Die Gicht

E. Die Gicht.

§. 292.


Unter den vielen Leiden, die die Gebildeten vor der nach der Natur bestimmten Zeit dem Grabe näher führen, ist die Gicht nicht das letzte. Ich werde hier kein Krankheitsbild derselben entwerfen, da dieses dem Zwecke meiner Schrift nicht entspräche, sondern nur auf die Hauptquellen dieses qualvollen Leidens meine Leser aufmerksam machen, und ihnen zeigen, daß eine geregelte Lebensordnung und Beherrschung der Leidenschaften zwei vorzügliche Präservative und Heilmittel für dieses hartnäckige Übel sind.

§. 293.

Die erste und für unsern Zweck wohl zu berücksichtigende Ursache der Gicht ist zu suchen in der sitzenden Lebensart. Bauern, Hirten, Jäger und Gewerbsleute, die ein tätiges, mit körperlichen Bewegungen verbundenes Leben führen, werden selten Gichtkandidaten, wohl aber Gebildete und Reiche, Beamte, Gelehrte, Professoren, Gewerbsleute und Handwerker, die ausschließlich ein sitzendes Leben führen, wo in den Organen des Unterleibes Stockungen der dort eigens bereiteten Säfte, besonders der Galle und des Blutes, stattfinden. Berücksichtigt man, daß bei diesen Menschen das Hautsystem sehr viel dadurch leidet, daß es durch den Mangel an Bewegung zur Erzeugung und Ausscheidung des Schweißes weniger angeregt und bestimmt werde, so dürfte diese Quelle der Gicht wohl von Niemanden mehr verkannt werden. Das Übel entsteht auf diese Weise bei einem Menschen um so schneller, der früher ein tätiges Leben in freier Luft führte, wo er mitunter auch körperliche Anstrengungen verrichtete, wenn er mit einem Male zur sitzenden Lebensart verwiesen wird. So zieht sie an der Werkstätte der gemeinen Gewerbsleute und rastlosen Handwerker vorüber, und klopft an die Türe des Studierzimmers, wo der Weise über Welt, Natur und Menschen seine Systeme spinnt. Sie geht mit leisem Tritte an der Türe des Landmannes vorbei, und pocht ungestüm an den Pforten der Paläste.

§. 394.

Der Genuß sehr nahrhafter delikater Fleischspeisen, so wie des Weines und der geistigen Getränke überhaupt, erzeugt schnell die Gicht, wenn sich bei einem Individuum die sogenannte gichtische Anlage vorfindet, die oft in einer Schwäche der Füße, und ganz besonders der Knochen, die die Gelenke bilden, besteht. Solche Menschen fühlen schon als Jünglinge, wenn sie sich im Gehen forcieren, Schmerzen in den Füßen, oder klagen sehr häufig über ein Gefühl von Kälte in denselben. Verwunden sie sich an den Knochengebilden durch einen Sturz, Fall, Stoß oder Schnitt, so wird auch die Entzündung hier eigentümlich gestaltet sein. Mäßigkeit, dieses Universalmittel für langwierige Leiden, kann hier so viel wirken, daß die Gicht noch lange hingehalten wird, ehe es zum wirklichen Anfalle kommt, oft sogar unter Mitwirkung sehr günstiger Umstände und äußerer Verhältnisse ihr vollkommener Ausbruch, der im männlichen Alter gewöhnlich zwischen den 35sten und 40sten Jahre statt findet, gänzlich bekämpft wird.

§. 295.

