Allgemeiner Charakter.

Im allgemeinen Charakter seiner Landschaften findet die besondere Eigenart eines Dichters ihren sprechendsten Ausdruck. Diejenigen Züge, die sie alle oder doch die Mehrzahl von ihnen gemeinsam aufweisen, lassen am leichtesten auf die individuelle Wesensart der Dichterseele schließen; sie sind der bewusste oder unwillkürliche Ausfluss seiner Anschauungen oder Forderungen von der Poesie im besonderen oder von der Kunst überhaupt. Da wir nun wissen, welch nahe Verwandtschaft zwischen Storms Lyrik und seinen Novellen besteht, so können wir die Hauptsätze seiner Theorie der Lyrik ohne Bedenken auch auf die Landschaftsdarstellungen seiner Prosawerke übertragen. Denn diese „sind empfunden wie Gedichte, in künstlerischer Form gehalten wie solche, und wirken auch gleich Gedichten.“ (Wilhelm Jensen [Schütze, a. a. 0., S. 298].)

Was nun Storm von der Poesie, von der Lyrik namentlich, verlangt, hat er in folgenden Worten niedergelegt: „Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie, wo möglich, alles Drei zugleich. Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben unmittelbar .... berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht“.*) Und weiter besteht für ihn „die eigentlichste Aufgabe des lyrischen Dichters“ darin, „eine Seelenstimmung derart im Gedichte festzuhalten, dass sie durch dasselbe bei dem empfänglichen Leser reproduziert wird“.**)


Es ist ihm also nicht so sehr darum zu tun, die Natur zu schildern, zu kopieren, vielmehr will er den Leser sie fühlen lassen; unmittelbar soll sie auf seine Sinne einwirken. Und Storm ist wirklich in hohem Masse imstande durch seine Naturschilderungen auch den Leser mit jener gesättigten Stimmung zu erfüllen, die die Natur in ihm selbst beim Betrachten erwachen ließ. Seine Landschaften sind nicht mit pedantischen, „Adalbert Stifterschen Malermitteln“ dargestellt, die Gottfried Keller unhaltbar nannte. Er gibt im allgemeinen nur die Züge des Naturbildes wieder, die wesentlich sind und eben unmittelbar berühren, von denen er weiß oder ahnt, dass aus ihnen das feine Zittern seiner Seele sich auf den Leser überträgt, so wie der bebende Ton einer Glocke eine andere, gleichgestimmte zum leisen Mitschwingen und Mitklingen bewegen kann.

*) Th. Storms „Hausbuch«, Vorwort, S. IX.
**) P. Schütze: Storm-Biographie, Berlin 1911, S. 294.


Storm will in der Poesie also hören, schauen und empfinden, „alles Drei zugleich“. Und diesen hohen Anforderungen hat er selbst in vollem Umfange Genüge getan. Ja, er befriedigt in den meisten seiner Naturschilderungen auch noch einen vierten Sinn, den Geruchsinn. „Feinfühlig zeigt sich der Dichter für jede Regung der Natur, für das Säuseln der Gräser, für den heimlichen Zauber der Mondnacht, wie für das rauschende Meer.“*)

Im folgenden möchte ich versuchen, diejenigen Züge seiner Landschaftsdarstellungen zusammenzustellen, welche ihnen allen gemein sind, denen der Frühzeit sowohl als auch denen des Alters.

