Die Kurische Nehrung – Nur Sand und immer wieder Sand

Aus: Die Kurische Nehrung eine Monographie in Bildern mit Beiträgen von
Autor: Johannes Thienemann (1863-1938) deutscher Theologe, Naturkundler, Ornithologe, Erscheinungsjahr: 1930

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Heimat, Ostpreußen, Kurische Nehrung, Ostsee, Dünen, Höhenzug, Haff, Strand, Meer,
Am 18. Juli 1896 betrat ich zum ersten Male den Nehrungsstrand. Wir waren über das Kurische Haff gefahren, hatten unterwegs die lange gelbe Kette der Wanderdünen mit neugierigen Augen von weitem geschaut, und nun waren wir endlich da. Ich bekam in Rossitten Wohnung in einem mit Stroh gedeckten Häuschen, mitten in einem Garten gelegen, wie er so recht nach meinem Herzen ist. Nicht so blitzblank zurechtgemacht, dass man sich scheut, auf den Wegen die Pfeife auszuklopfen, sondern urwüchsig, aber voll von üppig blühenden einfachen Bauernblumen. Beim Sachenauspacken schaute ich zufällig zum Fenster hinaus: da saß ein Kuckuck ganz nahe auf einem Zaunpfahl; und dort noch einer! Ich war aus der Großstadt gekommen. O, wie weit hatte ich da immer fahren müssen, um einen Kuckuck zu Gesicht zu bekommen, und hier sah man ihn vom Stubenfenster aus. — Ein merkwürdiges Land!

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Nachher gingen wir ein Stück spazieren nach dem alten, ehrwürdigen schwarzen Berge, der nächstgelegenen hohen Wanderdüne.

„Ist das alles Sand?“ so kam es erstaunt über meine Lippen, als wir den weiten Abhang hinaufstiegen.

„Ja, bis unten hin,“ meinte lächelnd mein Begleiter, „und so geht es weiter bis nach Memel hinauf.“ — Ein merkwürdiges Land!

Abends lustwandelten wir durchs Dorf. Da huschte etwas an uns vorüber, das andauernd pfiff, piepte, wie man hier sagt.

„Was war denn das“

„Das ist der Nachtwächter.“
„Aber es war doch eine Frau?“

„Ja, hier nachtwächtern auch die Frauen.“ — Ein merkwürdiges Land!

Ein paar Tage später tranken wir im Garten Kaffee. Die Flinte hatte ich immer bei mir. Da strich ein großer Vogel über mich weg. Ich schoss ihn. Es war eine Steppenweihe. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine Steppenweihe gesehen, und hier schießt man diesen seltenen Wanderer vom Kaffeetische aus. — Ein merkwürdiges Land! Ich ahnte damals noch nicht, dass dieses merkwürdige Land meine zweite Heimat werden sollte, und von diesem merkwürdigen Lande will ich jetzt zu erzählen versuchen. Ich glaube, wir lernen es am besten kennen, wenn wir gemeinsam eine Fußwanderung von Süden her die Nehrung entlang unternehmen.

Die Kurische Nehrung ist der schmale Landstreifen, der sich in einer Länge von 97 Kilometer von dem bekannten Ostseebade Cranz in sanftem Bogen zwischen der Ostsee und dem Kurischen Haff bis nach Memel hin erstreckt. Im Süden hängt die Nehrung mit dem Festlande zusammen, während sie im Norden durch das Memeler Tief vom Festlande getrennt wird. Dort fließen also Haff und See zusammen und verursachen Brackwasser. Aber der Salzgehalt verliert sich schon sehr bald nach Süden zu, so dass das Kurische Haff als ein Süßwasserbecken bezeichnet werden kann. Mehr als die Länge interessiert wohl die Breite dieses merkwürdigen Landstreifens. Gewöhnlich wird gesagt, dass die breiteste Stelle bei Rossitten liege. Das stimmt nicht ganz. Nördlich von Nidden gibt es einen Punkt, wo man noch etwas breiter messen kann, nämlich fast 4 Kilometer, während die Gegend bei Rossitten nur 3,2 Kilometer aufweist. Die schmalste Stelle findet sich bei Sarkau. Nur 400 Meter liegen da Haff und Seestrand voneinander entfernt. Im Übrigen ist die Breite sehr verschieden, da der Haffstrand in einer Wellenlinie verläuft. Zuweilen zeigen sich tiefe Einbuchtungen, und andererseits ragen sogenannte Haken weit ins Haff hinaus.

