Herrn Marrs Beweisführung: Einwanderung der Juden in Deutschland: Kriegszustand.

Wer Zustände der Gegenwart als unhaltbar darstellen will, müsste zunächst diese Unhaltbarkeit an einer genügen den Anzahl konkreter Fälle nachweisen. Herr Marr will dartun, „dass die Juden in Deutschland eine Stellung einnehmen, welche das Germanentum entweder vernichten werde oder bereits vernichtet habe ! Hat er dafür konkrete Fälle erbracht? Nein! Einige jüdische Publizisten zu viel, einige jüdische Bankiers zu viel, das ist alles, was er etwas stark betonen kann.

Darum geht Herr Marr einen Schritt weiter rückwärts, und versucht historisch zu beweisen, dass es unmöglich heute anders sein könne, als er es durch seine sehr graue Brille sieht. Über diese Beweisführung urteilt Herrn Marrs Gegner, Herr Reymond:
„Es dürfte Ihnen schwer fallen, Ihre bezüglichen Behauptungen durch konkrete historische Daten zu erhärten.“


Herr Marr hat aber noch einen weiteren Beweis – den materialistischen. Nach der materialistischen Theorie gibt es keinen Geist, keine Freiheit des Willens, Tugenden und Laster vererben sich Wie Nägel und Haare. Darum meint Herr Marr, seien die Juden, ob dessen, was er ihnen vorwerfe, – nämlich das Streben nach der Universalherrschaft vermittels des Realismus – nicht zu verurteilen, es liegt im „Blute der Semiten“. Um das zu beweisen, greift Herr Marr 3.400 Jahre auf Joseph *) zurück, in welchem er einen Urtypus „des semitischen Realismus“ erblickt. Doch ist es Herrn Marr nicht gelungen, Joseph seinem Zwecke gefügig zu machen, ohne Fälschung.

Der von Joseph beeinflusste Pharao sagt zu diesem: Wenn unter deinen Brüdern tüchtige Männer sind , constituo illos magis tros pec or um me or um (Vulgata.) so setze sie ein als Oberhirten über meine Herden (van Ess. kath.) setze sie über meine He er den (Luther). Herr Marr aber übersetzt: „so setze sie über mein Reich“. Sprechen Sie nicht von einem Druckfehler, Sie haben die Stelle gesperrt, und ohne diese gefälschte Übersetzung würde die Stelle das Gegenteil von dem beweisen, was Sie wollen, denn ein magister pecorum war in Ägypten keine sehr hohe Würde, zumal wenn ein Dutzend solcher Stellen auf einmal vergeben werden wollen; die Hirten bildeten die niederste Kaste der Ägypter.

Doch gesetzt, Ihre Übersetzung wäre richtig und nichts dagegen zu sagen, dass man von dem Individuum Joseph auf alle Juden schließt – was dann? Die alten Germanen waren noch 1500 Jahre nach Joseph leidenschaftliche Säufer, – Spieler, die Habe und Freiheit einsetzten – fühllose Ehemänner, die ihre Frauen schwere Arbeiten verrichten ließen, während sie auf der Bärenhaut lagen. Sollten diese Laster weniger im Blute der alten Germanen gelegen haben, als der Realismus in dem Josephs, und ich sollte – berechtigt sein, aus dem Tacitus zu demonstrieren – die Germanen müssen heute noch diese keineswegs liebenswürdigen Eigenschaften an sich haben – zumal sie seiner Zeit nicht bloß ein germanisches Individuum, sondern die Gesamtheit, an sich hatte. Welcher Hohn auf die Wirklichkeit!

*) Anmerkung: Herr Reymond, der uns berichtet, dass nach Darwin die Semiten von einer niedereren Affenart abstammen, als die Indogermanen, betrachtet den Brudermörder Kajin ! und Noa! auch als Semiten!! Letzterer hat seinen semitischen Realismus dadurch bewiesen, dass er nur seine Familie und das nötige Vieh mit in die Arche nahm, alle übrigen Geschöpfe aber ertrinken ließ! Ich empfehle Herrn Professor Messner dieses Thema für die evang. Kirchenzeitung, macht sie ja fleißig in „Judenfrage“ und Herr Marr hat ihr eben freundlich seinen Arm geboten.

Kommen wir auf Herrn Marrs historische Beweisführung zurück. Von Herrn Reymond dementiert, von Herrn Perinhart ad absurdum geführt, wird Herr Marr unwillig und fragt mit einer eines der „befähigsten Publizisten“ würdigen Unverfrorenheit, ob man ihm denn zumuten wolle, ein voluminöses Geschichtswerk zu schreiben. Bei Leibe nicht, Herr Marr, die Käufer wären betrogen; entweder aus Mangel an Wahrheitsliebe oder an Geschichtskenntnis: wählen Sie!