Da wäre vor allem die Stimmung zu nennen, womit Storm jeden einzelnen Pinselstrich getränkt hat. Sie ist etwas Unfassbares, ist jenes „Tirili“, der schmackhafte Herzschlag, mit dem auch die Lerche ihr Lied herausjubelt und die Nachtigall es herausklagt“**), ohne den Storm keine Lyrik anerkennt, wie er selbst in seinem Briefe vom 3. Januar 1882 an Gottfried Keller schreibt. Diese leise zitternde Stimmung entsteht bei ihm wohl dadurch, dass er, wie schon weiter oben erwähnt, nur die wesentlichsten Züge der Landschaft gibt, dass er also diese nicht von allen, sondern nur von einer bestimmten Seite, meist vom Standpunkt der Menschen aus, die er in diese Landschaft führt, beleuchtet. Dabei spielt der Umstand noch eine große Rolle, dass Storm „nie die letzte Schwingung, den letzten noch hörbaren Ton anschaulich machen und erklingen lässt, wie dies die Hebbel und Ludwig wollen, die Frevler des Intimen.“***) Die Kunst soll das Vorletzte darstellen, nicht das Letzte. Andeutungen sind in viel stärkerem Masse dazu geeignet, unsere Seele in zitternde Schwingung zu bringen, als nackte, schroffe Tatsachen, wie wir sie bei den Naturalisten finden. Noch ein wichtiges Moment für die Stimmungsfülle einer Landschaftsschilderung ist deren Stelle im Rythmus der Dichtung, und was Gottfried Keller vom Epiker vor allem verlangt: „dass wir alles Sinnliche, Sicht- und Greifbare in vollkommen gesättigter Empfindung mitgenießen, ohne zwischen der registrierten Schilderung und der Geschichte hin- und hergeschoben zu werden, d. h. dass die Erscheinung und das Geschehene ineinander aufgehen“, wofür ihm Gotthelf ein Beispiel bester Güte abgibt, — diese Forderung erfüllt Storm in allen Teilen. Seine Landschaftsdarstellungen sind nirgends zufällig eingestreut; sie haben ihre ganz bestimmte Stellung, ihren ihnen durch die feinste Kunstberechnung des Meisters angewiesenen bedeutungsvollen Platz. Ohne diese feinfühlige Berechnung in die Erzählung irgendwo eingeschoben, würden sie sicher nur die halbe oder gar keine Stimmung im Leser erwecken. Erst die innere Verwandtschaft zwischen den Episoden der Handlung und den sie wie ein Akkord begleitenden Naturerscheinungen vermag jene Stimmung zu erzeugen. Auf diese Weise stören sie den Genuss des Lesers nicht, im Gegenteil: sie müssen da sein, um die, Empfindung und den Genuss zu erhöhen. Das geflügelte Wort: „Un paysage est un état d'âme“ könnte man als Motto über jede Landschaftsschilderung Storms setzen. —

*) A. Biese, a. a. O., S. 37.
**) Köster: Briefw. zwischen Storm und Keller, 3. Aufl. (Berlin 1909), S. 135.
***) E. Kuh an Storm, 12. März 1874.


Ähnlich wie Eichendorff, nur in noch viel innigerer Weise, will Storm in der Poesie hören. Und eine auffallende Eigenschaft seiner Naturschilderungen ist der Ausdruck seines feinen Gehöres für die lieblichen, zartesten Stimmen der Natur. Die Landschaft im „Grünen Blatt“, welches Mörike ein „Gemälde“ nennt, vermittelt uns nicht nur Farben und Formen, sondern eben sosehr auch die tausend feinen, sich ineinander verwebenden Klänge. Nur eine Stelle sei hier angeführt:*) „Er hörte nichts als das Rauschen

*) W. I., 109.

ihrer [Reginens] Füße in dem überjährigen Laube und das Arbeiten der Käfer in den Baumrinden; kein Luftzug, nur das feine elektrische Knistern in den Blättern rührte sich kaum hörbar.“ Oder das Gedicht „Auf dem Segeberg“**), das folgende Strophe enthält:

„Musik! Musik! Die Lerchen singen,
Aus Wies' und Wäldern steigt Gesang,
Die Mücken in den Lüften schwingen
Den süßen Sommerharfenklang.“


Ihm „klingt im Wind ein Wiegenlied***), er hört „des gärenden Schlammes geheimnisvollen Ton“****), und dasselbe Gedicht „Meeresstrand“, schließt mit der Strophe:

„Noch einmal schauert leise und schweiget dann der Wind, — Vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.“ Sein überaus feines musikalisches Gehör reagierte auf das allergeheimste Klangzittern in der Natur. Und gerade durch die Wiedergabe solcher intimster Naturstimmen*****) erzielt Storm einen großen Teil des Stimmungszaubers, der über den Landschaftsdarstellungen besonders der Frühzeit, von denen manche ja fast um ihrer selbst willen da sind, dämmert. Wir werden davon noch etwas eingehender zu sprechen haben.

