Ob es Gesetze der Geschichte gebe

    Die Geschichtsschreibung des Altertums unterschied sich von der Poesie einzig und allein durch den Umstand, dass sie nicht in Verse, sondern in Prosa eingekleidet wurde. Gleich der Poesie enthielt sie Wahrheit und Dichtung in bunter Mischung, gleich ihr legte sie das Hauptgewicht auf schöne, fesselnde Darstellung. Die Geschichtswerke eines Herodot, Thukydides, Livius, Sallust und Tacitus waren Epopöen in ungebundener Rede. Mit Abstraktionen, mit dem Suchen nach Gesetzen, mit der Erörterung von Streitfragen befassen sie sich nicht.
    Die Geschichtsschreibung des Mittelalters verfiel in ein anderes Extrem, nämlich in die äußerste Poesielosigkeit. Die Chroniken jener Zeit berichteten bloß, was ihre Verfasser für geschehen hielten, und hüllten selbst die von denselben für Wahrheit angesehene Dichtung und Fabel in das trockenste, begeisterungsloseste Gewand. Zusammenhängende Erzählung, anziehende Form, praktische Nutzanwendung und gedankenvolle Gruppierung werden umsonst in jenen Elaboraten gesucht.
    Ganz anders wieder entwickelte sich die moderne Geschichtsschreibung. Nach und nach aus der Chronikschreiberei emporgewachsen und durch den Einfluss der wieder bekannt gewordenen antiken Historiker veredelt, suchte sie einerseits wieder Kunstwerk zu werden, anderseits aber durch Kritik die Fabel von der Wahrheit auszuscheiden, was indessen bei allzufest eingewurzeltem Fürwahrhalten so vieler Sagen, eine schwierige Arbeit war, die noch heute nicht bewältigt ist. Aus diesem letzten Streben entstand die Abart der einseitig kritischen, bloß nach Quellen grübelnden, unschönen und ungenießbaren Geschichtsschreibung.
In der Gegenwart endlich ist der Auffassung der Geschichte als Kunstwerk der Versuch ihrer Erhebung zur Wissenschaft, d. h. ihrer Gründung auf Gesetze, gegenübergetreten, freilich ein Versuch, der erst in der Kindheit steht.
    Ohne uns bei anderen Schriftstellern aufzuhalten, die sich mit diesem Versuche beschäftigten, aber weder die Beachtung fanden, die sie verdienten, noch die Wissenschaft wesentlich förderten, wie z. B. bei dem französischen Juristen Charles Comte, wenden wir uns gleich dem Manne zu, dessen bereits besprochenes Werk wirklich Epoche gemacht hat, nämlich Buckle.
    Sein Buch beginnt mit unnachsichtiger Verurteilung der früheren Historiker. „Es ist ein unglücklicher Umstand, sagt er, dass die Geschichte des Menschengeschlechts wohl in ihren gesonderten Teilen mit bedeutendem Talent untersucht worden, dass aber kaum irgendwer es unternommen hat, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen und ausfindig zu machen, wie sie mit einander verbunden sind. In allen übrigen großen Gebieten der Forschung wird die Notwendigkeit der Verallgemeinerung von Jedermann zugegeben ; und wir begegnen edlen Anstrengungen, auf besondere Tatsachen gestützt sich dazu zu erheben, die Gesetze zu entdecken, unter deren Herrschaft diese Tatsachen stehen. Die Historiker hingegen sind so weit davon entfernt, dies Verfahren zu dem ihrigen zu machen, dass unter ihnen der sonderbare Gedanke vorherrscht, ihr Geschäft sei lediglich, Begebenheiten zu erzählen und diese allenfalls mit passenden sittlichen und politischen Betrachtungen zu beleben. Nach diesem Plan ist jeder Schriftsteller zum Geschichtsschreiber befähigt. Sei er auch aus Denkfaulheit oder natürlicher Beschränktheit unfähig, die höchsten Zweige des Wissens zu behandeln, er braucht nur einige Jahre auf das Lesen einer gewissen Anzahl Bücher zu verwenden, und er mag die Geschichte eines großen Volkes schreiben und in seinem Fache ein Ansehen erlangen.“