Sehr fette, gesalzene und geräucherte Nahrungsmittel, besonders wenn sie sehr künstlich und äußerst schmackhaft für den Gaumen zubereitet werden, täglich genossen, wohl gar zu unregelmäßiger Zeit, wie bei Mitternachtstafeln, wo die Verdauung nicht gehörig von statten gehen kann, weil man sich gleich darauf ins Bett verfüget, tragen sehr viel zur Erzeugung dieses Übels bei. Pflanzenspeisen, besonders die leichten und saftigen, nicht etwa die stark nährenden und blähenden, scheinen Feinde der Gicht zu sein; allein die mehr säuerlichen, so wie Essig und die Sauren überhaupt, rufen sie um so schneller ins Dasein, je mehr der mit einer Gichtanlage Begabte ihnen huldigt. Vor allem aber sind es die geistigen Getränke, und unter diesen besonders der Wein, zumal der junge und viel Säure enthaltende, wie der Rheinwein, welche die Entstehung dieser Krankheit befördern. Unmäßigkeit in allen sinnlichen Genüssen, Verschwendung der edelsten Kräfte des Mannes, oft zugegen gewesene heimliche Krankheiten, besonders wenn die Unglücklichen, die damit behaftet waren, sich von Quacksalbern misshandeln ließen, werden zeitlich von der Muhme Gicht heimgesucht. Menschen, die überhaupt ein sehr behagliches, sorgenfreies Leben führen und ein Spielball aller Leidenschaften sind, fallen ihr früh als Opfer anheim. Das war so zu allen Zeiten, und scheint in unsern Tagen nicht abzunehmen, sondern im Vergleiche mit der Vergangenheit zu steigen.

§. 296.

Menschen, die leichte Gichtanfälle glücklich überstanden haben, müssen sehr mäßig leben und eine gewisse Norm, die mit der Erfahrung, die sie über ihren körperlichen Zustand gemacht haben, übereinstimmt, als Prinzip in ihrer Lebensweise berücksichtigen; und eben so, wie sie eine zweckmäßige Wahl in Bezug der Nahrungsmittel und Getränke, der Ruhe und Bewegung, des Schlafens und Wachens, der Kälte und der Hitze, der Kleidung und der Wohnung beobachten müssen: eben so muß ihr geistiges und Gemütsleben eine mit den individuellen Verhältnissen harmonierende Richtung erhalten; denn wie die bewährtesten großen Praktiker erwähnen, so erzeugt Kummer, Furcht, Schrecken und ein hoher Grad von Traurigkeit eben so schnell die Gicht, besonders bei Menschen, wo sich die Anlage zu diesem Übel gleichfalls wie ein väterliches Erbteil vorfindet.

§. 297.

Wer sind doch die Kandidaten der Gicht? — Wenn ich, ohne für meine Meinung eingenommen zu sein, die Antwort aus dem Munde aller praktischen Ärzte und Beobachter nehme, so sagen sie einstimmig, daß es überhaupt Leute sind, die in der guten Lebensordnung fehlen, und insbesondere solche, die ihre Verdauungskräfte ruinieren. Nicht die magern, arbeitsamen, sehnigen, harten Bauern, Soldaten, Matrosen, sondern die Zärtlinge, die bequemen Reichen, die Schwelger, die Süßen, die ganz Gefühl, die Nassen, die ganz Durst, die Empfindlichen, die ganz Leidenschaft sind, die sind bei beiden Geschlechtern, vorzugsweise aber beim männlichen, die wahren Kandidaten der Gicht.

§. 298.

Wenn man diese Leute mit einander vergleicht, ist immer etwas zu finden, das sie alle gemein haben, und das solche Folgen nach sich ziehen kann; und dies ist unstreitig die verdorbene Verdauung. Der Bachusbruder, der sie vertrinkt, der müßige Bequeme, der sie versitzt, der Empfindliche, der sie verschwärmt, der Fresser, der sie verschmaust, und der verzogene Zärtling, der sie nie gut besessen hat, alle diese Leute haben verdorbene Magen, und gleich im Anfange ihrer unordentlichen Lebensart begleitet sie schon die Hypochondrie wie ein Schatten. Der Fortgang der Diät und ihre Folgen machen sie gichtisch: mithin die Gicht häufig eine Folge einer langwierigen üblen Verdauung ist. (Unzer.)

§. 299.

