Die Literatur der Kulturgeschichte

Die Kulturgeschichte ist ein Kind des germanischen Geistes; aber auf dem theoretischen und träumerischen Boden Deutschlands trat sie bisher erst schüchtern auf, ängstlich tastend, ob sie Niemanden in den Weg trete. Entweder ließ sie sich von der Hand ihrer älteren Schwester, der politischen Geschichte, leiten, gleichsam als Ergänzung derselben (Schlosser, Weber u. s. w.), oder sie erschien als bloße, nach kulturhistorischen Momenten gegliederte Ethnographie ohne Rücksicht auf historische Zeitfolge (Klemm), oder sie bestand aus lose an einander gereihten und sehr lakonisch gehaltenen Angaben über Sittenzustände und Schriftsteller, ohne ein zusammenhängendes, von einem Geiste durchwehtes Gemälde zu liefern (Wachsmuth), oder sie zersplitterte sich in Geschichten einzelner Zweige menschlicher Geistestätigkeit, wie der Kunst (Kugler und Lübke), der Literatur (Gewinus, Scherr, Kurz), der Pädagogik (Raumer), der Philosophie (Schwegler), und der einzelnen Wissenschaften in einem Sammelwerke (Münchener Sammlung). Ein Werk macht indessen eine Ausnahme als wirkliche, aus einem Guss gearbeitete Kulturgeschichte; es beschränkt sich jedoch auf Deutschland und enthält sich der Aufstellung von Grundsätzen der Kulturhistorik; es ist Johannes Scherrs [1817-1866] deutsche Kultur- und Sittengeschichte.
Eine Kulturgeschichte, wie sie das vorgeschrittene Zeitbewusstsein und eine rationelle Reform historischer Wissenschaft fordern, hat erst in neuester Zeit unter den praktischen und handelnden Nachkommen der seefahrenden Angeln und Sachsen dies- und jenseits des atlantischen Ozeans ihre Apostel gefunden. Es sind Engländer und Amerikaner, welche die ersten Grundsätze allgemeiner und unabhängiger Kulturgeschichte aufgestellt haben. Wir sprechen hier von Heinrich Thomas Buckles Geschichte der Zivilisation in England, von John William Drapers Geschichte der geistigen Entwicklung Europas und von William Hartpole Leckys Geschichte der Aufklärung.
Buckle [1822-1862], der Begründer der mit diesen Werken in Gang gebrachten Bewegung für wissenschaftliche Kulturgeschichte, war der Sohn eines Kaufmanns, dessen Vermögen es ihm ermöglichte, ganz den Wissenschaften zu leben. Dieses Glück bewahrte ihn jedoch nicht vor einem frühen Tode, den er im Alter von nicht ganz vierzig Jahren auf einer Orientreise in Damaskus fand. Aus diesem Grunde blieb sein nur allzu großartig berechnetes und breit angelegtes Werk ein unförmlicher Torso. Nicht nur ist es weit von der Vollendung entfernt, sondern auch der vorhandene Anfang ist kein für sich abgerundetes Gemälde, — ja, er lässt nicht einmal einen klaren Blick auf den Plan zu, der dem riesenhaften Reste zu Grunde hätte liegen sollen. Obschon Buckle wiederholt ankündigt, was er liefern wolle, ist dennoch zwischen diesen Ankündigungen und dem wirklich Gelieferten keine rechte Übereinstimmung zu entdecken. Er will die Geschichte der Zivilisation in England schreiben, beschäftigt sich aber in dem vollendeten Teile seines Buches sehr wenig mit diesem Thema. Das Ganze, was wir von ihm besitzen, ist eigentlich bloß eine Einleitung, in welcher er, nach Aufstellung der Gesetze der Geschichte nach seinem Systeme, und nach einem kurzen Überblick der neueren englischen Kulturgeschichte, sich mit Abrissen der französischen, spanischen und schottischen Kulturgeschichte beschäftigt, denen, wie angedeutet ist, eben solche Abrisse der deutschen und amerikanischen Zivilisation hätten folgen sollen. Nach all diesem hätte dann erst, wie wir uns vorzustellen haben, der eigentliche Inhalt des Werkes, wie ihn der Titel bezeichnet, seinen Anfang genommen, — eine Aufgabe, welche die Kräfte eines Menschen übersteigt. Die englischen Historiker leiden überhaupt an dem Fehler, ihre Kräfte zu wenig in Anschlag zu bringen und zu ausführlich zu schreiben, so dass der unerbittliche Tod sie nur zu oft in ihrer Arbeit unterbricht, wenn diese kaum begonnen hat; wir haben dies z. B. mit Macaulay erlebt. —