Wir werden bei unserer Wanderung auf mancherlei Gegensätze stoßen. Darum pflege ich bei meinen Vorträgen die Nehrung oft als ein Land der Gegensätze zu bezeichnen. Da wandelt man eben noch auf festem Boden, und beim nächsten Schritte sinkt man in die Tiefe und schnappt nach Luft: man ist in den tückischen Triebsand geraten. Oder jetzt schreitet man durch wogende Getreidefelder, pflückt Blumen, so wunderbar schön, wie man sie auf dem Festlande nicht besser antrifft, und in ein paar Minuten befindet man sich auf einem Boden, so mager, dass er nicht einmal ein dürftiges Grashälmchen hervorzubringen vermag. Welcher Gegensatz! Oder bei schönstem warmen Wetter sind wir ausgezogen; die Mäntel blieben zu Hause. Da tritt ganz plötzlich dichter Seenebel auf, und ein eiskalter Wind pfeift uns um die Ohren. Wie sagte darum einst ein witziger Oberförster, der vom Festlande hierher versetzt war? „Bei Nehrungswanderungen muss man eigentlich immer den Kleiderschrank mitnehmen, um sich je nach der Witterung öfter umziehen zu können.“ Ist das nicht Gegensätzliches genug? Und wie unvermittelt wechseln oft Wald und Wüste miteinander ab, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt! Auch der Volkscharakter weist mancherlei Gegensätze auf, die den Ethnographen und den Psychologen interessieren müssen.

Wir beginnen also in Cranz. Zunächst kommen wir durch Wald, schönen Hochwald. Da brüten Wanderfalke, schwarzer Milan und Bussard. Der Schwarzspecht zimmert seine geräumigen Wohnungen, und früher hauste der Seeadler noch in diesem Gebiet — für den Kenner als Zeichen dafür, dass hier schöne hohe Bäume zu finden sein müssen. Plötzlich schimmert es weiß durch die Büsche, — Häuser! Das erste Nehrungsdorf Sarkau! Ein brenzliger Geruch weht uns entgegen, denn die Sarkauer sind wie immer beim Räuchern ihrer berühmten Flundern. Jetzt verstehen wir auch die vielen kleinen Klapperwagen, die uns auf unserem Marsche zwischen Cranz und Sarkau begegneten. Vorn ein kleines, mageres Pferd vorgespannt, lang angesträngt an langer Deichsel, so dass der Wagen in Schlangenlinien hin und her schlottert, und oben zwischen Spankörben eine mehr oder weniger vermummte Frauengestalt thronend, mit braungebranntem Gesicht, als Zepter die Peitsche in der Hand führend — das sind die bekannten Sarkauer Flunderfrauen, die jahraus, jahrein ihren Fang nach Cranz oder Königsberg zu Markte bringen.

Nach kurzer Rast in Sarkau gehts weiter. Mit einem Male hört der Wald auf. Die Wüste umfängt uns, und rechts am Haff beginnen die hohen Wanderdünen. Wüste — Düne — Ruhe — Verlassenheit — Tod — diese Begriffe bringt man gewöhnlich zusammen und mit Recht. Eben noch lustiger Vogelgesang im Walde, jetzt eine unheimliche Stille. Alles Leben scheint erstorben, nur oben aus der Luft tönen ein paar Heidelerchentriller hernieder, mit ihrem wehmütigen Klange so ganz zur Landschaft passend. Keine Menschenseele weit und breit, kein Weg, kein Steg, nur Sand und Sonne. Wir gehen den sanft ansteigenden Abhang der Wanderdüne hinauf und sind erstaunt, dass wir gar nicht tief in den Sand versinken, weil unten sehr bald die Feuchtigkeit beginnt. Nur flüchtig schauen wir uns unterwegs um, denn wir merken schon jetzt, dass uns oben eine große freudige Überraschung bevorsteht, und die wollen wir uns durch einen voreiligen Vorgenuss nicht abschwächen. Von unten erschien die Düne gar nicht so ausgedehnt, aber jetzt breiten sich immer wieder neue weite Flächen vor unseren erstaunten Augen aus. Aber sind die wirklich so weit wie sie aussehen? Wir haben ganz den Maßstab verloren, weil das Auge keinen Vergleichspunkt findet, nach dem es sich richten kann.

