Die Faktoren der Kulturgeschichte

    Wenn die Geschichte im Allgemeinen eine Biographie der Menschheit, so ist von ihren beiden Zweigen die politische Geschichte die, eigentliche Lebensgeschichte, die Kulturgeschichte aber die Bildungsgeschichte der Menschheit, jene die Erzählung der äußeren Schicksale, diese der inneren Entwicklung unseres Geschlechtes. So wenig nun aber der Biographie eines einzelnen Menschen zugemutet werden kann, sein gewöhnliches tägliches Leben, Alles was er getan und gesprochen u. s. w. zu erzählen, so wenig gehört in die Geschichte der Menschheit alles Einzelne, was man von den Ereignissen unter den verschiedenen Völkern weiß. Wie in weiteren Kreisen nur Interesse erwecken kann, was ein bedeutender Mensch für das allgemeine Beste gewirkt, so kann sich auch die Lebens- und Bildungsgeschichte der Menschheit nur mit Dem befassen, was für den Fortschritt und die Vervollkommnung der Menschheit von Bedeutung ist. Solch Bedeutungsvolles weist aber weder die Geschichte sämtlicher Völker, noch diejenige sämtlicher Zeiträume der Geschichte einzelner Völker auf, und in der Biographie der Menschheit kann daher nur die Geschichte gewisser Völker während gewisser Zeiträume Platz finden. Wir nennen die Völker, welche für den Fortschritt und die Vervollkommnung der Menschheit wirkten, mit Bezug auf die Zeit, in welcher sie dies taten, — Kulturvölker, im Gegensatze zu den Naturvölkern, deren Schicksale für die Gesamtentwickelung des Menschengeschlechtes bedeutungslos sind. Nicht jedes Volk gehört stets zu den einen oder stets zu den anderen. Während bloß jene Völker, welche wir heute noch als wild bezeichnen, stets Naturvölker waren, gab es dagegen andere, welche mit der Zeit zu Kulturvölkern wurden und es noch jetzt sind, wie die meisten europäischen Völker, und wieder andere, welche von der früher erreichten Stufe hoher Kultur wieder herabgestiegen sind, wie die meisten asiatischen Völker.
Fragt man nun, wodurch ein Volk zum Kulturvolk, d. h. wodurch es ihm möglich werde, auf die Entwickelung der Menschheit in größerem Maßstabe einzuwirken, so antwortet hierauf Buckle, der, wie schon bemerkt, die Kultur in der Einwirkung der Natur auf den Menschen und des Menschen auf die Natur erblickt: durch Klima, Nahrung, Boden und die Naturerscheinung im Ganzen, nicht aber durch die Rassen unter schiede, welche nichts als Hypothesen seien, für deren Dasein noch niemals ein Beweis gebracht worden! Wenn wir ihm nun hierin entgegentreten und nicht nur im Klima u. s. w. objektive, sondern auch in der Rasse subjektive Faktoren der Kultur finden, was wir nachweisen werden, so müssen wir von vorn herein die Erklärung abgeben, dass wir diese unsere Überzeugung nicht in Verbindung mit der Frage nach dem Ursprunge des Menschengeschlechtes bringen, sondern als unabhängig davon betrachten.