Buckle sucht also das Wesen einer Wissenschaft darin, dass ihre Teile zu einem Ganzen zusammengefügt und dass ihr Inhalt aus Gesetzen herzuleiten sei; er ruft also einerseits nach einer einheitlichen, nicht in Fragmente zersplitterten Darstellung, anderseits nach Gesetzen der Geschichte, um letztere zu einer Wissenschaft zu erheben, was sie nach seiner Ansicht bisher nicht war, weil sie, wie er dafürhält, sich bloß damit abgab, „Begebenheiten zu erzählen und diese allenfalls mit Betrachtungen, zu beleben.“ Es wird nun allerdings Jedermann mit ihm darüber einverstanden sein, dass eine Geschichte, welche sich bloß mit letzterem beschäftigt, keine Wissenschaft ist. Allein, kann dies von aller bisherigen Geschichtsforschung behauptet werden? Wir glauben nein! Buckle geht offenbar zu weit, wenn er Dasjenige, was bisher geschehen, um die Geschichte der Menschen nach wissenschaftlicher Methode zu erforschen, so wegwerfend behandelt, als ob es nur auf „drei oder vier Originalwerke“ beschränkt wäre, — und er stellt sich namentlich damit ein Armutszeugnis aus, dass er in dieser Hinsicht die deutschen Leistungen mit vollkommenem Stillschweigen übergeht, wie er denn überhaupt bezüglich Deutschlands und der Deutschen, besonders der wissenschaftlichen Literatur dieses Volkes, sich in einer fabelhaften Unwissenheit befindet. Sonst müsste er wissen, dass was wir bisher „Philosophie der Geschichte“ nannten, wenn auch jetzt ein überwundener Standpunkt, nichts war, als eben die Aufsuchung eines einheitlichen, die ganze Geschichte durchziehenden Geistes, und dass die neuere deutsche Geschichtsschreibung, nach Herders Vorgang und mit Schlosser an der Spitze, unendlich viel getan hat, um die sogenannte Geschichtsphilosophie der Geschichte selbst einzuverleiben, oder, mit anderen Worten, gerade was Buckle so schmerzlich vermisst, „die Geschichte der Menschheit nach der erschöpfenden Methode zu erforschen, die in anderen Wissenschaften den Erfolg sicherte und durch die allein empirische Beobachtungen zur wissenschaftlichen Wahrheit erhoben werden können.“
    Freilich ist Buckle, wie wir gesehen haben, damit nicht zufrieden; er verlangt in der Geschichte nicht nur eine wissenschaftliche Methode, sondern auch ein wissenschaftliches Prinzip, er verlangt Gesetze der Geschichte. Der Ausdruck „Gesetze“ ist aus der Naturwissenschaft entlehnt; denn es liegt nahe, Natur und Geschichte als den Inbegriff der Ereignisse in der Körper - und in der Geisterwelt, im Raume und in der Zeit, in Analogie zu setzen. Daher stellt sich der amerikanische Kulturhistoriker Draper, welcher selbst Naturforscher ist, in seinem erwähnten Werke mit Entschiedenheit sogleich auf den Boden der Natur, erklärt diese als die Grundlage der Geschichte und verlangt von der historischen Wissenschaft einen völligen Anschluss an die Naturwissenschaft und ein Verfahren nach dem Muster desjenigen der letztern. In Übereinstimmung damit beklagt denn auch Buckle, dass „die berühmtesten Historiker hinter den ausgezeichnetsten Naturforschern zurückbleiben, und dass Keiner, der sich der Geschichte gewidmet, sich an Geist mit Kepler, Newton u. A. messen könne.