Die späteren Novellen.

Wie gesagt, kann man die Landschaftsdarstellungen der frühern und der späteren Novellen nicht scharf voneinander unterscheiden; der Übergang ist kein plötzlicher; er ergibt sich allmählich; ja, die realistischere Art der Landschaften der Spätzeit steht sozusagen mit einem Fuß schon in Storms Frühzeit.

Wir wissen, dass die lange Verbannung aus der Heimat (1853 bis 1864) und der Tod Konstanzes (1865) eine neue Periode in Storms Schaffen bedingen: die Periode des stärkeren Realismus,*) der sich vor allem in der Wahl der Motive und demgemäss auch in der Art ihrer Darstellung kundtut: Problem- und Konflikt-Novellen. Der Lyriker Storm wird allmählich zum erschütternden Tragiker.


*) „...als du in Öl zu malen anfingst“, sagte Paul Heyse. (G. Storm, II, 204.)

Dieser innere Wandel konnte natürlich nicht ohne Einfluss auf sein Naturgefühl bleiben. In einem früheren Kapitel (Einleitung) haben wir bereits konstatiert, dass in den Novellen dieser neuen Periode die Pinselführung auch in den Landschaftsmalereien entschiedener und charakterfester wird. Es werden hier nicht mehr hundert kleine, feine Einzelheiten geschildert und darob die großen Landschaftslinien vergessen oder kaum angedeutet; die Natur wird jetzt mit mehr Bewusstsein und mehr Konzentration gezeichnet. Nur noch diejenigen ihrer Züge werden erwähnt, die wesentlich sind, um den Zweck der Landschaft — Erhöhung und Verstärkung der Handlungsvorgänge — zu erreichen, und welche bedeutend sind für die Handlung. Gemäss dem dramatischeren Stoffe erhalten auch die Schilderungen größere Bewegtheit; wir sahen auch schon, dass nun Marsch und Meer häufiger auftauchen in den Dichtungen, da sie infolge der stürmischen Winde und der brausenden, sich auftürmenden Wogen lebhaftere, dramatischere Motive zu bieten vermögen als etwa Heide oder Garten. Was für ein Ungestüm zeigt z. B. das stürmische Meer und der raue Wind gleich zu Anfang der „Psyche“! Oder wie dramatisch ist das Steigen der Flut, das Klatschen der Wellen, das Pfeifen der Winde, das ganze gewaltige Toben der Naturmächte geschildert im „Carsten Curator“! — Nicht zur vollen Entfaltung ihrer ganzen Gewalt kommen die Gewitter*) im „Doppelgänger“ und „Bötjer Basch“. Immerhin hat Storm in den frühern Novellen ein Gewitter lange nicht bis zu dieser Entwicklungsstufe kommen lassen. („Immensee“, „Auf der Universität“ usw.) — Und wieder in „Hans und Heinz Kirch“ das wilde Krachen der Äquinoktialstürme, die dann aber erst im „Schimmelreiter“, zusammen mit der ungeheuren Springflut zu riesenhafter Gewalt emporwachsen, zum grausigsten Entsetzen.; Hier im „Schimmelreiter“ tritt, wie bereits früher erwähnt wurde, die Natur ganz als handelnde, feindliche Person auf und entwickelt ihre Macht, ihre feindliche Wut bis zu gigantischer Großartigkeit. Wir staunen und sind erschüttert. Wir begreifen kaum, dass der greise Dichter am 9. Dezember 1887 an Gottfried Keller, den „Schimmelreiter“ betreffend, schreiben konnte:**) „Nur leider — ich weiß nicht, ob ich noch die rechte Kraft hatte, den Stoff zu zwingen.“ Furchtbarer hätte wohl kein anderer Künstler diese grausige Sturmflut darstellen können mit ihrer atemlosen Spannung.***)

Doch nicht nur diese dramatisch bewegten Landschaften — auch die ruhigen, sanften der Mondnächte usw. zeigen einen, ich möchte fast sagen, fundamentierteren Charakter als die frühern.

*) Jeremias Gotthelf z. B. hat im Gegensatz dazu in seinem „Uli der Pächter“ (19. Cap.) ein urgewaltiges Hagelwetter dargestellt.
**) Köster, a. a. O., S. 223.
***) G. Storm (I., 57 ff.) erzählt, dass der achtjährige Knabe Storm eine gewaltige Sturmflut in Husum miterlebt habe.


Nicht nur sind sie gedrungener, man hat bei ihrer Lektüre auch das Gefühl ihrer viel größeren Notwendigkeit für die Erzählung, da das Verhältnis der Landschaft zum Seelischen der Handlungsvorgänge ein viel innigeres ist. Wäre z. B. im „Fest auf Haderslevhuus“, wo Rolf Lembeck die junge, holde Dagmar entdeckt, zu welcher nun seine Seele mächtig hindrängt, wäre diese wunderzarte Szene zu verstehen oder begründet ohne das feinsinnige Vorspiel und die bedeutungsvolle Begleitung, welche die Natur dazu spendet? Sicher nicht! — Oder man denke an die Schwalben in „St. Jürgen“, wie sie zwitschernd den alten Turm umflattern, und wie durch sie so vieles Unausgesprochene kunstvoll an- und ausgedeutet wird! „Den Chorus der Novelle“, nennt sie Erich Schmidt.*) So könnte man die Beispiele häufen, welche klar dartun, wie viel bedeutungsvoller, gesättigter und kraftvoller die Naturschilderungen des Storni der zweiten Periode gegenüber denen der Frühzeit sind. Auch sie beweisen, dass Storms Kunst im Alter nicht nur nicht schwächer geworden ist, sondern sogar bis zu seinem späten Tode stets in wachsender Entwicklung begriffen war.

*) E. Schmidt: Charakteristiken I, 410.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Landschaft in Theodor Storms Novellen