Ein Geschichtswerk sollen Sie nicht schreiben; nicht einmal Episoden können von Ihnen gefordert werden; aber mit Recht kann man verlangen, dass derjenige, der sich anheischig macht, etwas historisch zu beweisen, wahrheitsgemäße konkrete historische Daten beibringt, und nicht Gebilde einer nicht einmal genialen, sondern sehr spießbürgerlichen Phantasie.

Aber als sehr befähigter Publizist kennt Herr Marr sein Publikum. Das gründliche und wissenschaftliche Deutschland kümmert sich um alles, was irgendwie wissenschaftliche Bedeutung hat; nur die Geschichte des ältesten Kulturvolk es, dem die Menschheit den größten und besten Teil ihrer Kultur verdankt, ist ihm gleich gültig. Einige wenige edlere Naturen ausgenommen, stöbern nur Judenfeinde darin nach brauchbarem Material für sich. Herr Marr, der sich nicht einmal die Mühe des Stöberns machte, hat auf diese ziemlich allgemeine Unkenntnis der jüdischen Geschichte sich eingerichtet.

Nach Herrn Marrs Darstellung seien die Juden durch Titus als Kriegsgefangene ins Abendland gekommen. Titus habe den „dummen Streich“ begangen, sie nicht nach der Strenge des Kriegsrechts zu behandeln. Herr Marr scheint sich vorzustellen, Titus habe die jüdischen Gefangenen wie eine Viehherde vor sich hergetrieben und in Italien angekommen, sie laufen lassen, wo sie dann sogleich in die Städte liefen und zu handeln anfingen. Das unbedeutende Ereignis des Zusammensturzes des Römerreiches und der Völkerwanderung störte sie nicht im geringsten, sie blieben ruhig in den italienischen Städten sitzen, bis das mächtig werdende Papsttum (relata refero!) den religiösen Unterschied etwas stärker betonte. Dies sei den Juden wegen der daraus entstandenen Handels – Einschränkung nicht angenehm gewesen, da seien sie nach Spanien hinüber, später (wahrscheinlich, weil sie es auch einmal mit einem andern Klima versuchen wollten) zogen sie nach den slawischen Ländern, von wo sie (vielleicht weil man damals die Juden sehr liebevoll in Deutschland behandelte) über Holland nach Deutschland kamen.

Diese ganze Marr'sche Geschichtsdarstellung ist in allen ihren Teilen unrichtig.

Hören wir über die Schicksale der bei der Zerstörung Jerusalems gefangenen Juden die einzige vorhandene Quelle, den unter den Augen des Titus schreibenden Josephus Flavius (Jüd. Krieg, II. 8. 2.; 1. 2.): Die Gefangenen Jerusalems ließ Titus auf der Tempelstätte zusammenpferchen und bewachen und überlies es einem freigelassenen Sklaven Fronto, über sie zu verfügen. Fronto ließ diejenigen, welche als Kämpfer erkannt oder verraten wurden, auf der Stelle hinrichten. Die Übrigen beneideten sie um dieses schnelle Ende, denn siebzehn Tausend derselben kamen vor Hunger um, indem die Aufseher ihnen nur schmale Bissen reichten. Ein Teil der Gefangenen weigerte sich, von den Römern etwas anzunehmen, und verschmachtete. Von den Überlebenden wählte Fronto die schönsten und kräftigsten Jünglinge für die Kämpfe mit wilden Tieren und Titus Triumph aus; die andern, welche über siebzehn Jahre alt waren, wurden in die Bergwerke Ägyptens gesandt, um dort lebenslänglich als Arbeitskräfte der Römer zu dienen. Von dem Reste, vierzig Tausend, schenkte Titus einen Teil seinen Freunden als Sklaven, die übrigen Jünglinge unter siebzehn Jahren und die weiblichen Gefangenen wurden dem Meistbietenden verkauft; und sie wurden wegen ihrer Menge den Sklavenhändlern um einen Spottpreis überlassen.

Demnach ist nur ein winzig kleiner Teil der Gefangenen durch Titus nach dem Abendlande gekommen, und vielleicht nicht ein Prozent der abendländischen Juden stammt von jenen ab, die die Zerstörung Jerusalems gesehen. Wie kamen aber die Juden zu uns?

Die erste Auswanderung der Juden aus Palästina ist das babylonische Exil, von welchem ein sehr großer Teil nicht mehr bleibend ins Vaterland zurückkehrte, sondern in Babylonien ansässig blieb.

Eine zweite halbspontane Auswanderung fand unter Alexander dem Großen statt. Dieser hatte sie wegen ihrer Treue gegen ihren bisherigen Oberherrn, Darius Kodomanus, achten gelernt und verpflanzte sie massenhaft nach Ägypten (Alexandria), Kleinasien und Griechenland.