Daß Menschen von guter Gesundheit, daß junge, muntere Leute auf der Bahn ihres Lebens die Gesundheit vernachlässigen oder missbrauchen, und nicht die Warnungen Anderer hören wollen , ist kein großes Wunder; aber desto sonderbarer ist es, daß die Menschen überhaupt, um ihre Gesundheit zu verbessern und zu befestigen, in einem beständigen Kreise von fruchtlosen Versuchen herumirren, und sich verführen lassen.

Nicht der unwissende Pöbel allein, sondern auch sogar verständige, kluge, gelehrte und in anderen Dingen nicht unerfahrene Männer sind in dieser Sache eben so blind, und hören nicht auf, mit eben der eitlen Hoffnung nach öfters wiederholten und fehlgeschlagenen Versuchen die vielen tausend unnützen Künste und betrüglichen Mittel der Pfuscher und Quacksalber zu gebrauchen, ohne jemals die Augen aufzuheben, und einen Blick in das Buch der Natur zu tun, so offen es auch für einen Jeden zur Durchsicht, zur Überzeugung und zu seinem Nutzen da liegt.

§. 300.

Fast jede Krankheit, und vor allen die Gicht, wird durch die Befolgung eines gewissen Planes, durch eine sorgfältige Diät entweder ganz geheilt, oder doch erleichtert und gelindert. Arzneiverständige und Naturkundige wissen am besten, daß die Gesundheit nicht wieder zu befestigen ist, weil die Wirkung dieser Mittel nur von kurzer Dauer ist, und der öftere Gebrauch derselben auch dem stärksten Körper nachteilig und schädlich wird. Wenn die Gesundheit also je wieder herzustellen ist, so muß es durch eine gelinde Erweckung der Leibeskräfte geschehen, welche von sich selbst wirken müssen, oder man muß suchen nach und nach immer mehr und mehr Kräfte durch eine zweckmäßig gewählte Nahrung, vor allen Dingen durch die Gemütsruhe dem Körper mitzuteilen, dabei aber diejenige Lebensart, welche diese Krankheit anfänglich herbei geführt, gänzlich zu verlassen.

§. 301.

Die Arznei selbst kann hierbei nur sehr wenig wirken; denn obwohl es nicht zu leugnen ist, daß durch ihren einwirkenden Einfluß die Gesundheit unter günstigen Verhaltungs- und Diätverhältnissen oft wieder hergestellt wurde: so wird doch gewiß auch Jedermann versichert sein, daß kein Schwacher und Kraftloser, er sei auch wie er wolle beschaffen, je durch die Arznei allein zu einem gesunden und starken Menschen gemacht worden ist. Man berechne hiernach, welche Erwartungen Jenen bevorstehen, die sich, wie es oft geschieht, auf ein Geratewohl an Charlatane und Betrüger überlassen, und einzig auf die Wunderwirkung der erhaltenen Elixire ihre Genesungshoffnung bauen. Das Lächerlichste jedoch und Unwürdigste dabei ist, daß die Patienten sich selbst öfters so schämen zu gestehen, daß sie hintergangen worden, daß sie oft den Betrug noch befördern, indem sie Hilfe gehabt zu haben vorgeben, die sie doch niemals empfunden.

§. 302.

Ich glaube nicht, hier erst darauf hindeuten zu müssen, daß verschiedene Krankheiten bei verschiedenen Individuen einerlei Ursachen haben, und daß wir ihre Verschiedenheit aus den diversen Graden der Stärke und Lebhaftigkeit der Körper herleiten können, so daß, was in Einem die Gicht herbeiführt, in dem Andern den Schnupfen, den Stein, die Kolik, in dem Dritten vielleicht die Gelbsucht, den Schlag usw. hervorbringen wird. Sonach ist bei Einigen, es sei nun zur Vorbeugung oder Besiegung des Übels, von welchem in diesem Kapitel die Rede ist, ein höherer Grad der Mäßigkeit und eine strengere Lebensordnung als bei Andern nötig, um ihre Gesundheit entweder vor der Gefahr zu bewahren, oder die ausgebrochene zu besiegen.