“ Uns dünkt, es wäre richtiger zu sagen, die Resultate der Geschichtsforschung seien mit denjenigen der Naturforschung nicht zu vergleichen, und es ist dies auch sehr erklärlich. Die Gegenstände der Naturforschung sind immer vorhanden, und mit Ausnahme der Art und Weise ihrer Schöpfung, die für uns stets Hypothese bleibt, entgeht von ihrem Leben und Treiben der Beobachtung nichts; die Thatsachen ihrer Existenz und Vervielfältigung wiederholen sich stets in derselben Weise, und was besonders wichtig, sie sind, mit dem Menschen, für unsern Horizont abgeschlossen und fertig: es ist daher leicht, sie zu beobachten und wenigstens nicht mit unübersteiglichen Schwierigkeiten verbunden, Entdeckungen über ihre Beschaffenheit zu machen und ihr ganzes ungeheures Reich zu überblicken und einzuteilen. Ganz anders in der Geschichte. Ihre Tatsachen sind unwiderruflich vergangen, sie wiederholen sich nicht, wenigstens nicht in gleicher Weise und unter gleichen Umständen; wir können sie daher nicht vollständig erforschen, — nicht einmal wenn wir Augenzeugen einzelner Ereignisse gewesen sind, weil es ja dem Einzelnen doch nicht möglich ist, Alles zu überblicken, was jene Ereignisse hervorrief, mit ihnen im Zusammenhange stand und aus ihnen folgte. Wir müssen uns also in der Geschichte lediglich auf Andere verlassen, auf mündliche und vorzugsweise schriftliche Quellen, und wie unzuverlässig solche sind, ergibt sich schon daraus, dass diese Quellen ebenfalls von einzelnen Menschen herrühren, die, gleich uns, eben nur Einzelheiten beobachten konnten, und selbst in der Darstellung dieser durch Familien-, Staats-, Religions- und andere Rücksichten mehr oder weniger befangen waren. Und zu alle dem kommt noch, dass die Geschichte nicht abgeschlossen und fertig ist, wie für den Menschen die Natur, dass viele Tatsachen sich erst aus ihren Folgen und Wirkungen richtig beurteilen lassen und der Zusammenhang einer unfertigen Reihe von Einzelheiten viel schwerer zu erkennen und zu beurteilen ist, als derjenige einer abgeschlossenen Reihe. Wie sollte es demnach selbst dem geistvollsten Historiker möglich sein, Entdeckungen zu machen, die sich mit denen der ihre Gegenstände stets vor Augen habenden Naturforscher messen ließen?
Ähnlich wie mit der Frage, warum die Resultate der Geschichtsforschung hinter jenen der Naturforschung zurückgeblieben sind, verhält es sich nun auch mit jener, warum in der Natur Gesetze entdeckt worden sind, in der Geschichte aber nicht, also eben mit der Frage, deren Lösung der Zweck von Buckles Werk ist. Die Beantwortung dieser Frage finden wir in Folgendem. Die Natur besteht aus lauter körperlichen Dingen; diese sind sinnlich wahrnehmbar, dem Kreislaufe der Materie unterworfen und handeln unbewusst und willenlos; wie sie daher leicht zu beobachten sind, weil ihre Existenz keinem Zweifel unterliegen kann, so sind auch ihre Gesetze zu ergründen, weil deren Wirksamkeit sich unserer Beobachtung nicht nur nicht entzieht, sondern sogar aufdrängt, und weil die Naturwesen den Gesetzen, welchen sie unterworfen sind, von denen sie aber keine Ahnung haben, das Spiel nicht verderben können. Die Geschichte dagegen bewegt sich nicht unter den Stoffwesen, sondern sie ist ein Werk der Geister. So, klar uns aber die Entstehung und das Wesen der