Die Kulturgeschichte als Wissenschaft

    Unter allen Geschöpfen der Erde ist der Mensch das einzige, welches eine gemeinsam fortschreitende geistige Entwickelung aufzuweisen hat, und nehmen auch nicht alle Verzweigungen der menschlichen Gattung an diesem Fortschritte Teil, so ist und bleibt doch derselbe eine Zierde und ein Vorrecht unseres Geschlechtes. Das Gesetz jener Entwickelung nun ist ein so mächtig gebietendes und eine so vollständige Harmonie der einzelnen Faktoren seiner Erfüllung erforderndes, dass sich ihm keine von dem menschlichen Geiste eingeschlagene Richtung entziehen kann. So ist denn auch das menschliche Wissen selbst, welches die Kenntnisse umfasst, die wir von allem Existierenden besitzen können, den Wandelungen unterworfen, welche der geistige Fortschritt der Menschheit erleidet. Dieses Wissen nimmt daher neue Gestalten an, so oft neue, bisher verborgene Wahrheiten entdeckt und so oft bisher für Wahrheit gehaltene Annahmen als Irrtum und Täuschung enthüllt werden.
    Die Geschichte der Wissenschaften hat daher ihre Krisen, wie diejenige anderer Richtungen der menschlichen Geistestätigkeit. Es versinken Zweige des Forschens und Wissens in das Meer der Vergessenheit, wenn die denkende Menschheit zu dem Ergebnisse gelangt ist, dass dieselben keine Wahrheiten zu enthüllen vermögen, es steigen neue aus dem unergründlichen Borne des Gedankens empor, von welchen die Ergründung der Wahrheit mit besserem Rechte erwartet werden darf. So wird das Streben des Menschen nach Erkenntnis der Wahrheit ein immer rastloseres und nimmt immer weitere und großartigere Dimensionen an. Alles, was sich in einem eng begrenzten Kreise von Ideen bewegt, innerhalb der Schranken veralteter Vorurteile stehen bleibt, verliert im Laufe der Zeiten an Interesse; die alten Einschachtelungen, in die man die Wissenschaften sperrte und in denen man sie von einander abpferchte, werden zerbrochen, das Wissen wird enzyklopädischer und kosmopolitischer. Die alten Systeme werden weggeworfen, die verschiedenen einseitigen — ismus überwunden, und es taucht nach und nach ein völlig neuer Horizont des Forschens auf. Wir wollen nicht von „Wissenschaften“ sprechen, über deren Nichtigkeit jetzt Alles einig ist, wie z. B. von der Astrologie, der Alchemie, der Chiromantie, der Physiognomik, lauter Gewebe von Hypothesen und Willkürlichkeiten, durch welche keine Wahrheit erforscht, sondern nur eine müßige Phantasie beschäftigt wurde, und denen sich vielleicht bald die sog. Phrenologie anschließen dürfte, um den vom forschenden Geiste über Bord geworfenen Ballast zu vervollständigen.
Mit diesen Plänklern im Heere des Unsinns und der Unvernunft ist jedoch das letztere noch nicht gänzlich geschlagen. Noch steht das Gros dieser der Freiheit des Denkens und Forschens so gefährlichen Armee schlagfertig aufrecht und macht keine Miene das Feld zu räumen. Ihm gilt daher der Kampf der freien Wissenschaft unserer Zeit. Der Sieg über die kleinen Afterwissenschaften wäre ein unvollständiger und nutzloser, wenn die großen ihr Wesen forttrieben. Auch sie zu überwinden ist die Aufgabe des fortschreitenden Forschens. Wir wissen wohl, dass wir in ein Wespennest stoßen, wenn wir die Namen dieser großen Afterwissenschaften nennen, da dieselben nicht nur winzige Häufchen Überspannter und Begeisterter, sondern ganze Bevölkerungen unter Anführung ihrer hochweisen Lehrer und überfrommen Priester zu ihren Anhängern und Verehrern zählen, und das Bewusstsein von ihrer vollständigen Leerheit und Nutzlosigkeit erst im Aufdämmern begriffen ist. Diese großen Afterwissenschaften sind die Theologie und die Metaphysik. Bisher ist wenigstens Das erreicht, dass dieselben nicht mehr die Throne der Alleinherrschaft und der Verachtung alles übrigen Wissens einnehmen, welche die erstere im Mittelalter, die letztere im Zeitalter der Aufklärung behauptete. Diese Throne sind gestürzt und — mit Recht bisher noch nicht wieder eingenommen; denn Vorrechte duldet unsere Zeit im geistigen Gebiete nicht mehr. Nur allgemein als nichtig und verwerflich anerkannt sind die beiden genannten Afterwissenschaften noch nicht; aber sie sollen es mit der Zeit werden.