    Das Menschengeschlecht gleicht nämlich einem Menschen, welcher als kleines Kind in eine Einöde ausgesetzt wurde und darin wild aufwuchs. Ein solcher Mensch würde unmöglich wissen können, wie er entstanden ist, und ebenso unmöglich, dass er einst sterben müsse. Auch wir Zivilisierte wissen beides nur daher, dass wir davon sprechen hören, und unter Umständen selbst mit ansehen können, wie Menschen ins Leben treten und es verlassen. Dem Menschengeschlechte im Allgemeinen steht nun aber kein älteres Geschlecht zur Seite, das einer Erinnerung an unsere Schöpfung fähig wäre und uns darüber etwas mitteilen könnte; auch sind wir, obschon uns untergegangene Tierarten bekannt sind, bei dem Fortleben und der steten Fortpflanzung der übrigen außer Stande zu beurteilen, ob unser Untergang einst erfolgen müsse, — und so weiß die Menschheit weder von ihrer ursprünglichen Entstehung, noch von ihrem mutmaßlichen Ende irgend etwas. Bei allen Völkern, welche nicht in ganz tierähnlicher Stumpfheit dahin leben, hat sich daher die Sage, wie überhaupt der Welt-, so besonders auch der Menschenschöpfung, wie nicht minder des Weltunterganges, des „jüngsten Tages“, bemächtigt und fabelte z. B. bei den alten Deutschen die Entstehung der ersten Menschen aus Bäumen, bei den alten Griechen aus Steinen, bei den alten Juden aus Erde, welch' letztere Erzählung, wenn auch nicht als wissenschaftliche Wahrheit, doch als sinnvolle Allegorie unstreitig am höchsten steht. Denn aus irdischem Stoffe besteht offenbar der Mensch, und das Weib findet seinen Lebenszweck nur in Vereinigung mit dem Manne, wie auch das Böse unleugbar in dem Mangel an Beherrschung der Begierden seinen Ursprung hat und sich naturgemäß von den Eltern auf die Kinder forterbt. Dass aber ohne den „Sündenfall“ weder der Tod, noch die Mühseligkeit des Erwerbs und die Schmerzen der Geburt ihren Einzug auf der Erde gehalten hätten, ist natürlich eine Dichtung, da der „Sündenfall“, d. h. die Unterscheidung von Gut und Böse, bei Geschöpfen aus irdischem Stoffe jedenfalls eintreten musste.
Mit der Ungewissheit der Menschheit über ihre Entstehung hängt auf das Innigste die Frage zusammen, ob die Menschen von einem oder mehreren Urpaaren abstammen. Es gibt in dieser Beziehung gegenwärtig dreierlei Ansichten. Die erste ist jene, welche in Aufrechthaltung der hebräischen Schöpfungssage, weil dieselbe für göttliche Offenbarung gehalten wird, jede Tiergattung und so auch den Menschen, je durch unmittelbare göttliche Erschaffung eines Urpaares entstanden glaubt, und die verschiedenen Menschen-Rassen für Degenerationen des Urmenschen hält. Die zweite behauptet die Entstehung mehrerer Urpaare und demzufolge eine ursprüngliche und angeborene Trennung der Menschen in Rassen,— jedoch ohne über die Art und Weise der Entstehung jener Urpaare irgend welche Hypothesen aufstellen zu können. Die dritte Ansicht endlich ist die schon von Aristoteles geahnte, in neuerer Zeit von Oken aufgenommene und neulich von Darwin präzisierte Theorie der allmählichen Herausbildung sämtlicher Pflanzen- und Tierformen aus gemeinschaftlichen Urkeimen durch fortschreitende Spaltung und vom Niederen zum Höheren aufsteigende Veredelung. Nach dieser Theorie wäre der Mensch ein Nachkomme der Tierwelt und nicht nur alle Menschen unter sich, sondern auch alle organischen Wesen überhaupt mit einander verwandt. — Da der Verfasser dieses Buches nicht Naturforscher ist, so kann er sich weder auf eine Beurteilung dieser Ansichten, noch auf die Entscheidung für eine derselben einlassen, sondern macht nur darauf aufmerksam, dass über den Widerstreit derselben die Akten wohl niemals werden geschlossen sein können, und alle drei mit größter Wahrscheinlichkeit Hypothesen bleiben müssen. Von vorn herein ohne wissenschaftlichen Wert ist jedenfalls die erste (biblische) Theorie, weil sie ohne Untersuchung und Prüfung für wahr hält, was die alte Überlieferung eines einzelnen Volkes erzählt. Mit Bezug auf die dritte (Darwin'sche) Theorie muss dagegen bemerkt werden, dass mit bloßem Lächerlichmachen und Ziehen ins Absurde keine Lehre widerlegt wird und dass der Religion, welche bloß aus Hypothesen über das Verhältnis der Natur und des Menschen zu Übersinnlichem besteht, in Sachen der Wissenschaft, welche Beweise fordert, kein maßgebendes Urteil zugeschrieben werden kann.
