Von den Erholungen und Zerstreuungen gebildeter Menschen

2. Von den Erholungen und Zerstreuungen gebildeter Menschen; über Geselligkeit und ihren Einfluß auf die Gesundheit des Körpers, Heiterkeit des Gemütes und Stärke des Geistes. Betrachtungen über die verschiedenen Arten der Zerstreuungen.

Alle Stürme unserer Schicksale sind erträglicher, als das geistlose Visitenwesen und Kartenabgeben, alle die langweiligen Besuche und Gegenbesuche, ohne Absicht und Zweck, womit die Menschen ihr Leben wegtändeln.


Zimmermann.

§. 361.

Die Geselligkeit ist die Quelle eines langen und gesunden Lebens, besonders wenn sie auf eine solche Art Statt findet, daß Zwang und Pein aus ihrem Kreise ferne bleiben, und wir uns frei und heiter in dem gesellschaftlichen Leben bewegen können. Leider lauern aber in dem geselligen Leben gebildeter Stände so viele Feinde, die auch diese Bestimmung der Natur — denn als solche ist die Geselligkeit zu betrachten — mit ihren Moden und Launen, mit ihren Sitten und Gebräuchen, mit ihren Vorurteilen und Ansprüchen trüben, verdrehen und zum Bösen leiten.

§. 362.

Jene Form der Unterhaltung und Belustigung des geselligen Lebens halte ich für die zuträglichste, wo eine förderliche Leibesübung mit einer heitern Gemütsstimmung sich vereinen lassen. Die Reichen und Gebildeten empfinden für sich allein viele Langeweile, ihre Beschäftigungen zerstreuen sie so wenig, oder sind zu ernst und mit einseitiger Übung der Muskelkräfte verbunden, die auch in ihrem Gemüte eine monotone Stimmung herbeiführet; doch besitzen sie viele Mittel, um sich für die leeren Stunden ihrer Tage schadlos zu halten, wenn sie es verstehen, durch freundliches und inniges Austauschen ihrer Ideen und Empfindungen die Reize des gesellschaftlichen Lebens zu genießen.

§. 363.

Betrachten wir die vielen wohltätigen Einflüsse, die ein geselliges Leben gewährt, so sehen wir, daß man gezwungen ist, die Teile seines Körpers auf verschiedene Weise zu bewegen, was am Schreib-, Näh-, Spiel- und Teetische nicht geschieht; aber, wenden andere ein, kann man diesem ewigen Sitzen in den gesellschaftlichen Kreisen das Wort reden? nein — man sitzt aber erstens nicht immer in Gesellschaft? Wie lange steht man nicht oft, bis sich alles versammelt hat, und selbst dieses Sitzen ist viel zuträglicher für die Gesundheit, weil Anstand und Sitte hier Gesetze geben, und man sich nicht vernachlässigt, verschroben und zusammengebogen hält, wie zu Hause, wo man der Bequemlichkeit huldigt. Nun tanzt man aber auch in den geselligen Zirkeln, man spielt hie und da Billard und noch andere kleine belustigende Spiele, die gewiß, wenn sie mäßig betrieben werden, das Wohl der tierischen Maschine befördern müssen.

§. 364.

Denkt man nun zu dieser Leibesübung, besonders bei Gebildeten, die sich wenig bewegen und keine solche Arbeit verrichten, die ihnen einen gesunden Schlaf, einen beneidenswerten Appetit und eine heitere Laune verschaffen könnte, eine heitere Gemütsstimmung hiezu, wie sie in einer witzigen, launigen, offenherzigen und biedersinnigen Gesellschaft sich aller Teilnehmer bemeistert und aus ihren Zügen erkennbar ist, so glaube ich, daß ein solches gesellschaftliches Zusammenwirken bei den Reichen, ohne Heilmittel, Schlaflosigkeit und Magenschwäche zu heben im Stande wäre, und den Missmut und die üble Laune, von denen Gebildete gerade gequält werden, verscheuchen könnte.