**) W. VIII., 248.
***) W. VIII., 231.
****) „Meeresstrand, W. VIII, 195.
*****) Man vergleiche hinsichtlich der Naturklänge etwa noch folgende Stellen: I., 90/91, 110, 225, 287; II., 114, 201, 213; III., 76, 248; IV., 135; V., 126; VI., 317; VII., 92, 155; VIII., 146, 194 etc. etc.


Auch dag Auge kommt in Storms Landschaften zu seinem Rechte, und zwar scheint der Dichter mehr Sinn für die Farben als für die Formen und Linien der Landschaft zu haben. Dennoch treten die Farben bei ihm keineswegs in der fast überreichen Fülle auf wie etwa bei Jean Paul, dessen Landschaften freilich meistens reine Phantasiegemälde sind.*) Storm gibt auch in dieser Beziehung nur das Wesentliche; in sehr vielen seiner Naturschilderungen fehlen die direkt genannten Farben überhaupt, ohne dass jene deshalb etwa farblos würden; denn sie sind dann oft in solchen Begriffen ausgedrückt, wie etwa Buchenwald, Kornfeld, Abendsonne usw., die in uns unwillkürlich doch eine Farbenvorstellung wachrufen. Einige sprechende Beispiele von farbigen Landschaften sind etwa folgende: „Der rötliche Anwurf der Mauern war mit grünem Moos bewachsen, . . . braunes Schwammgewächs, . . . dunkelgrüne Bank, See ... im Sonnenschein, . . . dunkle Schmetterlinge“ (W., II., 138). „Eine gleichmäßig grüne Fläche; das Abendrot am Himmel, Stauden mit blauen und weißen Blüten, roter Gartenmohn, Kartoffelstauden mit lichtgrünen Äpfeln in dunklen Blättern, leuchtend rote Blumen“ (VII., 29/30). „Brauner Abendhimmel“, „bräunliche Tinten des Abends“ (I., 79, 147), „rotblühende Himbeersträucher“ (I., 84) „blauer Flieder“ (I., 212), „stahlblauer Tropenhimmel“ (L, 272), „aus weißen Nebeln stieg ein goldener Herbsttag“ (VII., 245), „gelbgraue Wellen“ (VII., 148), „bläulicher Duft der Mondscheinbeleuchtung“ (I., 261), „untergehende Sonne vergoldet das braune Haidekraut“ (VII., 123) usw. Kaum weniger häufig finden wir jene Begriffe, die Farbenempfindungen erwecken. „Blänkernde“ oder „blinkende Wassertümpel“ (V., 35), „waldbekränzte Ufer“ (VIII., 25), „hinter den gewaltigen Schatten des Waldes das letzte Tageleuchten“ (V., 35), „ein bemooster Granitblock“ (VII., 90), „schillernde Libellen“ (II., 240), „trüber Mondduft“ (VII., 215), „heller Sternenschimmer“ (VII., 80), „glitzernde Schlickflächen“ (VII., 216) usw. Solche die Farben nur andeutende Begriffe sind dazu angetan, die Phantasie des Lesers in Vibration zu bringen und beleben das Landschaftsbild (glitzernd, schillernd, blänkernd, blitzend usw.). Wir schauen alle seine Landschaften; denn seine nur angedeuteten, sozusagen umschriebenen Farbentöne lässt er uns gerade durch ihr Nur-Angedeutetsein empfinden. Auch sie sind ein Stimmungsfaktor.