Nur Sand und immer wieder Sand!

Endlich sind wir oben, und nun, Du Menschenherz, öffne Dich und nimm den ganzen Zauber der Nehrungswüste in Dich auf! Dort die grüne gekräuselte See, hier das blanke Haff, in der Mitte die weiten, von Thymian rot gefärbten Palwen und die gelben Dünen, im Hintergrunde der grüne Wald und darüber ein blauer Himmel — o, das sind Färbungen und Stimmungen, die sich einem empfänglichen Herzen dauernd einprägen.

Aber wir müssen weiter und gelangen nun in das Kupstengebiet, meinem Geschmack nach das interessanteste Gelände der ganzen Nehrung. Eine raue Urwüchsigkeit und Unberührtheit tritt uns entgegen. Dünenkuppe reiht sich an Dünenkuppe, eine immer abenteuerlicher aussehend als die andere. Der Wind, dieser allmächtige Gestalter auf der Nehrung, hat auch diese Gebilde hervorgebracht. Um natürliche Hindernisse hat er Sandmassen aufgehäuft und an ihren Oberflächen dann herumgeformt wie ein überspannter Bildhauer. Ist man zu zweien, so kann man sich bei dem Wirrwarr von Kuppendünen gegenseitig leicht aus dem Gesicht und aus der Hörweite verlieren. Und durch dieses schwierige Gebiet mussten wir uns in früheren Zeiten, als es noch keine Nehrungsstraße gab, mit unseren einfachen Nehrungsfuhrwerken hindurcharbeiten, wenn wir von Rossitten nach Cranz wollten. „Mang die Humpels“ mussten wir fahren, wie die Nehrunger sagen, und es war keine Seltenheit, dass wir an gebleichten Knochen vorüberkamen, wo ein Nehrungspferd vor Überanstrengung zusammengebrochen war.

Jetzt biegen wir um eine besonders hohe Kuppendüne herum, da schaut ein Hausfundament aus dem Sande hervor, und dort liegen Topfscherben, Ofenkacheln, Angelhaken, Knochen, zerbrochene Tonpfeifen, verrostete Nägel und andere Spuren menschlicher Kultur herum. Ein versandetes und jetzt wieder freigewehtes Nehrungsdorf! Wo früher reges Leben herrschte, da jetzt Ruhe — Düne — Wüste — Tod — so geht es uns wieder durch den Kopf, und wir werden so klein und bescheiden in dieser erhabenen wilden Natur.

Stundenlang sind wir nun schon gewandert, und es ist immer noch kein Ende abzusehen. Heiß brennt die Sonne hernieder, und die Spannung in unserem Körper fängt an nachzulassen. Wenn uns jetzt hier etwas zustoßen würde! Wer findet uns? Wer fragt nach uns? Wüste! — Verlassenheit! — Tod!

Da taucht plötzlich ein schwarzer Streifen am nördlichen Horizont auf. — Der Rossittener Wald! Nun mutig vorwärts, denn dort vorn winkt ja das Leben. Bald nimmt uns der Schatten der Bäume auf, und noch ein Stück weiter — die Häuser des Dörfchens Kunzen und das Möwenbruch bei Rossitten. Tausende von weißen Lachmöwen wirbeln schreiend durch die Luft, und auf dem Wasserspiegel Scharen von Enten und Tauchern! Die höchste Entfaltung tierischen Lebens tritt uns entgegen, und kurz vorher noch Ruhe und Verlassenheit: ja, die Nehrung ist das Land der Gegensätze! Und Rossitten die Oase in der Wüste! Wogende Getreidefelder sehen wir, ebenso auf saftiger Weide stehende Pferde und Kühe.