    Verhalte es sich nun aber mit der Entstehung des Menschengeschlechtes so oder anders, habe es eines oder mehrere Urpaare gegeben, so ist unter allen Umständen die Existenz von tief eingreifenden Verschiedenheiten der Menschen unter sich, von Menschen-Rassen, und deren Einwirkung auf die Geschichte, besonders die Kulturgeschichte, eine nicht zu leugnende Tatsache. Die Wahrheit derselben entging denn auch dem Naturforscher und Kulturhistoriker Draper so wenig, dass er, welcher alle Einwirkung auf die Kultur bloß dem Klima und daher diesem allein auch die Veränderlichkeit der Menschenschädel zuschreibt, trotzdem zugesteht, es seien den Rassen gewisse Anlagen, Vorstellungen, Ausdrucksweisen u. s. w. angeboren, so dem Neger der Aberglaube, dem Mongolen die einsilbigen Sprachen, und diese Eigentümlichkeiten „vererben sich mit dem Blute.“ Ja, er bekennt geradezu, dass „Verschmelzung mit einer niedrigern Rasse den Standpunkt einer höhern herabdrücke.“
    Noch mehr als dies Zugeständnis eines Gelehrten, der, gleich Buckle, den Einfluss der Rasse auf die Kultur leugnet, muss von der Wirklichkeit dieses Einflusses ein Hinblick auf die Verbreitung der Menschen-Rassen und ihr Verhältnis unter sich, am meisten aber die Tatsachen der Kulturgeschichte selbst überzeugen.
    Auf den Inseln Südost-Asiens und Ozeaniens, also in demselben Klima, leben seit undenklichen Zeiten drei Rassen, deren Einwanderung in jene Gegenden außerhalb aller historischen Erinnerung liegt, — die Malaien, die Papuas und die Australneger, letztere beide mehr oder weniger negerartig, erstere edler gebildet, neben einander, ohne dass bis jetzt eine Verschmelzung derselben oder ein Übergang von der einen zur andern stattgefunden hätte; sie stehen sich noch immer so schroff gegenüber, wie als die Europäer sie zum ersten Male kennen lernten. Das gleiche Klima hat also hier keine gemeinsame Kultur hervorgebracht. In Ostindien leben neben und unter den dem indo-europäischen Stamme angehörenden Hindus die als Parias von ihnen verachteten Angehörigen niederer Menschen-Rassen, und zwar nachweisbar seit Jahrtausenden, und doch sind trotz der Einheit des Klimas, weder jene dunkler und unedler, noch diese heller und zivilisierter geworden; jede der beiden Rassen behielt die Kultur, wozu ihre Abstammung sie befähigte. In Nordasien und Nordost-Europa leben auf gleicher Breite mit den Europäern hässliche mongolische Stämme, ohne sich Jenen im Geringsten zu nähern. Ebenso gehören Kamtschadalen und Hinterindier derselben Haupt-Rasse an, ohne sich nach dem himmelweit verschiedenen Klima modifiziert zu haben. In Afrika leben in demselben Klima mit den Negern die braunen und einer Rasse mit den Europäern angehörenden Berbern und die, wenn auch schwarzen, doch mit edleren Formen ausgestatteten Fula und Mandingo, ohne sich je ihnen assimiliert zu haben. Und südlich von ihnen, zu beiden Seiten des Äquators und südwärts bis zum Vorgebirge der guten Hoffnung leben die Kaffernstämme mit nicht platter, sondern hoher Stirne, trotz der Verschiedenheit der von ihnen bewohnten Klimate überall mit denselben Eigentümlichkeiten, und diese nehmen weder im Norden die hässliche Physiognomie des Negers, noch im Süden die schmutziggelbe Farbe und die Stupidität der mit ihnen dort in gleicher Breite hausenden Hottentotten an. In Amerika erstreckt sich die nämliche rote Rasse von den Seen des Nordens bis zum Feuerlande herab, wohl mit verschiedenen Modifikationen, aber ohne in der heißen Zone eine dunklere Farbe und plattere Schädel, stumpfe Nase und Wollenhaar anzunehmen. Endlich leben seit dreihundert Jahren Neger in Amerika und Europäer in sämtlichen Erdteilen, und stets sind ihre Nachkommen, wenn auch Letztere von der Sonne verbrannt, der Schädelform und Kultur ihrer Vorfahren treu geblieben. Und Angesichts dieser Tatsachen darf Buckle die Rassenunterschiede Hypothesen nennen, für deren Dasein noch niemals ein Beweis gebracht worden sei! Wir teilen durchaus seine Beweisführung von der Einwirkung des Klimas, der Nahrung, der Naturszenerie u. s. w. auf die Kultur; aber auch die Rasse ist ein Faktor, der auf die Zivilisation der Völker mächtigen Einfluss ausübt, und wir sind daher überzeugt, dass die Einwirkung des Klimas durch die Eigentümlichkeit der Rasse und letztere durch erstere modifiziert wird und daher erst das Zusammenwirken beider Einflüsse, des angeborenen und des angewöhnten, die geistige Entwickelung der Völker vorzeichnet.
