Die Leipziger Puppendoktorin.

Auch ein Weihnachtsbild.
Autor: Schmidt, Emil, Erscheinungsjahr: 1874
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Weihnachten rückte heran. Mann und Weib steckten die Köpfe zusammen, um den nicht zu umgehenden Weihnachtsetat vorsichtig festzustellen. Kinder kosten Geld, und Puppen auch. Fünf Kinder, neben einander gestellt wie die Orgelpfeifen und außerdem die dazu gehörigen Puppen und, wie man zu sagen pflegt, was sonst noch drum und dran hängt – das wollte „reiflich überlegt sein, um es fasslich wiederzugeben“, zumal die vorhandenen Puppen sich in einem hoffnungslosen Zustande befanden. Glücklich priesen wir uns daher, als wir von befreundeter Seite zu unserer Verwunderung hörten, daß in Leipzig, unserem Wohnorte, eine Puppendoktorin existiere. Natürlich wurde diese sofort in Anspruch genommen, und als mir mein Weib freudestrahlend die Nachricht brachte, daß sie die Puppendoktorin glücklich aufgefunden und die ganze Puppendoktorei ein reizendes Bild für die Gartenlaube gebe, begab ich mich selbst an Ort und Stelle. Als ich ins Zimmer trat, das der Leser nun im Bilde vor sich sieht, was konnte ich da anderes ausrufen, als: „Ist das ein Märchen? Hat hier eine Puppenschlacht stattgefunden und ist die kleine Frau drinnen nicht die wundertätige Fee, welche sich der hilflosen Verwundeten und der schauderhaft zugerichteten Puppen erbarmt und ihnen Allen zu einem neuen Leben verhilft?“ Und doch, eine Puppenschlacht ist hier nicht geschlagen worden, sondern es ging Alles ganz natürlich zu. Bei eingehenderer Besichtigung unseres Bildes findet man auch, daß trotz des kunterbunten Durcheinander doch vollständig Ruhe und Friede herrscht, ja aus dieser Welt im Kleinen lacht und leuchtet uns eine Unschuld entgegen, die wirklich bis in die Puppen geht. Alles, was man hier sieht, ist gewissenhaft der Wirklichkeit entnommen und mit voller Hingabe der Natur abgelauscht, ja mit solch einer Strenge und Genauigkeit, daß ich wohl die Behauptung wagen darf, daß so manche Kinderseele ihre Puppe wiedererkennen wird, vorausgesetzt, daß die mit dem Glorienscheine umgebene Weihnachts-Puppen-Auferstehung nicht die Erinnerung an die frühere traurige Hinfälligkeit des Puppenbalges überstrahlt und zu Nichte gemacht hat. Auch muss ich mich im Voraus gegen die etwa aufzustellende Aufsicht verwahren, das Bild habe Übertreibungen aufzuweisen; dies ist keineswegs der Fall, denn die auf dem Bilde nicht sichtbaren Räume der Stube waren ebenfalls dicht gedrängt von Puppeninsassen besetzt. Ja, es war sogar nebenan noch ein Zimmer und – wohin man schaute, Alles war puppenvoll und puppentoll. Und die kleine freundliche Frau? Das ist sie selbst, die Leipziger Puppendoktorin. Ja, ja, die Puppendoktorin! Und der Titel reicht nicht einmal hin, ihre Tätigkeit erschöpfend zu bezeichnen; denn unser Pudel auf dem Tische, welchem sie wieder auf die vier Beine geholfen, legt ein beredtes Zeugnis dafür ab, daß sie auch dem geliebten Vieh eine treue Helferin ist.

Die Puppendoktorin wohnte, als ich ihr meinen Besuch mit dem Skizzenbuch unter dem Arme machte, in der seitdem vom Erdboden verschwundenen Jahrhunderte alten „Schulgasse“. An einer Tür stand der Name „Schneider“. Auf mehrmaliges Anklopfen ertönte das übliche „Herein!“. Ein Blick in die Stube sagte mir, daß ich hier recht sei. Die Puppendoktorin gewährte, nachdem ich meinem Anliegen Ausdruck gegeben, dasselbe in freundlichster Weise. Ich hatte den glücklichsten Zeitpunkt gewählt: drei bis vier Wochen vor Weihnachten, und zwar im Jahre 1873. Das Geschäft war im vollsten Flor; es waren so viele Patienten da, daß sich mein Auge erst daran gewöhnen mußte, um sich zurecht zu finden.

Tagelang arbeiteten wir nun zusammen – sie auf ihrem Stuhle mit der größten Ruhe und Sicherheit die schwierigsten Operationen und Wunderkuren ausführend, ich, auf einem Fußbänkchen hockend, in mein Skizzenbuch Puppe an Puppe reihend.