Die Theologie und die Metaphysik haben beide zu ihrem Gegenstande Dinge, welche von den Menschen, deren ganzer geistiger Anlage gemäß, niemals erforscht werden können, über welche wir daher auch niemals etwas wissen werden, nämlich die Welt der Übersinnlichkeit, welche in ihrer Gesamtheit eine Hypothese ist, für deren Wirklichkeit keine einzige vollkommen beglaubigte Tatsache spricht; denn was über die Sinnlichkeit hinausgeht, entzieht sich nun einmal faktisch jeder Forschung unerbittlich und wird sich in Ewigkeit jeder solchen entziehen; daher auch alle Versuche der Menschen, eine geglaubte Voraussetzung der Natur mit Namen und Eigenschaften und eine gehoffte Überdauerung des menschlichen Lebens, ja sogar der Welt, mit bestimmten Lokalitäten auszustatten, — stets eitle und ärmliche Versuche bleiben werden. — Theologie und Metaphysik unterscheiden sich indessen dadurch von einander, dass die Theologie mittels eines gewissen Zeremoniells dem Volke, die Metaphysik aber durch bloße Wortspielerei dem Studierten begreiflich zu machen gesucht wird; die Theologie oder vielmehr ihr Inhalt, die Religion, ist die Metaphysik des Volkes, die Metaphysik die Religion der dünkelhaften Gelehrten; beide sind herrschsüchtig und unduldsam; zu einer physischen Macht aber hat es bloß die Theologie gebracht, — für sie wurden unzählige Kriege geführt, Heere, Stämme, ja Völker unterdrückt und vernichtet und unermesslich viel Blut verspritzt — für die Metaphysik nur Tinte! beide aber sind jedenfalls keine Wissenschaften, was bei einiger Analyse ihres Inhaltes leicht eingesehen werden muss.
    Das Gesamtgebiet der Theologie besteht aus der Kirchen - und Dogmengeschichte, welche ein Zweig der Kulturgeschichte, aus dem Kirchenrechte, welches ein Teil der Rechtswissenschaft ist, aus der Bibelkunde und Exegese, welche zur hebräischen und hellenistischen Literatur gehören, aus der Dogmatik, welche bloße, unerwiesene und durch keine Tatsachen unterstützte Behauptungen einzelner Kirchen und Sekten, und aus der Pastoral, welche lediglich die Abrichtung zum geistlichen Berufe zu ihrem Inhalte hat. Wo bleibt da eine besondere theologische Wissenschaft? Die Dogmatik kann es schon deshalb nicht sein, weil sie in jeder Konfession eine andere ist, und jede religiöse Richtung für ihre Dogmatik unbedingten Glauben fordert, mithin alle Forschung ausschließt, ja sogar verdammt. Zwar gibt es auch wirkliche Wissenschaften, in welchen Parteiansichten sich bekämpfen; allein diese Wissenschaften umfassen außer den in ihrem Gebiete streitigen Punkten noch weit bedeutendere Gebiete, welche durch genaue Forschung über jeden Zweifel erhoben sind, während von der Dogmatik, nach Entfernung der streitigen Fragen, gar nichts übrig bleibt, indem sie einzig und allein aus solchen besteht und keine Möglichkeit einer Lösung derselben denkbar ist. Dagegen naht diesen Streitfragen des Glaubens, wenn auch keine Lösung, doch — eine Auflösung und gründliche Beseitigung. Sie müssen sich, was in der Zeit theologischer Alleinherrschaft undenkbar war und unfehlbar den Tod des kühnen Denkers zur Folge hatte, die Kritik gefallen lassen und ihr prunkendes, glänzend übertünchtes Gebäude vom unerbittlichen Zahne der Naturforschung völlig unterhöhlt sehen. Richtig sagt eine geistreiche Schriftstellerin unserer Zeit, die Astronomie habe der Dogmatik den Himmel über den Häuptern und die Geologie ihr die Erde unter den Füßen weggezogen. Noch immer beherrscht zwar diese himmel- und bodenlose Dogmatik das große Heer Jener, welche entweder die Naturforschung nicht kennen, oder aus der Stellung, die ihnen das Hypothesengewebe irgend einer Kirche verschafft, Vorteil ziehen; aber im Kreise der wissenschaftlich Gebildeten und aufrichtig Forschenden verfangen ihre glei?enden Künste nichts mehr.
Es wurde im Zeitalter der Aufklärung für einen Triumph angesehen, dass die Herrschaft der Theologie durch jene der Metaphysik abgelöst wurde, d. h. die Herrschaft der von Kirchengemeinschaften aufgestellten Hypothesen durch jene der von Einzelnen geschmiedeten. Die philosophischen Systeme jagten sich, eines das andere, und die Philosophen bildeten sich ein, Wunder gewirkt zu haben, als zuletzt an die Stelle der Allmacht eines außerweltlichen Gottes die Allmacht der „absoluten Idee“ getreten war. Aber die absolute Idee wurde in kurzer Zeit wieder gründlich vergessen, und das Volk glaubte nach wie vor an den außerweltlichen persönlichen Gott. Die Hypothese der Kirche, weil plastischer und poetischer, überdauerte die Hypothese und hohle Phrase der sich so nennenden Philosophie. Es half nichts, dass Hegel seine Metaphysik „Logik“ taufte; sie blieb dennoch Metaphysik und teilte das Schicksal ihrer Schwestern, — das der ruhmlosen Vergessenheit! —
    Zur Metaphysik rechnen wir den ganzen Komplex jener angeblich philosophischen Disziplinen, welche rein auf Hypothesen und willkürliche Folgerungen gebaut sind. Dazu gehören: die alte Metaphysik im engern Sinne, d. h. die angebliche Wissenschaft von übernatürlichen Dingen, — angeblich, weil übernatürliche Dinge unmöglich erforscht werden können, die Religionsphilosophie, d. h. die Analyse der religiösen Vorstellungen , die selbst wieder Hypothesen sind, weil sie auf dem unerforschbaren Verhältnisse des Sinnlichen zum Übersinnlichen beruhen, die Naturphilosophie, welche aus bodenlosen Abstraktionen der Naturerscheinung gen und die Geschichtsphilosophie, welche aus Zurechtlegung der historischen Tatsachen zu irgend welchen einseitigen Zwecken besteht.
