Die Kurische Nehrung

Eine Monographie in Bildern
Autor: MIT BEITRÄGEN VON / ALFRED BRUST / LUDWIG GOLDSTEIN /WALTER HARICH / WALTHER HEYMANN / FRITZ KUDNIG / FRANZ LÜDTKE / PAUL MATTHIAS / AGNES MIEGEL / JOHANNES THIENEMANN / A.KT. TIELO, Erscheinungsjahr: 1930

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kurische Nehrung, Ostsee, Meer, Haff, Wind, Sand, Düne, Sturm, Haine, Wälder, Büsche, Bäume, Sandwüste, Pflanzen, Natur,
„Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebensogut wie Spanien und
Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll.“
Wilhelm von Humboldt
Inhaltsverzeichnis
Ich bin das helle Band,
das, Meer, Du um Dich ziehst,
weit ist Dein Strand;

und bin die grell gespannt,
die hoch Du wachsen siehst,
— mein Rand, wo Himmel fließt;

und was zum Haff abgießt
— ich bin Gefälle — Wand,
unmessbar Sand.

Ich bin ein Höhenzug,
der geht gen Norden weit,
Bug folgt auf Bug.

Ich bin ein Weheflug;
nach West und Osten breit
schwebt mein Gespreit.

Was Meer im Grunde trug,
donnernd aus Rädern schlug,
bin ich — Unendlichkeit.

Walther Heymann

Die Kurische Nehrung

Von Fritz Kudnig


Kampf ist das Los des ostpreußischen Menschen, solange man seine Geschichte zurückverfolgt. Kampf ist das Los des Landes, das er bewohnt. Keine andere ostpreußische Landschaft aber war und ist diesem Kampfe so ausgesetzt, wie dies einsame Stück Nehrungsland, das sich wie ein riesiger Sturmwall an der Küste unseres Meeres emporgetürmt hat.

Seit Urzeiten war dies Land ein Spielball der Naturgewalten. Vom Meere überspült, zerwühlt und zerrissen, wechselte es ewig seine Form, bis sich sein Sockel in der jetzigen Gestalt gebildet und gefestigt hatte. Doch das Schöpfungswerk war noch nicht vollendet. (Wann wird es je vollendet sein?) Ruhelos trieb der Seewind Jahrzehnt um Jahrzehnt, Jahrhundert um Jahrhundert den losen Küstensand vor sich her, türmte ihn zu Hügeln, zu Wällen, zu Bergen, zu weiten unübersehbaren Flächen, zu einer unendlich langgestreckten Sandwüste zwischen Haff und See, die immer wieder nur belebt wurde durch die Elemente, die sie geschaffen, durch Meer und Wind.

Wann haben wohl die ersten Pflanzen in dieser Wüste am Meere Fuß zu fassen versucht? Wie oft wohl riss der Sturm ihre bleichen Wurzeln aus dem kargen Boden wieder heraus? Wie oft verschüttete der fliegende Sand die Wehrlosen zu vielen Tausenden? — Doch das Leben siegte. Denn das Leben ist ein einziges Wunder. Nicht nur unscheinbare Pflänzlein hielten mit der Zeit dem täglich drohenden Tode stand, Büsche und Bäume trotzten empor in den Sturm. Haine, Wälder, ein unübersehbar langgestreckter Urwald, entwuchsen dem Nichts.

Das Meer aber riss wieder und wieder riesige Fetzen aus dem Leibe des Landes heraus. Dann gebar sich dort aus dem aufgelockerten Erdreich wohl eine neue Wanderdüne, die sich über das Land hinwälzte, alles Leben, Blumen, Büsche, Bäume tief unter sich begrabend. Nach Jahrzehnten, vielleicht nach Jahrhunderten, wenn die Düne vorwärts gekrochen war, standen viele der Bäume wieder auf aus ihrem Grabe, blattlos, schwarz und tot, mit nackten, wie in Schmerz gekrümmten Ästen; brachen, kraftlos, im Nehrungssturm krachend zusammen. Heute noch findet man Teile solcher Baumleichen, versteint oder wie verkohlt, wenn der Nehrungssturm wühlt und wütet und den Sockel der Nehrung freilegt, aus dem man die Urgeschichte des Landes abzulesen vermag.

Wann mögen sich die ersten Menschen in diese Einsamkeit verloren haben, die in früheren Berichten eine grausige Einöde genannt wird und eine Stätte des Hungers? Was hielt diese Menschen gebannt, dass sie nicht wieder zurückkehrten zu der Menschheit auf dem fernen, gesicherten Festland? Was trieb sie, sich Herd und Hütte zu bauen in dieser Hungerwüste? Was bezwang auch alle die Späteren, die hierher verschlagen wurden, Bäume zu fällen und Dörfer zu errichten in dieser verschollenen Welt? Was gab ihnen, wenn die unheimlichen, ewig wandernden Dünenberge ihre mühsam erbauten Wohnstätten unter sich begruben, Mut und Kraft, sich aufzumachen und in der Nähe neue Hütten zu bauen? — Geheimnisvoll sind die Rätsel des Menschen und seiner Erde. Und eins nur löst sie: des Menschen Seele. Dumpf, triebhaft und getrieben im Beginn, wird sie sich ihrer selbst tagtäglich bewusster, bis sie nicht mehr länger Spiel eines dunklen Schicksals sein will, bis sie ihr Geschick bewusst zu meistern beginnt in heroischem Kampf.