Körper ist, so unklar ist uns nicht nur die Entstehung und das Wesen der Geister, sondern es wird uns auch ein ewiges Rätsel bleiben, in welchem Verhältnisse Geist und Körper stehen, ob sie bloß verschiedenen Formen und Seiten eines und desselben Dinges, oder aber unter sich ganz verschiedene Dinge, ob sie von einander trennbar oder untrennbar seien, beziehungsweise ob es übersinnliche Dinge gebe — oder nicht, und wenn ja, worin diese bestehen, woher sie kommen und wohin sie gehen! Sei dem nun, wie ihm wolle, so ist Das, was wir Geist nennen, für uns unergründlich, und während wir von allen Gattungen irdischer Wesen die körperlichen Eigenschaften kennen und klassifizieren, daher auch die Gesetze ergründen können, auf welchen sie beruhen, ist es uns dagegen unmöglich, über die geistigen Eigenschaften einzelner Wesen gründliche Auskunft zu erlangen oder zu erteilen, und dieselben mit körperlichen Eigenschaften in Einklang und durchgreifende Parallele zu bringen. Da zudem die menschlichen Geister, denen die Erfassung abstrakter Vorstellungen geläufig ist, selbstbewusst handeln und durch alle möglichen Berechnungen von Gesetzen ihres Handelns einen Strich ziehen können, so sind derlei Berechnungen unnütz und es können daher auch keine Gesetze geistiger Bewegung aufgefunden werden. Und diese Unmöglichkeit wird noch dadurch deutlicher, dass, während die Natur die gesamte Körperwelt umfasst und nicht das unbedeutendste Atom von ihrem Reiche ausschließt, — die Geschichte zur Erfüllung ihres Berufs nur eines kleinen Teiles der Geisteswelt bedarf, die meisten Individuen aber, als unbrauchbar zur Erfüllung ihrer Aufgabe, unbeachtet bei Seite lassen muss, es also doppelt mühsam ist, zu ergründen, welche geistigen Äußerungen der Geschichte angehören und welche nicht, und eine allgemein gültige Grenze in dieser Beziehung gar nicht gezogen werden kann.
    Nachdem wir uns klar gemacht, warum die Geschichte bis jetzt keine Gesetze kenne, wollen wir untersuchen, ob solche etwa künftig aufzufinden seien. Buckle selbst, der sich als Prophet der Entdeckung geriert, die Geschichte gleich der Natur auf Gesetze zu gründen, kennt keine Grundlage für das Verfahren zur Erreichung dieses Zieles, sondern will erst nach derselben forschen. Indem er sich damit bemüht, findet er, diese Forschung beruhe auf der Frage, „ob die Handlungen der Menschen, und folglich auch der Gesellschaft, bestimmten Gesetzen unterworfen oder das Ergebnis entweder des Zufalls oder einer übernatürlichen Einwirkung seien?“ Aus der Ungewissheit über diese Frage haben sich die beiden „Dogmen“ von der Vorherbestimmung und vom freien Willen entwickelt, von denen, nach Buckles Ansicht, ersteres ein „theologisches“, letzteres ein „metaphysisches“ ist. Beide sind aber, nach der „Überzeugung der ausgezeichneteren Denker Europas“, — Irrtümer. Die Wahrheit liegt, nach Buckle, und wir stimmen ihm hierin bei, in der Überzeugung, „dass unsere Handlungen aus Beweggründen geschehen, welche wieder die Folgen aus etwas Vorhergegangenem sind, und dass wir folglich, wenn wir mit Allem, was vorhergegangen, und mit allen Gesetzen, nach denen es erfolgt, bekannt wären, mit unfehlbarer Gewissheit alle unmittelbaren Ergebnisse davon vorhersagen könnten.