*) Vgl. dagegen den Reichtum realer Farben bei J. P. Jacobsen, der hinsichtlich der Farbenfreude mit Storm verwandt ist. „Die Bäume des Gartens verbargen das Gold und die Glut des Sonnenunterganges; nur an einer einzigen Stelle öffnete sich ein brandroter Fleck zwischen den Stämmen und ließ eine Sonne von tiefgoldigen, sprühenden Strahlen grüne Farben und bronzebraunen Widerschein auf der dunkeln Laubmasse erwecken. Oben über die unruhigen Baumwipfel jagten die „Wolken düster über den rauchroten Himmel und verloren... kleine Wolkenfetzen..., welche der Sonnenglanz dann mit weinroter Glut sättigte.“
„Niels Lyhne“, Cap. 8 (S. 113), hsgb. v. Evers.


Die Farbentönungen einer Landschaft sind abhängig von der Beleuchtung derselben.*) Das Licht belebt die Natur, und wir sehen, dass Storm in keinem seiner Landschaftsbilder auf die Erwähnung besonderer Lichteffekte verzichtet. Selten malt er die Beleuchtung in vollständiger Ruhe; sie ist immer auf irgend eine Art in Bewegung und beseelt, wie gesagt, dadurch die Landschaft wirkungsvoll. Wir finden da die mannigfaltigsten Arten von Lichtbewegtheit. „Die Sonne funkelte“ (IV., 135), „drüben zuckte dann und wann ein Wetterschein empor“ (Abend) (IV., 136), „Die Wellen wurden flüchtig vom Sonnenstrahl durchleuchtet“ (IV., 217), „Die blitzende Himmelsglocke“ (L, 227), „Die herbe Frühlingssonne flimmerte“ (II., 113), „Die Sonnenstrahlen brachen sich zwischen den Blättern und blendeten ihn“ (I. 317), „Das Mondlicht spielte auf ihrem weißen Gewande“ (I. 264), „Über ihm flammte der Himmel in seinen Millionen Sternen“ (VI., 324), „Die Sonne streute Funken auf die feuchten Wipfel“ (VII., 134) usf. — Besonders wirkungsvoll und belebend wird das Licht dann, wenn es von Wasser oder ähnlichem reflektiert wird.**) In diesem Zusammenhang erweckt es zugleich auch eine leise Farbenempfindung, wie wir sahen. Storm liebt besonders die Reflexion des Lichtes. „Die Brücke des Mondspiegels streckte sich zitternd über das Wasser“ (I., 111), „Der Sonnenschein lag schimmernd auf den Blättern“ (I., 146), „Das Gras blitzte im Sonnenscheine“ (II., 201), „Der Mond . . . warf gelblich blinkende Lichter auf den bloßgelegten Schlamm“ (IV., 26), „Hie und da blänkerte noch ein Wassertümpel“ (V., 35), „Mondglitzernde Wasserfläche“ (VI., 16), „Das Mondlicht glitzerte auf den Blättern der Hülsen und den Nadeln des Taxus“ (VI., 289), „Der Mond blitzte auf einem Silberreif“ (VI., 306), sie sahen „den Spiegel [Wasser] in der rötlichen Abendsonne blinkern“ (VII., 50), „Das weiß bereifte Schilf glitzerte blendend in den schräg fallenden Sonnenstrahlen“ (II., 104), „ein Blitz des Meeresspiegels“ [Morgensonne] (II., 137) usf. — Es ist für die Wirkung der Stormschen Landschaftsbilder sehr wichtig, dass er solche feine, bebende und belebende Lichteffekte zeichnet. Unwillkürlich erregen sie durch ihre Bewegtheit ein leises Zittern im Leser, das sehr viel zu der gesättigten, sinnlichen Stimmung beiträgt, welche die Novellen Storms auslösen. Grelles Licht und schreiende Farben vermeidet Storm gerne; er bevorzugt im allgemeinen die Dämmerungs- und die Nachtlandschaften, in denen naturgemäss die Fluten der Dunkelheit alle hellen Farben dämpfen, verschlingen. Es mag auch im Wesen der Erinnerungspoesie, wie Storm sie ja meistens übt, begründet liegen, dass der Duft der Entfernung, der all seinen Landschaften etwas Pastellartiges verleiht, unwillkürlich die scharfe Beleuchtung und mit ihr alle grellen, hervorstechenden Farben mildert. Dadurch wird jenes geheimnisvolle Etwas entstehen, das uns so bezaubert.

