Johann von Altenau an Delphine. Paris, am 3. Oktober 1774.

Verehrteste Frau Marquise, Ihre rasche Antwort würde mich entzückt haben, wenn ich sie der Wirkung meines Briefes zuschreiben dürfte. Aber selbst Ihr Dank, dessen Wärme so gar nicht im Verhältnis zu meiner Leistung steht, zeigt mir nur das Eine: daß Sie verschmachten, und somit auch den kleinsten Tropfen Wasser als Labung empfinden. Dabei überschütten Sie mich mit einer bunten Vielheit von Fragen, die zu beantworten ich eine wahre Encyklopädie schreiben müßte. Sie erwarten wohl auch dergleichen gefährlich Freidenkerisches, sonst würden Sie mich nicht bitten, als Deckadresse die Ihres Hofnarren zu benutzen, ein Vorgehen, das vielleicht gefährlicher ist, als wenn ein Unberufener meine Briefe liest. Sind Sie des Mannes so sicher, in dessen Hand Sie sich begeben? Ich erfuhr jetzt erst, daß er der Sohn unserer robusten Kaffeehaus-Wirtin ist, einer skrupellosen Person, die den einträglichen Weg vom Straßenmädchen zur Kupplerin hinter sich hat, und sicher für ein paar Louisdor ihre intimsten Freunde an den Galgen brächte.

Doch genug davon. Ich will versuchen, Ihre Fragen zu beantworten und zwar möglichst der Reihe nach, weil ich gewiß zu sein glaube, daß diejenigen, die Ihnen am meisten am Herzen lagen, auch an erster Stelle stehen. Dabei muß ich meine Fragen nach dem Warum der seltsamen Reihenfolge in den Hintergrund schieben.


Also zuerst: Marie-Madeleine Guimard. Ich wundere mich nicht, daß Sie so viel von ihr gehört haben; mir scheint ein Teil des Geistes unserer Epoche in ihr verkörpert, wie denn überhaupt die Frauen, sei es infolge ihrer größeren Sensibilität, sei es, weil sie den geheimnisvoll wirkenden Kräften der Natur näher verwandt sein dürften als wir, in besonderem Maße die Produkte ihrer Zeit und ihrer Umgebung sind. Von majestätischem Wuchs und üppigen Formen, mit unbewegt regelmäßigen Zügen, waren die Frauen unter dem Zepter des Roi soleil; ihre Schönheit war eine rein körperliche, zu der das steife, prunkvolle Hofkostüm ebenso paßte, wie die antikisierenden Gewänder des Schauspiels und des Balletts; graziöser, lebhafter erschienen die Zeitgenossinnen der Marquise Pompadour; der Geist fing an, auch das unregelmäßige Gesicht von innen zu verklären; heute hat er sich den ganzen Körper unterworfen. Ein seelenvolles Auge, ein kapriziöses Naschen, ein Mund, der, selbst wenn er stumm bleibt, jeden Gedanken, jedes Gefühl wiedergibt; feine, schlanke Glieder, die nicht mehr um ihrer selbst willen da zu sein scheinen, sondern nur neue Ausdrucksmittel der Empfindungen sind –, das ist die Frau fin de siècle, das ist Madeleine Guimard. Sie ist nicht mehr jung, sie ist keine Schönheit, und doch ruiniert sich der Prinz von Soubise für sie, und der Herr von Laborde, ihr amant de coeur aus der Vergangenheit, bewahrt ihr die Treue eines Hundes, obwohl er stets neue Rivalen hat. Sie ist aus der Hefe des Volks emporgestiegen, wie alle ihresgleichen, und würde am Hofe von Versailles keiner Prinzessin von Geblüt nachstehen, denn sie besitzt in höchstem Maße jene Anpassungsfähigkeit der Frauen, die in wenigen Jahren aus einem kleinen Vorstadtmädchen eine Dame macht, während ein Bauer immer ein Bauer bleibt, auch wenn er Jahrzehnte lang Titel, Degen und seidene Strümpfe trägt.

Wenn sie tanzt, so könnte man ihr Antlitz verhüllen und würde doch jedes ihrer Gefühle verstehen. Man sieht, wie Himmel und Hölle um ihre Seele streiten. Ihre Luxusbedürfnisse sind ohne Grenzen, und doch kann man ihr in den Elendsquartieren der Butte St. Roche begegnen, wo sie, dicht in den Kapüchon gehüllt, Geld, Kleider, Lebensmittel unter die Armen verteilt. Kaltblütig hat sie schon Dutzende von Männern zu Bettlern gemacht, daneben rettet sie im Stillen junge Offiziere und arme Kollegen vor dem Elend. Die Orgien in ihrem Hotel bilden den Skandal der Nachbarschaft; dabei ist sie imstande, am nächsten Tage mit vollendeter Decenz Damen des Hofs, Männer der Kunst und der Wissenschaft zu empfangen, für die einen ein Beispiel in der Toilette wie im Haushalt, für die anderen eine sprudelnde Quelle der Anregung.