Jahrhunderte führten die Nehrungsmenschen solchen heroischen Kampf mit den Elementen, bis sie die Wanderdünen, die ihren Dörfern ewig mit Vernichtung drohten, durch Bepflanzen mit Gräsern und Kiefern endlich zum Stillstehen brachten. Ein gewaltigeres Totenmonument kennt die Erde kaum, als das bei dem Dorfe Pillkoppen, wo die einst lebendige, wandernde Riesen-Düne, von Menschen überwältigt, ihr Leben lassen musste, und nun, in Totenstarre, unmittelbar vor den Hütten des Dorfes steil in den Himmel ragt; von kurzen, schwarzen Kiefern bedeckt wie von einem dunklen, wehenden Leichentuche.

Auf weiten Strecken aber, am augenfälligsten hinter Pillkoppen bis Nidden hinauf, ist die Düne noch ganz sich selber überlassen. Dort erlebt man am tiefsten ihr urhaftes Sein. Täglich, stündlich fast, zeigt die Düne ein anderes Gesicht. Wind und Sturm meißeln unablässig an ihren Zügen. Ein gewaltiger, unsichtbarer Bildhauer schafft früh und spät, Tag und Nacht, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, an dem ungeheuren Urleib dieser sphinxhaften Natur. Jede Jahreszeit nicht nur, jede Tageszeit, ja, jede neue Wolkenbildung am Himmel ist Ursache immer wechselnder Lichterscheinungen. Bald glüht die Düne, scheinbar tief von innen her, wie feuriges Gold; bald liegt sie, von der Sonne verlassen, zumal an Regentagen, in einem so trostlosen Grau, dass der Wanderer bis in die Seele hinein erschauert in dieser grenzenlosen Wüsteneinsamkeit; bald ragt sie in hauchseidenem Duftblau, in opalenem Schimmer oder tiefem Violett wie ein fernes Gebirge; bald kleidet sie sich in ein traumhaft duftiges Rosa; bald sind ihre Höhen, bei Sonnenuntergängen, wie in dunkles Blut getaucht; oft aber sieht man, wenn man zu ihren Füßen am Haff entlang wandert, die Häupter der Dünen wie von einem Heiligenschein umflossen; oft auch fliegt, wenn der Sturm rast, der aufgepeitschte Sand wie leuchtendes Blondhaar über den besonnten Dünenkämmen; und nicht selten scheinen all diese gewaltigen Berge, leuchtend wie Gold und Silber, gewichtlos zwischen dem blauen Haff und dem grünen Meere im klarkristallenen Himmel zu schweben.

Am erschütterndsten ist diese Welt im Herbst, wenn die Farben der Erde und des Himmels sich vertieft und vervielfältigt zu haben scheinen, wenn die Heere der weißen Möwen leuchtender als sonst in den dunkleren Lüften schweben, wenn die schwarzen Fischerkähne mit brennenden Segeln über die Wasser gleiten gleich stummen Phantomen und Traumgebilden; wenn die gewaltigen Wetterwolkenmassen, durchleuchtet, durchglüht und umsprüht von allen Regenbogenfarben des wechselnden Lichtes, vom stürmischen Meer her über die Dünen zum Haff herüber fahren und sich dort und über dem fernen Festland jenseits auftürmen wie dunkel drohende oder brennende Himmelsgebirge, wie hunderttausendfache Vergrößerungen urweltlicher Tiergiganten, wie lebenberstende, farbenfunkelnde Leiber, wie bleiche, geheimnistiefe Gesichter ungeheurer himmlischer Wesen, wie riesige Zerrfratzen dunkler, tückischer Dämonen der Unterwelt. —

Das alles mag reichlich phantastisch klingen. Trotzdem gibt es kaum eine Ahnung von den schier visionenhaften Erlebnissen, von den inneren und äußeren Gesichten, die jeder, auch der Empfindungs-ärmste, in dieser Landschaft hat, wenn er nur mit offenen Augen und offenem Herzen in ihr wandelt. Selbst Weitgewanderte gestanden, dass sie auch nur Ähnliches selten irgendwo anders gesehen. Das macht, weil die kosmische Sinfonie von Land, Meer, Himmel und Licht nur selten in solcher Gewaltigkeit, in solcher Unendlichkeits-Harmonie zusammenklingt.