*) Vgl. Goethes Schilderung des Rheinfalls bei Schaffhausen, 18. September 1797 („Reise in die Schweiz“).
**) Auch hierin ist Storm mit den Romantikern verwandt. Vgl. etwa Eichendorff.


Auffallend in allen Landschaftsschilderungen Storms, in denen der Frühzeit sowohl wie auch in den spätem, ist das Erwähnen des Geruches. Das Riechen spielt bei Storm eine große Rolle. In seinem Briefe vom 15. Mai 1881 schreibt er an Gottfried Keller „Empfehlen Sie mich Ihrer treuen Schwester und trösten Sie sie, nach dem „socios habuisse malorum“, mit mir, der ich — ich denke, durch das Engerwerden der Nase — seit fast zwei Jahren keine Blume, keinen Frühling, keinen Herbst mehr riechen kann.“*) Sein Geruchsinn muss außerordentlich sensibel gewesen sein. Hören wir einige Beispiele: „Ein süßer [Weihnachts-] Duft schlug ihm entgegen (I., 15), „Die Wohlgerüche der Blumen verbreiteten sich“ (I., 50), „Der herbstkräftige Duft des fallenden Laubes erfüllte die Luft“ (I., 297), „Zuweilen regte sich die Luft und trieb eine Wolke von Duft um mich her“ (II., 114), „gelbe und braun violette Iris .... verhauchten ihren zarten Duft“ (II., 240), „Die Nelken auf dem Fensterbrett dufteten so süß“ (III., 5), „Ein schwüler Duft von Blumen hauchte durch das Fenster“ (III., 248), „in der lauen Sommerluft war nur der schwimmende Duft der Kräuter“ (IV., 108), „Der Würzeduft von Nelken und Jasminen erfüllete ihn [den Garten] ganz“ (VI., 162), „Von Düften schwamm es in der Luft“ (VI., 289), „nun wehten am Waldesrande schon die Primeldüfte“ (VII., 140), „Herbstblätterduft und Tannenharzgeruch quoll mir entgegen ...“ (VIII., 228) usf. Besonders auch in seiner Lyrik haben die Düfte große Bedeutung. Und wenn wir die Verse hören:

„O süßes Nichtstun, lieblich so gebannt zu atmen in den neubefreiten Düften“**) . . . ., so begreifen wir Storm wohl, dass es ihm ein Schweres war, „keine Blume, keinen Frühling, keinen Herbst mehr riechen“ zu können. Wie sein Gehör konnte auch sein Geruchsinn die feinsten Abstufungen unterscheiden: „Warum duften die Levkojen so viel schöner bei der Nacht?“ (VIII., 202.)***)

*) A. Köster, a. a. O., S. 112.
**) W. VIII, 213.
***) Vgl. H. Heine: Reisebilder I.; W. (Elster) HI., 38/39: „...Und aus meinem Herzen ergossen sich die Gefühle der Liebe, ergossen sich sehnsüchtig in die weite Nacht. Die Blumen im Garten unter meinem Fenster dufteten stärker. Düfte sind die Gefühle der Blumen, und wie das Menschenherz in der Nacht, wo es sich einsam und unbelauscht glaubt, stärker fühlt, so scheinen auch die Blumen sinnig verschämt erst die umhüllende Dunkelheit zu erwarten, um sich gänzlich ihren Gefühlen hinzugeben und sie auszuhauchen in süßen Düften.“ — Vlasimsky (Euphorien XVII, 666) vermutet hier Beeinflussung Storms durch Heine.


„Und süßer strömend quillt der Duft der Nacht
Und träumerischer aus dem Kelch der Pflanzen“,
(VIII., 203) usf.