Ganz anders der Amerikaner Draper. Als Naturforscher (er ist Professorder Chemie und Physiologie an der Universität zu New-York) hat er sich eine präzise, kurze und schlagende Art und Weise der Äußerung seiner Gedanken angeeignet. Diese seine Kürze hat jedoch leider zur Folge, dass er sich von seinen Lieblingsideen ganz beherrschen lässt und alles Übrige nicht berücksichtigt, sein Werk mithin, ohne durch eine gewaltsame Unterbrechung, wie jenes Buckles, dazu gezwungen zu sein, an bedeutenden Unvollständigkeiten leidet. Sein ökonomisch zusammengedrängter und auf Sturmesflügeln dahin eilender Inhalt ist folgender: Auf eine der Buckle'schen entsprechende Einleitung über die Gesetze der Geschichte folgt eine Darstellung der griechischen Philosophie mit „Seitenblicken“ auf die indische und ägyptische Zivilisation und auf die römische Geschichte, hierauf eine Geschichte der christlichen Kirche mit einem „Seitenblicke“ auf die arabische Literatur, und zuletzt eine Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik seit der Entdeckung Amerikas. Also Philosophie im Altertum, Theologie im Mittelalter und Naturwissenschaft in der Neuzeit sind Drapers fragmentarische Perioden einer europäischen Kulturgeschichte.
Lecky, ein noch sehr junger Irländer, hat in seiner „Geschichte des Rationalismus (oder, wie der deutsche Übersetzer, der in diesem Worte eine Zweideutigkeit sieht, verbessert: der Aufklärung) in Europa“ ein den beiden so eben genannten insofern unähnliches Werk geliefert, als er sich in keiner Weise mit Theorien abgibt, daher auch nicht nach Gesetzen der Geschichte sucht. Er meldet bloß Tatsachen; aber aus der Art und Weist, wie dies geschieht, erhellen seine Überzeugungen hinlänglich und lassen ihn als einen Gesinnungsgenossen der bereits genannten Schriftsteller erkennen, als einen entschiedenen, energischen Gegner der Unterdrückung und des Zwanges gegen Körper und Geist, als einen für Freiheit, Licht und Recht begeisterten Kämpfer. Sein Werk ist ein Panegyrikos auf die Aufklärung, d. h. auf die Verwerfung der religiösen Autorität, welche als Willkür und Selbstsucht entlarvt wird. Das Werk ist eingeteilt nach den verschiedenen Mitteln, welche die Aufklärung in ihrem Riesengange vom Mittelalter bis zur Gegenwart anwandte, um mit deren Hilfe die ihr entgegenstehenden Gewalten zu vernichten und über ihren Trümmern zum Siege zu gelangen. Es sind diese Mittel nach Leckys Eintheilung: 1) die Untergrabung des Wunderglaubens, und zwar a. des Glaubens an Zauberei und Hexerei und b. des Glaubens an die von der Kirche anerkannten und ausgeübten Wunder; 2) die Befreiung der Kunst, der Wissenschaft und der Moral aus den Fesseln des Glaubens, und ihre damit verbundene höhere Entwickelung; 3) der Kampf gegen alle Verfolgung um des Glaubens willen, gehe sie aus von welcher Kirche sie immer wolle; 4) die „Säkularisation der Politik“, d. h. die Entfernung geistlicher und kirchlicher Organe vom Einfluss auf die weltlichen Angelegenheiten; und endlich 5) die Beförderung der Industrie, des Handels und des Verkehrs und die Beseitigung der die freie Bewegung in diesen Dingen hemmenden religiösen Vorurteile. Man sieht, das Thema ist umfassend und allseitig, und die Ausführung bleibt nicht hinter dem Versprechen, es zu lösen, zurück. Lecky hat es verstanden, den Scharfsinn Buckles mit der Klarheit Drapers zu verbinden und sowohl die Weitschweifigkeit des Ersteren, als die willkürliche Unvollständigkeit des Letztern zu vermeiden. Sein Buch ist ein volles Ganzes, es ist aus einem Gusse und ist ein Triumph der Gesinnungstüchtigkeit. Freilich ist es keine vollständige Kulturgeschichte; aber es ist das Programm des Geistes einer solchen und bringt die eigentliche Tendenz, welche jede Kulturgeschichte haben sollte, in einem gedrängten Bilde zur erhebenden Anschauung. —

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Kulturgeschichte im Lichte des Fortschritts