit dem Boden Verwachsenen, dessen die Lutherstadt so voll ist, vermag das bisher Zusammengetragene keinen Reiz zu üben.


Vor dem Elsterthor ging es am Abend der Abreise lebhaft her. Ein Trupp Bauern drängte sich um einen umzäunten, stattlichen Baum: Es war eine Luthereiche, die seit 1830 die Stelle angibt, wo die päpstliche Bannbulle 1520 an einem kalten Dezembertage in Flammen aufging. Damals entzündete der mutige Mönch an dieser Stelle ein Feuer gleich jenem, das soeben den Himmel erleuchtete, eine Glut der Begeisterung, die das ganze deutsche Volk durchzuckte und weit durch alle Erdteile die Menschheit erwärmte. Der Kampf auf Leben und Tod war der alten Kirche erklärt; — dort stand der Papst mit seinen unzähligen Geistlichen, mit dem Schutz der weltlichen Gewalt, mit der Kraft, die tausendjährige Überlieferung geistiger Abhängigkeit einer Welt gibt — hier der einzelne mutige und auf Gott vertrauende Mann und ein paar Studenten, die schwerlich ganz begriffen, was ihr Lehrer tat; denn indem er des Papstes Bannfluch verspottete, lieferte er sich selbst dem Tode durch das Feuer aus, falls er unterliegen sollte. Aus den Rauchwolken, die dem brennenden Papier entquollen, mag Luther das schmerzdurchwühlte, sorgenvolle Gesicht des Johann Huss hervorgeschaut haben. „Weil du den Heiligen des Herrn betrübt hast, so betrübe und verzehre dich das ewige Feuer“ hatte das Konzil von Konstanz gesagt und sangen jetzt die spottenden, kampffrohen Studenten.

Rechts vom Weg liegt ein alter Kirchhof. Das hübsche Renaissancetor stand noch offen. Ich trat ein in ein stilles, malerisches Stückchen Erde. Der Festlärm des nahen Vogelschießens klang hierher, vom leichten Abendwinde fortgetragen, nur wie ein Summen von unzähligen Bienen. Die hohen Tannen und Fichten lagen schon in tiefem Dunkel. Nur die weißen Grabsteine leuchteten hervor, die sich links in dichten Reihen drängten. Rechts blickte man über eine hügelige Fläche, über die Reste versinkender Gräber. Nur zwei, drei kleine Marmorplatten mahnten daran, dass die dort Ruhenden nicht ganz vergessen sind. Nicht nur die Lebenden verdrängen sich gegenseitig, auch die Toten rauben einander den Platz unter der grünenden Erde.

Die Unterseite der Wolke zeigte hier und da noch einige braunrote Flecke, den Rest des hinsterbenden Abendrotes. Die Nacht brach an. Aber noch war es hell genug, die Inschriften zu lesen, die ich, den Gottesacker verlassend, an der Rückseite des Tores eingemauert fand:

Hier über diesen Stein rollten einst die Tränen des großen Mannes, als er im August 1528 sein zweites Kind, die erst acht Monate alte Elisabeth begraben hatte.

Wenige Stunden nachdem ich die Lutherstube verlassen hatte, dampfte ich wieder in die Riesenhalle des elektrisch erleuchteten Anhalter Bahnhofes ein. Der Lärm 19. Jahrhunderts umfing mich wieder.

Wittenberg ist eine Stadt, in der es mancherlei zu schauen gibt. Aber es ist noch viel mehr eine Stadt für beschauliche Leute!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Lutherstadt Wittenberg