“ Die Handlungen der Menschen werden also weder durch eine übersinnliche Macht, noch durch ihren ungebundenen Willen bestimmt, sondern durch ihre eigene Vergangenheit. In der Beschaffenheit einer Tatsache, welche als Ursache einer andern betrachtet werden muss, ist daher, mittels aller ihrer Verumständungen, die aber von Einzelnen selten oder nie überblickt werden können, auch die Notwendigkeit enthalten, dass die Tatsache, welche als ihre Wirkung erscheint, nur so und nicht anders beschaffen sein kann. Daraus folgt, dass der Wille des Menschen weder durchaus frei, noch durchaus unfrei ist. Die Lehre vom freien Willen, so schön sie klingt, fällt schon durch die einfache Tatsache dahin, dass der Mensch keine Revolution durchführen kann, wenn die Zustände des Staates, in welchem eine solche stattfinden soll, nicht faul und die Bevölkerung desselben nicht aufgeklärt und energisch zu gleicher Zeit ist, — dass er keine Ilias dichten und kein jüngstes Gericht malen kann, wenn er nicht das erforderliche künstlerische Genie besitzt, — ja, um auch in das Gebiet des gewöhnlichen Lebens herabzusteigen, dass er sich nicht verheiraten kann, wenn er keine Gelegenheit zur Bekanntschaft mit weiblichen Personen findet, und keinen Lebensberuf betreiben, wenn es ihm an Arbeitskraft, Kapital und Kundschaft mangelt. Der Mensch ist rein ohnmächtig in dem Versuche, sich willkürlich emporzuschwingen oder seinen Sturz willkürlich aufzuhalten. Die Lehre vom vollen freien Willen hatte auch immer nur die ärgste Tyrannei zur Konsequenz; denn indem man den Menschen für frei erklärte, machte man ihn natürlich auch für alle seine Handlungen ohne Ausnahme verantwortlich und überhäufte ihn dafür mit zeitlichen und bedrohte ihn mit ewigen Strafen, während die Lehre vom beschränkten Willen ihm viel freiern Spielraum lässt und ihm für Manches Nachsicht schenkt, wofür er bei vermutetem freiem Willen strenge Ahndung hätte erdulden müssen. Der Wille des Menschen ist daher nur soweit frei, als die unsichtbare Schnur reicht, mit welcher er an die Verhältnisse seiner Geburt, Anlagen, Umgebung und Lebensschicksale angebunden ist. Diese Verhältnisse modeln den Gesichtskreis, und damit die Neigungen, Ansichten, Leidenschaften des Menschen, und durch diese Eigentümlichkeiten seines Geistes werden wieder die Handlungen bestimmt, welche von unseren Duodez-Drakonen dem sogenannten freien Willen aufgebürdet und nach papierenen Paragraphen, ohne Einblick in Herz und Gewissen, mit wahnsinniger Strenge bestraft werden. So lange wir nicht alle Faktoren kennen, welche aus einem Menschen Das gemacht haben, was er ist und ihn zu Dem gebracht haben, was er tat, so lange können wir uns auch nicht anmaßen, als Richter über seine Handlungen aufzutreten, an welchen vielmehr oft unzählige andere Umstände, wie Abstammung, Erziehung, Lebensweise, Umgang, Druck von außen, soziale Missstände u. s. w. die wahre Schuld tragen. Wir müssen daher der bürgerlichen Gesellschaft, welche unmöglich mit allen jenen Verhältnissen vertraut sein kann, geradezu die Fähigkeit absprechen, an widerrechtlich handelnden Menschen „Gerechtigkeit“ zu üben, sie zu „strafen“, zu „begnadigen“ u. s. w., wir können ihr nur gestatten, schädliche Individuen gleich den „Geisteskranken“, als „Rechtskranke“ in Sicherheit zu bringen und das Möglichste zu ihrer Lenkung auf bessere Wege zu tun. Dass nach Diesem die „Todesstrafe“ nichts als ein offizieller Mord ist, brauchen wir nicht nachzuweisen.