Es hat sich dieser Grundsatz auch bisher in der Kulturgeschichte glänzend bestätigt. Je edler die Rasse eines Volkes, desto mehr hat dasselbe für den Fortschritt und die Vervollkommnung der Menschheit gewirkt, desto mehr Bedeutung haben seine Schicksale für die gemeinsamen Interessen der Menschheit, desto eher gestalten sie sich zu einer Geschichte, namentlich zu einer Kulturgeschichte. Die Pflanzen und Tiere haben keine Geschichte, weil in ihnen kein Gefühl der Zusammengehörigkeit ihrer Gattung waltet; selbst der Staat der Bienen erhebt sich nicht über den Horizont einer Familie. Auch die niederen Menschen-Rassen haben keine Geschickte; ihre Interessen schreiten meistens von der Familie bloß bis zum Stamme vorwärts. Selbst die Staaten, welche sie hervorgebracht, China und Japan, die vollkommensten unter ihnen, nicht ausgenommen, besitzen wohl Verzeichnisse von Kaisern, Kriegen, Eroberungen und Revolutionen, wohl eine ziemlich hohe Kultur, — aber keine Geschichte, d. h. keine fortschreitende Entwickelung des Volksgeistes. Eine solche muss weiter gesucht werden. Im Irrtum befindet sich hier aber Buckle, welcher, als Surrogat der von ihm verworfenen Rassenunterschiede und als nicht ganz zutreffende Illustration des Klima- und Bodenbegriffs, den Erdteil zur entscheidenden Grenze verschiedenartiger Kultur macht und ausspricht, dass in den außereuropäischen Kulturländern die Natur dem Menschen, in den europäischen dagegen der Mensch der Natur überlegen sei, dass daher in der Bevölkerung jener die Phantasie, in derjenigen dieser der Verstand vorwalte. Abgesehen von der hierin liegenden Inkonsequenz, indem Europa als solches in Klima, Boden, Nahrung u. s. w. nicht durchweg von anderen Gegenden der nämlichen geographischen Breite verschieden ist, glauben wir vielmehr, dass bezüglich dieses Unterschiedes zwischen phantasievollen und verständigen Völkern nicht sowohl der Wohnplatz, beziehungsweise der Erdteil, als vielmehr ein Zusammenwirken verschiedener Umstände, und zwar nach unserer Ansicht vorzüglich der Rasse und des Klimas, maßgebend sei. Im Ganzen wird den niedrigeren Rassen die Natur mehr imponieren, als den höheren, in jenen wird daher die Phantasie vorwalten, in diesen der Verstand. Innerhalb der Rassen aber muss es wieder verschiedene Modifikationen geben, zu denen allerdings die Szenerie des von ihnen bewohnten Landes, nicht aber der Erdteil als solcher beitragen wird; denn Europa hat ebensowohl überwältigende Naturschönheiten, als viele Gegenden außerhalb Europas öde, traurig und reizlos sind. Auf wen wird z. B. der herrliche Garten Italiens, namentlich der Golf von Neapel, auf wen die Wunderwelt der Alpen, ihrer Gletscher und Seen, auf wen die Fjorde Norwegens nicht weit tieferen Eindruck hervorbringen, als die Steppen Asiens und die Wüsten Afrikas?
Wir ziehen hieraus den Schluss, dass die Abstufungen in der Kultur der Menschheit abhängig seien einmal von der Natur und sodann vom Menschen. Die Abhängigkeit von der Natur verzweigt sich ferner in die Einwirkung der geographischen Gestaltung der Erdoberfläche, in diejenige des Klimas und in diejenige des Bodens und der von demselben dargebotenen Nahrung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Kulturgeschichte im Lichte des Fortschritts