Alle Stormschen Landschaftsbilder haben noch einen Zuggemeinsam: die Bewegtheit.*) In keinem zeichnet er die Natur in absoluter Ruhe. Freilich lässt sich die Beobachtung machen, dass manch eine Landschaft in seinen früheren und frühesten Novellen sich dem Zustand völliger Regungslosigkeit nähert; denken wir z. B. nur an die Heide im „Grünen Blatt“. Trotzdem ist auch in allen solchen Gemälden eine wenn noch so geringe Bewegtheit. Schmetterlinge flattern dahin oder der Sommerharfenton des Mücken- und Bienengesummes oder ein leiser Dufthauch streicht darüber hin; das Schilf säuselt oder eine Lerche steigt auf; ein Strom oder ein Wässerlein läuft durch die Stille; Möwen schweben oder Wolken; die Sonne sinkt und das Dunkel dämmert; Düfte wehen oder eine Schlange gleitet; ein Blatt raschelt zur Erde nieder oder ein ferner Hirsch knickt ein Zweiglein; der Mond steigt empor usf. usf. Irgendein geheimes Leben tut sich immer kund, auch in der schwülsten, sommermüdesten Landschaft. Auch hierüber soll im nächsten Kapitel noch ein Wort gesprochen werden.

Die romantischen Elemente in Storms Naturschilderungen hat W. Dreesen im Kapitel „Naturgefühl“ feinsinnig dargestellt: Storms Hingabe und bewusstes Genießen der geheimnisvollen Garten-, Wald- und Heideeinsamkeit, der Sommermondnacht; seine Vorliebe für Naturstimmungen, die es dem Menschen ermöglichen, sich dem „stillen Gefühl des Erhabenen“ hinzugeben; sein Glaubenssatz, dass zwischen Natur- und Menschenseele eine geheime Sympathie waltet.

*) Vgl. darüber Scherers Poetik: Das Aktivum poetischer als das Passivum.

Im allgemeinen hat Storm keine Landschaften al fresco gemalt. Daran mag wiederum die heimatliche Natur schuld sein, die keine Gebirge, keine sogenannte romantische oder heroische Landschaft aufweist, wie sie etwa Friedrich Preller schuf. Und doch: haben die Heide, das Moor und das Meer nicht auch große, weite Linien,*) die mit breiten, zügigen Pinselstrichen zu malen wären? Solche lagen aber wiederum nicht in Storms lyrischem, träumerischem Charakter begründet. Seine Anlagen waren vielmehr auf das Kleine, Einzelne**) gerichtet. Oder zwang ihn seine starke Kurzsichtigkeit zur Wahrnehmung bloß des Nahen, Kleinen? Fast all seinen Landschaften fehlt das Heroische, fehlen die breiten, weiten Züge. Nur in seinem letzten Werk, dem „Schimmelreiter“, schuf er mit den Schilderungen der furchtbaren Springflut eine Landschaft, die etwas Gigantisches, Überragendes an sich hat.

Der allgemeine Charakter der Stormschen Landschaften zeigt uns also zur Genüge, dass Storm seinen hohen Anforderungen völlig gerecht wird: er will hören, schauen und empfinden; seine Landschaften berühren unmittelbar, ihre Wirkung ist „zunächst eine sinnliche . . . . , aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.“ Sie strömen das Leben, das er aus seiner Seele in sie träufelt, auf den empfänglichen Leser über und reproduzieren in dem Genießenden ihren vollen Stimmungsgehalt: er empfindet sie, wie Storm selbst beim Schaffen sie empfunden hat.

*) Vgl. etwa die gewaltige, durch wenige große Züge vermittelte Heidestimmung in Fr. Hebbels Ballade „Der Haideknabe“.
**) Ähnlich ist Mörikes Vorliebe für das Intime, Liebliche. Vgl. etwa „Im Weinberg“ und „Waldplage“. Im Gegensatz dazu steht Eichendorff, den das Große, Stille, Ferne anzieht.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Landschaft in Theodor Storms Novellen