Johann von Altenau an Delphine. Paris, am 31. Dezember 1772.

Meine liebe kleine Gräfin,
da ich mich doch nur in Gegenwart einer Ihrer Gestrengen steif und zeremoniös nach Ihrem Befinden erkundigen kann, und Ihnen nach dem Ereignis der gestrigen Nacht manches zu sagen habe, was Ihnen sonst Niemand sagt, so schmuggle ich diesen Brief bei Ihnen ein.

Das war ein Zusammentreffen, wert von La Harpe in leichten Reimen, von Boufflers in einer zierlichen Erzählung geschildert zu werden:


Dunkle Nacht; große weiße Flocken schweben leise zu Boden, um sich hier allmählich in klebrigen Schmutz zu verwandeln. Da biegt in der Rue de Sève ein Mann um die Ecke, die Laterne unter dem Mantel halb verborgen. Er sieht sich scheu rings um, dann hebt er die Laterne, nun folgt ihm ein zweiter, ein dritter, und danach eine Sänfte, die dicht verhangen zwischen den Trägern schwankt. Sie gehen rasch, als wären sie auf der Flucht. Irgend ein unklarer Gedanke zwingt mich, der ich ihnen begegne, umzukehren und desselben Wegs mit ihnen zurückzugehen. Plötzlich erhellt sich der Himmel vor uns, er färbt sich glutrot; die Sänftenträger erschrecken und stellen ihre Last zu Boden. Sekundenlang erscheint ein gepudertes Köpfchen zwischen den Gardinen, zwei dunkle Augen starren entsetzt hinaus. Mit einem Aufblitzen jähen Erkennens streifen sie mich. Die Diener treiben mit rohen Worten die Träger zu ihrer Pflicht zurück. Es geht vorwärts; ich bleibe von nun an gebannt dicht hinter der Sänfte. Da –, welch tosender Lärm schlägt uns entgegen: ein Glockenläuten, das aus allen Himmelsgegenden hundertfaches Echo zu finden scheint, dazwischen Trompetensignale, und, ständig anschwellend, Menschengeschrei. Wir haben den Pont Neuf erreicht, schon ist die Seine rot überhaucht wie bei Sonnenaufgang, und von rechts her schlagen Flammen gen Himmel, als ob sie seine dunkle Wölbung sprengen wollten.

„Das Hotel de Ville brennt“, kreischt ein altes Weib neben uns. „Mein Kind, mein Kind“ schreit verzweifelt eine andere und stürzt sich der Glut entgegen. „Zu Sartine“ ruft ein Mann und reißt einem der Diener die Laterne aus der Hand.

„Niemand kann ins Haus – die Kranken verbrennen – vierhundert Kranke“ Wir stehen erstarrt.

Und die kleine Sänfte öffnet sich und mitten in der grauenvollen Nacht erscheint eine Lichtgestalt, von weißer Seide umflossen, einen Rosenkranz auf dem gepuderten Köpfchen, goldene Schuhe an den zarten Füßen. Ihre nackten Arme, ihr kindlicher Hals leuchten im Dunkel.

In demselben Augenblick kommt es über die Brücke uns entgegen, langsam – leise, nur von Stöhnen und Wimmern begleitet; ein Zug Armseliger, Zerlumpter, halb Nackter, mit stieren Augen, fieberglühenden Wangen. Ihre Füße tragen sie kaum. Einer stützt sich am anderen –, dort die blasse Kleine an den Greis, dem der Tod schon aus den geisterhaften Zügen leuchtet, und das unselige Weib, deren Antlitz eine schwärende Wunde ist, an den Jüngling, dessen erloschene Augen die Glut nicht mehr sehen. Manche, die nicht gehen können, werden von den Leidensgenossen halb getragen, halb gezerrt. Zwei Männer, denen selbst die Kniee zittern, halten ein Mädchen unter den Armen und schleifen sie hinter sich her.

Eben will ich den Arm schützend um die schwankende Lichtgestalt neben mir legen, – da reißt sie sich los und steht schon mitten unter den Fliehenden. Man schaart sich um sie,– rohe Worte fallen –, man greift nach der Kette an ihrem Hals –, aber sie zittert plötzlich nicht mehr.

„Nehmt meine Sänfte für das Mädchen“ ruft sie, „Träger, hierher“ fügt sie herrisch hinzu, „nach l’Abbaye aux Bois“

Alles gehorcht, niemand rührt sie an, jedes Wort verstummt. Und mit den Goldschuhen und dem weißseidenen Kleid geht die Gräfin Delphine durch den klebrigen Straßenschmutz zum Kloster zurück. Sie hängt immer schwerer an meinem Arm, sie schweigt, und schüttelt nur den Kopf auf all meine Fragen. Erst vor der Pforte steht sie still, schaut mich an mit weiten angsterfüllten Blicken: „Gibt es so etwas? Wirklich? – War es kein Traum?“ – – –

Ihre Strafe wird gelinde sein, kleine Gräfin, weil das Werk der Barmherzigkeit Sie in den Augen der Frommen entsühnte. Trotzdem bleibt Ihnen viel Zeit, nachzudenken. Sie haben zum ersten Mal der Wahrheit ins Gesicht gesehen, die man Ihnen hinter hohen Taxushecken und Klostermauern verbarg, vor die man seidene Vorhänge an die Fenster, dichte Schleier über die Augen zog. Es ist wirklich, Gräfin Delphine, und kein Traum Von jenen Elenden, die Sie sahen, sind hunderte in den Flammen umgekommen, aber trotz dieses gräßlichen Endes sind sie, die zu vieren und fünfen in einem Bette lagen, noch nicht die Ärmsten. Es gibt Hunderttausende, die der Hunger langsam zu Tode martert, die kein ander Bett besitzen, als die Steine der Straße.

Wenn sie erwachen O, Gräfin Delphine, dann nützt auch Ihre Barmherzigkeit nichts. –

Darf ich Ihnen nun noch den Rat eines Freundes geben? Hüten Sie sich vor dem Grafen Chevreuse. Trotz seiner achtzehn Jahre ist er ein vollendeter Vaurien, und seine Lehrmeisterin in der Liebe ist eine der berühmtesten Kurtisanen von Paris, die Tänzerin Guimard. Als Gefährtin seiner Streiche sind Sie zu schade.

Eine Antwort von Ihnen darf ich unter den jetzigen Umständen nicht erwarten, so sehr sie mich auch beglücken würde. Aber ich hoffe, Ihnen bei der Herzogin von Lavallière, in deren Kreis ich mir Eingang verschaffte, – deutsche Denker sind, seit dem Baron Holbach, zu einem notwendigen Requisit jedes wohlassortierten Salons geworden –, zu begegnen, sobald Ihre Klausur zu Ende ist.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Liebesbriefe der Marquise. Teil 1