Kein Maler war noch imstande, diese Wunder des Lichtes und der Schatten in all ihrer Vielfältigkeit aus seiner Palette nachschaffend hervorzuzaubern. Kein Dichter war so tief und voll göttlicher Gestaltungskraft, dass er die Fülle dieser Gesichte in sein Werk zu bannen vermochte. Ohnmächtig steht der Künstler oft inmitten dieses großen Erlebens. Nirgends brennt seine Schaffens-Sehnsucht so schmerzlich wie gerade hier. Nirgends ist aber auch sein Schaffens-Rausch so selig wie hier, wenn er glaubt, dieser traumhaften Wirklichkeit schaffend nahe gekommen zu sein. Nicht ohne Grund heißt das Dörfchen Nidden das Malerparadies. Ja, dieses Land ist im wahrsten Sinne ein Paradies, weil es den Menschen wieder zu sich selber bringt, zu seinem Tiefsten — und damit zugleich zu seinem höchsten göttlichen Ursprung. — Ob man sich diesem Lande in seinen größeren Dörfern ergibt, in Sarkau, Rossitten, Pillkoppen, Nidden, Schwarzort, oder in den kleinsten und ärmsten der Armen: Preil und Perwelk, immer ist man hier der Ewigkeit nahe, weil man der Zeit entflohen ist in dieser seligen Weltabgeschiedenheit.

Muss man denn nicht gesunden auf diesem Stück Land, das außerhalb der lärmenden Welt zu liegen scheint auf einem fremden Stern? Alles Leben wird hier zum tiefsinnigen Symbol. Vor den hungerschmalen und doch so leuchtenden Nehrungsblumen, die sich in rührender Reine aus dem kargen Boden ins Licht erheben, lernt man Genügsamkeit und Selbstbescheiden; vor den sturmzerrissenen, verkrüppelten — und doch so kraftvoll knorrigen Büschen und Bäumen begreift man, dass aus der Lebens-Not — Lebens-Trotz wachsen kann und frohe Leid-Überwindung.

Doch man kommt hier nicht nur dem Sinne des Lebens näher. Auch der Tod wird einem vertrauter, weil man ihn in dieser großen Natur als Teil eines Ganzen begreifen lernt, als naturnotwendigen Bestandteil der Schöpfung, die nur stirbt, um sich, vollkommener, aufs Neue zu gebären. Und dennoch erschrickt man im Herzen, wenn man plötzlich vor ein paar aus dem Sande ragenden Ästen steht und, ihnen nachgrabend, sieht, dass es die tote Krone eines vom Sande begrabenen Baumes ist. Und nicht minder wird man gewiss auch angerührt, wenn man einen armseligen, sandüberwehten Dünenfriedhof erblickt, mit windschiefen Kreuzen, die kunstlose Hände geschnitzt für die Toten, die man dem gewalttätigen Meere entriss oder dem tückischen Haff.

Sieht man dann aber am Strande oder im Dorfe diese Nehrungsfischer, die hundert und tausend Stürme überstanden auf Haff und Meer, dann begreift man, wie sehr der Tod auch für sie nur ein Bestandteil des Lebens ist. Sie sehn ihm ja täglich ins Auge. Auf jeder Sturmfahrt ist er ihr Gefährte. Und dennoch leuchten die Augen in diesen Gesichtern wie blaue Edelsteine, wenn man mit diesen Menschen spricht. Das macht: diese Menschen sind ihres Innersten sicher. Sie kennen und leben das Evangelium der Pflicht, der Pflicht gegen sich selbst und den Nächsten. Alle in steter Lebensgefahr, bilden sie eine feste brüderliche Notgemeinschaft. Das Wissen darum gibt innere Ruhe. Auch ihr Glaube gibt ihnen diese und ihr Gebet und die Einsicht: Tod und Leben, alles kommt aus derselben Hand. So oder so — ?nan hat es zu tragen, und man trägt es. — Frauen aber und jungen Mädchen begegnet man auf der Nehrung, denen sieht man das harte Geschick nicht an, wenn sie sonntags in ihren bunten, malerischen Trachten zur Kirche gehen. Mit ihren schmalen, feingeschnittenen Gesichtern wandeln sie, das Blau der Wasser und des Himmels in den Blicken, lieblich und ergreifend wie lebendig gewordene mittelalterliche Madonnenbilder.

Vor dem Dorfe aber mag es dem Wanderer wohl geschehen, dass er im Walde oder in den Dünen einem riesigen Elch begegnet mit Kuh und Kälbchen. Und alle rühren sich nicht von der Stelle und blicken ihn an mit keuschen Augen, mit Augen, in denen die Tiefe, die Reine und die Ruhe der Ewigkeit ist. Alles: Land, Pflanze, Tier und Mensch trägt hier solche Tiefe, solche Reinheit und solche innere Ruhe in sich. Und das — trotz aller Not, trotz allen Kampfes, in dem Natur und Mensch hier täglich stehen. Wahrlich: ein seltsames Land. Ein immer wieder ergreifendes Land. Ein Land, in dem Wirklichkeit und Traum oft identisch erscheinen. Gerade darum: ein Land der ewigen Wunder. —

Fischer auf der Ostsee

Fischer auf der Ostsee

Flundern werden zum Trocknen aufgehängt

Flundern werden zum Trocknen aufgehängt

Fischer beim Netzetrocknen

Fischer beim Netzetrocknen

Am Fuße der Reiherberge

Am Fuße der Reiherberge