§. 303.

Wie es nun dies eigentliche und wahre Verhältnis mit der Gichtkrankheit meistens ist, daß wir sie zu allererst selbst erzeugen, sie aber zugleich immer wieder erneuern und durch unsere eigene Schuld und Ausschweifung je länger, je mehr uns zuziehen, so suchen wir meistenteils eine Entschuldigung für unser Vergehen darin: daß wir die Schuld auf unsere Eltern zurückschieben, das Leiden als ein übererbtes Übel betrachten, damit unsere Klagen desto rechtmäßiger sein sollen. Wir machen es wie ein durch Müßiggang und Schwelgerei zu Grunde gegangener Kaufmann, der auch immer Schaden und Unglück vorwendet, um sich und seine Mitbürger über die eigentlichen Ursachen seines Falles zu täuschen.

§. 304.

Es ist sogar nicht daran zu zweifeln, daß ein kluger, einsichtsvoller Arzt bei einer genauen Untersuchung derjenigen Lebensart, welche die Nachkommen gichtischer Eltern führen, meistens viele Fehler antreffen würde, die sie hierin begehen, und daß sie gar oft wider die natürlichen Gesetze der Mäßigkeit sündigen, oder daß ihnen die Gemütsruhe oder die regelmäßige Bewegung des Körpers fehlt, welche eben so gut, als die Mäßigkeit selbst, nicht nur die Gicht abzuhalten, sondern auch die Gesundheit zu bewahren, erfordert werden. Und auf diese Weise wird man zuletzt wahrnehmen, daß solche Nachkommen in den meisten Fällen mehr als ihre Eltern zur Erzeugung und Ausbildung ihrer Gicht beigetragen haben.

§. 305.

Wenn die Gicht, wie es nun Jedermann klar sein wird, als eine notwendige Wirkung der Unmäßigkeit, d.h. des Übermaßes im Genusse, in unbewegter Ruhe usw., anzusehen ist: so müsste ein dawider dienliches Mittel von solcher Beschaffenheit sein (um den unbegrenzten Anforderungen, die so oft an die Heilkunst gestellt werden, zu genügen), daß es den Menschen vermögend machte, eine tägliche Schwelgerei oder eine tägliche Regungslosigkeit sein ganzes Leben hindurch, ohne jemals von der Gicht oder andern Krankheiten befallen zu werden, auszuhalten; das würde aber eben so viel sein, als wenn man durch eine gegenwärtige Arznei die Wirkung einer zukünftigen Ursache heben und wegnehmen wollte. Auf diese Art könnte man eben so wohl eine Arznei verlangen, die da mache, daß Einer in sieben Jahren nicht Hals noch Bein breche. Leute mit ähnlichen Anforderungen bedenken nicht, daß es bloß die bis auf einen gewissen Grad von Tag zu Tag angehäuften Unreinigkeiten sind, welche so lange, als sie die Lebenskräfte beunruhigen, beständig alle und jede Anfälle der Gicht veranlassen, und daß, wenn diese, als der böse Samen, nur einmal glücklich beseitigt sind, im Menschen von der Gicht jede Spur so verschwinde, als wenn sie niemals da gewesen wäre; aber zu dieser gänzlichen Beseitigung kann nicht der Arzt Alles, der Patient selbst muß das Meiste durch seine Diät und Lebensordnung beitragen.

§. 306.

Es würde den Umfang dieser Schrift zu sehr erweitern, wenn ich hier zu einzelnen Fällen und Krankheitsbildern, oder zu einer physikalischen Beschreibung der Nahrungsmittel übergehen wollte, indem ich in Betreff der nötigen Diät bei Hämorrhoiden ohnedies das Notwendigste berührte, was gebildete Leser interessieren kann. Ich werde hier noch einige Andeutungen über Hypochondrie folgen lassen, ein Leiden, das unter Gebildeten so häufig vorkommt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Krankheit der Reichen