Alle diese im Auslande lebenden Juden erhielten sehr bedeutende Verstärkungen, während der Makkabäerkriege (mit Antiochus Epiphanes) und während der jüdischen Bürgerkriege (im Hause der Makkabäer), diese äußeren und inneren Kämpfe veranlassten viele Juden zur Auswanderung. Es entstand sogar (163 vorchristl. Zeitrechnung) in Ägypten ein dem zu Jerusalem ähnlicher Tempel.

Durch die Fortschritte der römischen Eroberungen in Asien, Afrika und Europa (Griechenland) wurden die massenhaft allenthalben in diesen Ländern wohnenden Juden römische Provinzialen, d. h. römische Bürger und folgten den Römern nach Italien und den Kolonien in Spanien, Gallien und Deutschland. Sicherlich haben die Juden in den germanisch-römischen Ansiedlungen den Schöpfer des Himmels und der Erde angebetet und Davids Psalmen gesungen, als die alten Germanen ihre Kriegsgefangenen noch dem Wodan opferten und aus deren Hirnschalen Bier tranken.

In Rom waren die Juden (59 v. Chr.) schon so zahl- und einflussreich in den Volksversammlungen, dass Cicero (pro flacco 28) glaubte, auf sie Rücksicht nehmen zu müssen.

Die Völkerwanderung zerstreute die Juden jedenfalls noch mehr im Abendlande und wir finden sie nach derselben in den Reichen der Ost- und Westgoten, der Longobarden und Franken sehr zahlreich. Durch die Vereinigung dieser Reiche zu dem großen Frankenreiche unter Karl dem Großen und die Verlegung des Schwerpunktes dieses Reiches nach Deutschland zog sich wiederum ein Teil der Juden nach Deutschland.

Mit Karl dem Großen schließt in der Hauptsache die Periode der Einwanderung der Juden nach Deutschland. Von da ab lässt sich kein weiterer nennenswerter Zuzug mehr konstatieren, vielmehr Auswanderungen. Die Juden sind – in geradem Gegensatz zu Herrn Marrs Behauptung – nicht von den slawischen Ländern nach Deutschland ausgewandert, sondern von hier nach den slawischen Ländern. Dass die Juden in allen slawischen Ländern deutsch sprechen, hat Herr Perinhart schon als Beweis hierfür angeführt.

Wenn Herr Marr die Juden von Spanien aus Deutschland überfluten lässt, so stellt er die Geschichte nicht nur auf den Kopf, sondern zeigt auch eine mehr als merkwürdige Unkenntnis der Geschichte seiner Vaterstadt Hamburg.

Die aus Spanien von Ferdinand dem Katholischen und Isabella Vertriebenen und vor der Inquisition entflohenen Juden unterscheiden sich für jedermann kenntlich von ursprünglich deutschen Juden durch die spanische Grandezza, durch kulturelle, zu einer Separatgemeindebildung Veranlassung gebende Abweichungen und durch Gebrauch der spanischen Sprache als teilweise Gebets- und Umgangssprache unter sich. Herr Marr muss doch wissen, dass in Hamburg eine deutsch-israel. und eine spanisch (eigentl. portugiesisch) israel. Gemeinde offiziell besteht. Diese portugiesische Gemeinde zu Hamburg-Altona ist die einzige spanisch-jüdische Niederlassung in Deutschland, sie wurde erst Ende des 16. und Anfangs des 17. Jahrhundert gegründet.

Ich konnte dem Leser diese geschichtliche Auseinandersetzung nicht ersparen. Herr Marr wolle beweisen, die Juden seien als Kriegsgefangene ins Abendland gekommen, mit dem (nach Marr) berechtigten Revanche-Gedanken, ihre Feinde per fas aut nefas zu bekämpfen und in diesem Kampfe seien endlich die Germanen den Juden erlegen. Ich habe dagegen bewiesen, dass die Juden auf eine allerdings merkwürdige Weise, sozusagen durch das Zusammenwirken aller epochemachenden Ereignisse der Weltgeschichte, seit 600 vor bis 800 nach Chr. nach Deutschland gekommen sind, nicht aber unter Umständen, die sie berechtigt hätten, den „Kriegspfad“ zu betreten in den Ländern, in denen sie lebten. Es ist Herrn Marr unmöglich, auch nur eine Spur dieses Kriegspfades nachzuweisen. Die Juden waren nie die Kämpfenden, sondern immer die Bekämpften, nie die Leitenden, sondern immer die Leidenden. Zum Glück haben wir noch die Losung, welche sie als Vademecum auf die lange Pilgerfahrt mitgenommen haben. Es ist das höchst friedliche Wort, das ich als Motto auf den Titel dieses Heftes gesetzt habe.

Durch meine geschichtliche Auseinandersetzung, der nie m an d mit historischen Beweisen wird wider – sprechen können, löst sich der frappante Hintergrund der Marr'schen Darstellung in Dunst und Nebel auf und der darauf gestützte sensationelle Titel seiner Broschüre gehört in das Reich der von ihm sehr getadelten „Reclame.“