So abwechselnd zwischen Wald, freier Palwe, Kupsten, bewaldeten und kahlen Dünen zieht sich die Nehrung weiter nach Norden hin bis zum äußersten Ende bei Memel, der sogenannten Süderspitze mit dem Sandkruge. Die nächsten hohen Wanderdünen nördlich von Rossitten sind die Predinberge, wo seit neuester Zeit die Segelflieger in den emporsteigenden Aufwinden ihre Übungsflüge abhalten und wo der bekannte Segelflugwettbewerb stattfindet. Es ist dort schon eine richtige Häuserkolonie entstanden, worin eine Fliegerschule untergebracht ist.

Die Nehrungsdörfer, die wir bei unserem weiteren Marsche nach Norden zu antreffen und die sämtlich auf der Haffseite liegen, sind folgende: Elf Kilometer nördlich von Rossitten das Fischerdörfchen Pillkoppen. Dann das malerisch gelegene Nidden mit seiner dreisprachigen Bevölkerung (deutsch, kurisch und litauisch), jetzt zum Memelland gehörig, denn etwa drei Kilometer südlich vom Dorfe verläuft die Grenze. Nidden ist jetzt Badeort und wird gern von Malern aufgesucht. Weiter die Orte Preil und Perwelk in ihrer Dürftigkeit. Sie zählten wohl mit zu den kleinsten Dörfern Preußens. Schließlich das bekannte Ostseebad Schwarzort mit seinen modernen Einrichtungen.

Kurische Nehrung 029 Dünenlandschaft

Kurische Nehrung 029 Dünenlandschaft

Kurische Nehrung 030 Kurenkahn

Kurische Nehrung 030 Kurenkahn

Kurische Nehrung 031 Am Fuße der Reiherberge

Kurische Nehrung 031 Am Fuße der Reiherberge

Kurische Nehrung 032 Heukähne im Hafen

Kurische Nehrung 032 Heukähne im Hafen

Kurische Nehrung 033 Fischer beim Netzetrocknen

Kurische Nehrung 033 Fischer beim Netzetrocknen

Kurische Nehrung 034 Fischer beim Bemalen eines Wimpels

Kurische Nehrung 034 Fischer beim Bemalen eines Wimpels

Kurische Nehrung 035 Auf schwankendem Steg

Kurische Nehrung 035 Auf schwankendem Steg

Kurische Nehrung 036 Alter Fischer beim Netzeflicken

Kurische Nehrung 036 Alter Fischer beim Netzeflicken

Kurische Nehrung 037 Flundern werden zum Trocknen aufgehängt

Kurische Nehrung 037 Flundern werden zum Trocknen aufgehängt

Kurische Nehrung 038 Trocknen der Flundern

Kurische Nehrung 038 Trocknen der Flundern

Kurische Nehrung 039 Heimkehrende Herde im Tal des Schweigens

Kurische Nehrung 039 Heimkehrende Herde im Tal des Schweigens

Kurische Nehrung 040 Mittagsfrieden am Haff

Kurische Nehrung 040 Mittagsfrieden am Haff

Kurische Nehrung 041 Kurische Waldandacht

Kurische Nehrung 041 Kurische Waldandacht

Kurische Nehrung 042 Herdstelle in Nidden

Kurische Nehrung 042 Herdstelle in Nidden

Kurische Nehrung 043 Fischerfrau am Spinnrad

Kurische Nehrung 043 Fischerfrau am Spinnrad

Kurische Nehrung 044 Vom Sturm freigelegter Friedhof bei Pillkoppen

Kurische Nehrung 044 Vom Sturm freigelegter Friedhof bei Pillkoppen

Kurische Nehrung 045 Dünenkirchhof bei Preil

Kurische Nehrung 045 Dünenkirchhof bei Preil

Kurische Nehrung 046 Unter der Wanderdüne sterbender Wald

Kurische Nehrung 046 Unter der Wanderdüne sterbender Wald

Kurische Nehrung 054 Segelfliegerschule Rossitten, Start

Kurische Nehrung 054 Segelfliegerschule Rossitten, Start

Kurische Nehrung 055 Segelfliegerschule Rossitten, Gleitflug

Kurische Nehrung 055 Segelfliegerschule Rossitten, Gleitflug

Kurische Nehrung 056 Segelfliegerschule Rossitten, Segelflug

Kurische Nehrung 056 Segelfliegerschule Rossitten, Segelflug