Alle Veränderungen der Geschichte sind nach Buckle die Frucht der Einwirkung der Natur auf den menschlichen Geist und des menschlichen Geistes auf die Natur. Die Vorarbeiten für die Kenntnis dieser doppelten Einwirkung findet er in der Statistik, und die Ergebnisse dieser Wissenschaft liefern ihm ganz überraschende Gleichmäßigkeiten in den „Erscheinungen der geistigen Welt“. Er findet, dass die Morde, sogar die verschiedenen Abarten derselben, ferner die Selbstmorde, welche an gewissen Orten vorkommen, sich jährlich beinahe in derselben Anzahl wiederholen, dass die Heiraten desto häufiger sind, je niedriger die Kornpreise stehen (was sehr begreiflich ist!), dass die jährliche Zahl der unbestellbaren, d. h. falsch, ungenügend oder gar nicht adressierten Briefe beinahe immer dieselbe bleibt u. s. w. —
Doch was soll dies beweisen? Nach unserer Ansicht nichts — als dass diejenigen Handlungen der geistigen Welt, welche stets vorkommen und dem jeweiligen Zustande der menschlichen Gesellschaft zufolge vorkommen müssen, so lange in entsprechender Anzahl verübt werden, als die Ursachen, denen sie entspringen, mit ungeschwächter Macht andauern, und dass sie daher naturgemäß eben solcher Regelmäßigkeit unterliegen, wie jene Ereignisse im Leben der Natur, welche eine Folge des regelmäßigen Verlaufes der natürlichen Erscheinungen sind. Aber, fragen wir, sind jene Handlungen Geschichte? Wird sich je die Geschichte mit gewöhnlichen Vorkommnissen abgeben, wird es je Geschichtsforschern einfallen, der Nachwelt zu erzählen, wie oft Das vorgekommen sei, was immer vorkommt? Nach unserer Ansicht ist die Geschichte die Verewigung der außerordentlichen Taten der Menschen, und ihr Zweck Der, zu zeigen, wie sich der Fortschritt geltend macht, wie sich die Menschheit vervollkommnet, und durch diesen Nachweis dazu beizutragen, dass dieser Fortschritt stets weiter geführt, diese Vervollkommnung durch ein des Strebens würdiges Ziel gekrönt werde. Für die außerordentlichen Taten der Menschen wird aber so wenig je ein Maßstab oder ein Gesetz gefunden werden, wie für die außerordentlichen Naturereignisse, als: Überschwemmungen, Erdbeben, vulkanische Ausbrüche, Bergstürze, Eisgänge, Stürme u. s. w. Die Statistik hat ihre großen Verdienste, sie belehrt uns über den Zustand der Gesellschaft und über die Heilmittel gegen dessen Mängel und Auswüchse, sie ist mithin die Grundlage der Nationalökonomie und der Staatswissenschaft; aber für die Geschichte wird sie stets von untergeordnetem Werte bleiben. Alle ihre Zahlen werden niemals im Stande sein, den Zeitpunkt einer Revolution, eines Krieges, eines Friedensschlusses, einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Tat, einer religiösen Krise u. s. w. voraus zu bestimmen, wie die Astronomie die Durchgänge und Verfinsterungen der Gestirne voraus bestimmt. Gerade der Umstand, dass weder eine Vorherbestimmung, noch eine absolute Willensfreiheit existirt, unterstützt unsere Ansicht, dass der Mensch niemals Gesetze der Geschichte entdecken wird.
Ferne davon, diesen Mangel zu beklagen, halten wir es gerade für einen großen Vorzug, den die Geschichte vor den übrigen Wissenschaften besitzt, dass sie an keine bekannten Gesetze gebunden ist. Sie wird hierdurch zur freiesten Wissenschaft, wie auch ihre Kenntnis zur Freiheit führen soll. Die Bildung, d. h. die Nährung des Geistes durch Gedanken, die wir aus den Ereignissen und Werken der Vergangenheit und Gegenwart der Menschheit schöpfen, bewirkt nämlich notwendig ein immer weiteres Zurückdrängen der Schranken, welche unserer Willensfreiheit gesetzt sind, verlängert die Schnur, durch welche wir an die Verhältnisse gebunden sind. Das Denken über Geschehenes und Werdendes macht uns freier, und die Freiheit vervielfältigt unsere Lebensäußerungen. Freiheit und Geschichte erziehen und bedingen daher einander wechselweise, und je freier die Geschöpfe sind, d. h. je mehr sie denken, desto eher haben sie eine Geschichte.