Mein Gott, was habe ich da Alles gesehen! Wahrlich, die Kuren des weltberühmten, aufgeblasenen Prahlhanses Doktor Eisenbart sind nichts dagegen. Mit mindestens gleicher Liebe, gleicher Schonung und rührender Hingebung wurden da die Puppenpatienten, einer nach dem andern, ohne Ansehen der Person und des Herkommens, ohne vorausgegangene Marktschreierei und Reklame kuriert. Und die Doktorrechnung? Wahrlich, über die hatte sich Niemand zu beklagen.

Da waren Patienten, die den Kopf verloren. Nun, er wurde ihnen wieder aufgesetzt, oder es wurde der alte Balg gar mit einem neuen modernen Köpfchen geschmückt. Zerschmetterte oder zerbrochene Gliedmaßen wurden wieder geheilt oder gleichfalls durch neue ersetzt. Wer seinen Haarwuchs verloren, wurde zur Friseuse geschickt; denn unsere Wunderdoktorin mußte sich in Betreff des Haarwuchses eine Assistentin, eine Haarkünstlerin, halten. Dort wurde aus dem ruppigen Balge eine Jungfrau, die, wie es ja vorkommt, je nachdem man sie drehte, verschämt die Augen auf- oder niederschlug und „in der holden Locken goldnem Glorienglanze“ dann der Dinge harrte, die da kommen sollten. Wem im Gedränge die roten Wangen erbleichten, wer im Kampfe des Lebens runzlig geworden, wer sich die Nase abgelaufen oder eingerannt, – der Schmelz eines neuen Teints, der Wangen Milch und Blut, der Lippen Rosenglut, der Nase edle Form, kurzum die ganze Jugendfrische, das Ohrringeleinsetzen nicht zu vergessen, wurde durch die treffliche Behandlung unserer Puppendoktorin wieder zurückgezaubert. Wer die Augen nicht mehr aufschlagen konnte – ach, und deren giebt es viele – oder gar anstatt der Augen ein paar Löcher im Kopfe hatte, dem nahm sie vorsichtig den Hirnschädel auseinander, putzte die Fenster der Seele, richtete sie wieder ein oder ersetzte sie durch neue, und siehe da, der ganze Sehapparat tat wieder seine gewohnte lachende Schuldigkeit. Wem der Atem, die Stimme ausgegangen, dem wurde ein neuer Odem eingeblasen, und freudigwimmernd quäkte und quiekte die kleine Schreipuppe wieder ihr „Papa“ und „Mama“. Ich will aufhören, all die Wunderkuren aufzuzählen. Hier heißt es: Geht hin und überzeugt euch selbst!

Während unsrer Arbeit ging das Erzählen und Unterhalten herüber und hinüber, doch in eigentlichen Fluß konnte es mit dem besten Willen nicht kommen, denn – ich lüge nicht – alle fünf Minuten klopfte es, worauf natürlich ein „Herein!“ und alsdann ein Besuch erfolgte.

Was kamen da alles für Menschen! Groß und Klein, Alt und Jung, Männlein und Weiblein, Arm und Reich, kurzum die ganze menschliche Gesellschaft schickte ihre Vertreter, und nur in den allerseltensten Fällen entließ die gute Frau Doktorin Jemanden ohne Hoffnung. Tag und Nacht hörte das Wunderkurentum nicht auf, denn die gemütliche Frau repräsentiert eine ganz bedeutende Arbeitskraft; vor zwei bis drei Uhr Morgens macht sie nicht Feierabend, und das geht, mehrere Wochen vor Weihnachten beginnend, Tag für Tag so fort bis zum Feste, wo sie endlich auf den verdienten Lorbeeren ruhen und Feiertag halten kann.

Bewundernswert ist der Scharf- und Überblick, mit welchem sie ihr Puppenlazarett beherrscht. Viele der Puppen waren zwar nummeriert, doch die größte Anzahl entbehrte dieses Abzeichens. Dennoch kam kein Irrtum, keine Verwechselung vor. Wie ausgezeichnet und von Erfolg gekrönt ihre Kuren waren, lehrt der durchaus nicht vereinzelt dastehende Fall, daß geheilte Puppen von der Empfängerin kaum oder gar nicht wiedererkannt wurden; doch man kann sich getrost auf die Gewissenhaftigkeit und den Kennerblick unsrer Puppendoktorin verlassen; denn wie eine Mutter ihr Kind, so kennt unsre Puppendoktorin genau ihre Pfleglinge. Sie weiß stets, wer sie sind, woher sie stammen und wohin sie gehören.

Auch wenn die Gartenlaube den Raum dazu übrig hätte, wer könnte sie alle darstellen, die bei jedem Besuche sich immer wieder erneuernden, anregenden und erheiternden Szenen im Puppenlazarette? Und so scheiden wir vom Gegenstande unsrer Abbildung mit dem Wunsche, daß die Frau Puppendoktorin noch recht lange zur Freude unserer Kinderwelt ihre heitere Kuranstalt bevölkert sehen möge, und mit dem schönen Gruße an alle unsere Leser: Gesunde Feiertage!