    Die eigentliche Metaphysik im engern Sinne ist abgetan und überwunden im Reiche der Wissenschaft, und es fehlt nur noch die Zerstörung des Nimbus, der ihre Vertreter und deren Werke, obschon sie Niemand mehr liest, noch umgibt. Mit der Theologie fällt auch die Religionsphilosophie und an ihre Stelle tritt die von der Naturwissenschaft und der Geschichte durch ihre Forschungen geübte Kritik religiöser Vorstellungen. Die Natur- und Geschichtsphilosophie endlich werden durch philosophische, d. h. vernünftige Behandlung der Naturwissenschaft und der Geschichte überflüssig.
Damit ist freilich die alte Philosophie aufgelöst, aber nur zum Vorteile der Wissenschaft selbst. Hegels System gipfelte in der Identifizierung der Philosophie und Wissenschaft als dritter Äußerung des absoluten Geistes und machte hierdurch der für sich abgeschlossenen Philosophie ein Ende. Die gesamte Wissenschaft muss philosophisch, d. h. weisheitsliebend werden, und diejenigen bisher zur Philosophie gerechneten Disziplinen, deren Gegenstand, weil auf Tatsachen beruhend, nicht als dahingefallen bezeichnet werden kann, haben den übrigen Wissenschaften gegenüber keine bevorzugte Stellung mehr in Anspruch zu nehmen. Es gehört dahin: die Psychologie, welche, als Darstellung der Tatsachen des Seelenlebens, den Zusammenhang und die Wechselwirkung des Körpers und der Seele kennen lehrt und daher zugleich die Spitze der Naturwissenschaften und die Grundlage der Geisteswissenschaften ist. Aus ihr muss sich erweisen, dass auf den Tatsachen des Denkens, Fühlens und Wollens die Ideen des Wahren, des Schönen und des Guten beruhen und den Inhalt für die drei Wissenschaften der Logik, Ästhetik und Ethik darbieten. Während von diesem herrlichen Kleeblatte der mittlere Zweig in sich selbst abgeschlossen ist, erzeugt der erstere weiter die Wissenschaft der Sprache, der letztere aber die weit umfassenderen historischen und politischen Wissenschaften, als Anwendung der ethischen Idee auf die weitesten Kreise. Unter denselben sinkt die bisher so mächtige Rechtswissenschaft, in Folge allmählichen Veraltens des früher allein herrschenden römischen Rechtes und ihres immer voll ständigern Aufgehens in der Gesetzgebung, die nicht mehr Wissenschaft, sondern Staats-Konvenienz ist, immer mehr zur Bedeutungslosigkeit herab, gegenüber den frisch aufstrebenden Staatswissenschaften, und unter diesen ragt, als neuer Zweig der Geistestätigkeit, die Nationalökonomie hervor, die Wissenschaft des Zusammenlebens der Menschen und ihres Verhältnisses zur untergeordneten Natur. Als Erläuterung dieser Verhältnisse durch Zahlen entwickelt sich riesig die Statistik, die sich zur Nationalökonomie verhält wie die Chronologie zur Geschichte. Und diese neuen Wissenschaften haben nicht wenig dazu beigetragen, dass die vorher so trockene Geschichte die dumpfen Fürstengrüfte und blutigen Schlachtfelder, in und auf denen sie sich mit Vorliebe bewegte, verließ, ins frische, farbige und lärmende Leben der Völker heraustrat und hierdurch zur Kulturgeschichte wurde. Es ist dies ein Fortschritt in der historischen Wissenschaft, der nicht genug gewürdigt und begrüßt werden kann; denn er ist es erst, der die Geschichte genießbar macht, ihr Leben und Wahrheit verleiht, sie nicht nur im Staatskleide und in der Kriegsrüstung, sondern auch im Alltags- und Hausrocke auftreten lässt. Es ist keine Übertreibung, wenn wir die Kulturgeschichte den höchsten und vollkommensten Zweig des menschlichen Wissens nennen; denn sie umfasst alle anderen, indem sie die Fortschritte der Menschheit in denselben nachweist, und auch alle übrigen Richtungen menschlicher Tätigkeit in den Kreis ihrer Erzählung zieht, — und sie hat ohne Zweifel eine große Zukunft vor sich.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Kulturgeschichte im Lichte des Fortschritts