Aus der Freiheit der Geschichte von bekannten und ihre Bewegung beschränkenden Gesetzen folgt aber nicht, dass sie keine Wissenschaft sein könne. Sie ist nur keine Maschinerie, wie das Planetensystem, die Atmung, Verdauung, Zeugung u. s. w.; sie ist ein freier Prozess, welchen weder die Einzelnen nach ihrem Gutdünken leiten können, noch eine unbekannte Macht nach Laune entscheidet. Die mannigfaltigen Verhältnisse des Erdballs und das Zusammenwirken des den Menschen gestatteten Maßes von Freiheit führen ihre Resultate herbei. Eine Wissenschaft aber wird sie durch die Herstellung eines engen, bindenden Zusammenhanges zwischen ihren Tatsachen und durch die Entdeckung eines roten Fadens in diesem Zusammenhange. Dieser rote Faden kann kein anderer sein, als der Fortschritt der Menschheit zu höheren Zielen, ihre Vervollkommnung, und diese höheren Ziele der Vervollkommnung können nur in allgemeinem Wohlsein, Glück und Frieden bestehen. Ob dieselben je zu erreichen, das kann die Menschheit allerdings so wenig wissen, als der Einzelne, ob sie ihm beschieden seien. Dass aber trotz unzähligen sich auftürmenden Widerwärtigkeiten und scheinbar sich häufenden Hindernissen die Geschichte im Ganzen und Großen jenen Weggeht, das kann Jeder entdecken, der die Fortschritte der Jahrhunderte in ihrer Aufeinanderfolge vorurteilslos und aufmerksam betrachtet. Und sind auch nicht alle Individuen dazu bestimmt, die Vorteile dieser allmählichen Errungenschaften zu genießen und bessere Zustände zu erleben und zu erreichen, als die sind, unter denen sie zu leiden haben, so muss eben das Individuum sich daran gewöhnen, der Gesamtheit ein Opfer zu bringen und sich damit zu trösten, dass, was es zum gemeinen Wohle beitragt, seine Nachkommen oder die Nachkommen seiner Freunde oder Stammesgenossen einst zu genießen haben werden, — immerhin die ewig ungelöste Frage noch vorbehalten, ob nicht dem Einzelnen eine lohnende Fortdauer bevorstehe. Der Gläubige wird in dieser Hoffnung, der Ungläubige im Bewusstsein edler Selbstaufopferung seine Befriedigung, finden. Die Geschichte ist daher eine Biographie der Menschheit, als eines zusammengehörigen Ganzen, und darin besteht ihre Einheit, ihr wissenschaftlicher Charakter. Es ist dies jedoch nicht so zu verstehen, als ob die Menschheit auch altern und sterben könne; da wir bezüglich eines derartigen Schicksals ganz im Ungewissen sind, müssen wir vorläufig den Begriff der Biographie auf das Leben, Wirken und Streben eines einheitlichen Organismus beschränken, welcher zu fühlen, zu denken und zu wollen fähig ist. Es ist nicht nur die Biographie eines alternden oder gestorbenen, sondern auch diejenige eines in seiner vollen Lebenskraft stehenden Menschen denkbar, von welchem noch nicht vorauszusehen ist, wie, wo und wann das Schicksal seinem Wirken ein Ziel setzen werde.
    Das Resultat unserer Untersuchung ist: dass die Geschichte wohl an Gesetze gebunden ist, dass aber diese den Menschen zu ihrem Heile unbekannt sind und unbekannt bleiben werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Kulturgeschichte im Lichte des Fortschritts