Und nun die Raucourt. Ihre Schönheit ist eine völlig jünglinghafte, ihr Geist hat in seiner kühlen Schärfe etwas Männliches. Man erzählt sich nur eine weibliche Schwäche von ihr: als vor Jahr und Tag der Patriarch von Ferney, in dessen Tragödie „les Lois de Minos“ sie sich weigerte, aufzutreten, ihre Tugend angriff, fiel sie in Ohnmacht. Seitdem ist sie unempfindlicher geworden. In den Rollen tragischer Heldinnen ist sie unvergleichlich, dagegen fehlt es ihr für die Rollen der Liebhaberin, die sie im Leben zu spielen versucht, an Grazie. Daher sind wohl auch ihre Verehrer meist sehr junge Leute, die mehr bewundern als lieben, mehr Schüler als Herren sind. Sie gehört zu den ständigen Besucherinnen der Gärten des Palais-Royal, wo sie weit mehr Frauen als Männer um sich versammelt. Eine der Pariser Sensationen war es, als sie kürzlich in einem der berühmten Privatzimmer der Madame Gaillard einen Frauenklub gründete, von dem die Lästerzungen der Kaffeehäuser, die viel giftiger sind als die der Salons, weil sie jeder guten Form entraten, allerhand Böses zu sagen wissen. Im übrigen glaube ich nicht, daß Mademoiselle Raucourt mehr als irgend eine andere der neuen Frauentypen ein Gegenstand Ihres Interesses zu sein verdient.

Sie fragen sodann, verehrte Frau Marquise, nach neuen Romanen, nach dem Befinden der Königin, nach den Aussichten des Ministeriums, nach einer Adresse zum Bezug der Parfilage, jener gräßlichen neuen Beschäftigung für nervöse Frauenfinger, nach den Ideen Diderots; – ich stehe vor dieser bunten Vielheit wie ein Kind vor der Jahrmarktsbude und weiß nicht, wohin ich zuerst greifen soll, auch sind leider zu wenig Geistespfennige in meinem Besitz, um für all das mit der richtigen Münze zu zahlen.

Neue Romane? Frauen schreiben sie mit derselben Fingerfertigkeit, wie sie Goldfäden zupfen. Es sind Herzensergüsse auf dem Papier, weil die Liebhaber sich aus dem Staube machten, die sonst zuhörten. Ich schicke Ihnen einige Proben und weiß, daß Ihr guter Geschmack Sie vor weiterem Bezug warnen wird. Die Zeit der Dichter ging vorüber, sobald die Wirklichkeit an den kühlen Verstand zu große Anforderungen stellte. Erst wenn wir das prosaische Problem des Sattwerdens gelöst haben, können wir uns wieder an der Tafel Anakreons mit Rosen kränzen.

Das Befinden der Königin? Sie baut in Trianon Sennhütten und interessiert sich für das Melken der behäbig blökenden Kühe und die Aufzucht friedvoller Lämmer.

Die Aussichten des Ministeriums? Sie werden unter diesem König, dem seine Räte täglich in ein anderes Jagdrevier nachreisen müssen, dem die Zahl der erlegten Rehböcke wichtiger ist, als die Zahlen des Staatsdefizits, der mit vielem Schweiß Schlösser konstruiert, die seine Garderobenschränke, nicht aber sein Reich vor Dieben sichern, – niemals zu berechnen sein.

Die Adresse für die Parfilage? Ich verschweige sie, weil Strümpfe stricken und Hemden nähen immer noch geistvoller ist als dieser Zeittotschläger.

Die Ideen Diderots? Sie unterwühlen wie eine Herde hungriger Ratten den Boden, auf dem unsere Welt gebaut ist, obwohl in Frankreich nicht hundert Menschen den Namen dessen kennen, der sie, ein umgekehrter Rattenfänger, hervorgezaubert hat. Sie sind wie vergiftete Pfeile, an denen der, den sie trafen, langsam hinsiecht. Rousseau hat die Rückkehr zur Natur wie ein neuer Religionsstifter gepredigt; Voltaire, der Hofnarr Seiner Majestät des achtzehnten Jahrhunderts, hat alles, was der Menschheit heilig erschien, mit der scharfen Lauge seines Spottes übergossen; Diderot aber ist der Held, der mit blanker Waffe, ein offner Feind der Gesellschaft, ihr gegenübertritt. Von ihr, so sagt er, stammen alle Leiden, alle Laster; von ihr, die die Religion und den Reichtum, das heißt Unterdrückung der Einen durch die Anderen, die vor allem die Moral erfunden hat. Die Religion ist die Quelle von Verfolgungen und Verbrechen, von Kriegen und Ketzergerichten; die Moral die Quelle der Heuchelei, des Seelenselbstmords, der Versklavung aller natürlichen Triebe; ihre Überwindung ist Wiedergeburt.

Sie erschrecken, Frau Marquise? Ach, ich dachte nicht daran, daß Sie sich in Ihren angstvollsten Stunden noch betend auf die Kniee werfen, daß Sie Ergebenheit in das Geschick, Unterdrückung der aufrührerischen Stimmen Ihres Inneren für Tugenden halten. Oder irre ich mich? Die kleine Gräfin Laval ist gegen den Befehl der Äbtissin bei Nacht und Nebel dem Kloster entflohen, die kleine Gräfin Laval ist, trotz der sicheren Strafe, freiwillig zurückgekehrt, um einer Sterbenden die letzten Stunden zu erleichtern.

Verzeihen Sie Das Bild dieses reizenden, tapferen Kindes hat sich meinem Herzen so unauslöschlich eingeprägt, daß ich darüber die Marquise Montjoie vergaß.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Liebesbriefe der Marquise. Teil 1