§. 365.

Wo vergißt der Mensch überhaupt leichter seine moralischen und physischen Schmerzen, als in dem Zirkel treuherziger Freunde? Dort in jenen Gemächern, wo ihm Zärtlichkeit und Nachsicht entgegen treten, um ihn in ihre Arme zu nehmen, wo er frei und ungezwungen nur von der geselligen Freude umgeben, unbewacht seine Schritte lenket, wo er seine Gedanken und seine Gefühle von den Fesseln der Konvenienz befreit sieht. In dieser geselligen Runde verrauschen ihm die Abende wie Minuten, und er fürchtet keine andere Störung als die der Trennung. Wie kalt hingegen und schal erscheinen für den Gebildeten, mit echtem Gefühle begabt, jene Assembleen und geselligen Kreise, wo man mit Musik und Tanz und einer üppigen Tafel Alles geleistet zu haben glaubt, was der gesellige Mensch von dem geselligen Mitmenschen erwarten und sich versprechen darf.

O Himmel! wenn ich der frostigen Langenweile gedenke, die uns in vielen Gesellschaften mit ihrem bleiernen Zepter beherrscht!

Der Mensch edlerer Gesinnung sieht sich allein und verlassen und findet oft in einer Ecke einen einsam Trauernden, der mit ihm gleiche Leiden und Gesinnungen teilt. „Was aber befördert“, sagt Zimmermann, „die Tätigkeit des Gehirnes und Herzens mehr, als gerade die geselligen Kreise durch die hier wechselnden Leidenschaften?“ Was in dieser Beziehung das gesellschaftliche Leben für Geist, Gemüt und Körper zu leisten vermag, ist die Einsamkeit nimmer im Stande, und wären wir auch im Besitze aller Glücksgüter, sind wir mit uns selbst, oder mit unserer gewöhnlichen Umgebung zu Hause, wenn wir auch ein zufriedenes Leben führen, so ist dieses ein gleichförmiges Sein. Das Herz und das Gehirn erlahmen unter ihren täglichen Verrichtungen. „In der Gesellschaft“, sagt ein Diätetiker, „verwandelt sich aber der Ton des Herzens hundertfältig und harmonisch, wie der Ton der Musik in einer Oper.“ —

Ein jedes neue Gespräch verändert ihn, und die Gesellschaft müsste besonders schläfrig sein, wenn er nicht immer etwas lebhafter bleiben sollte, als wenn man mit sich allein ist.

Das Lachen kommt hiezu, welches nicht allein die Lungen stärker als das Reden rüttelt, und den größten Teil unserer Muskeln in Arbeit setzt, sondern auch den Unterleib erschüttert und die Verdauung der Speisen befördert. Doch sind die Gesellschaften auszunehmen, wo man ganze Abende oder halbe Nächte beim Kaffee-, Tee-, L’hombre- und Speisetisch zubringt, wo man einförmig, oder unter dem Wechsel lebensverkürzender Affekte und Leidenschaften sich selbst überredet, man wäre in Gesellschaft gewesen, allein wie zerstört und zerrüttet, oder wie geistes- und körpermatt mit einem üblen Humor betritt man, aus einem solchen geselligen Kreise heimkehrend, wieder sein Gemach, das man in der heitersten Gemütsstimmung verlassen hat.

§. 366.

Daher klagen auch viele in solchen Gesellschaften, wo eine unnatürliche gezwungene Geselligkeit und eine verlarvte Freude die Hauptrollen spielen, über Schlaf, Schwindel, Kopfschmerz, Seitenstechen usw. Da überfällt eine Dame eine Ohnmacht, dort sieht sich der junge Mann genötigt, schnell den Saal zu verlassen, um sich eine Übelkeit zu vertreiben; — doch alle diese Übelstände verschwinden oft schneller, als man glaubte, die Tanzmusik erschallt und wirkt hier oft Wunder, die kein Arzt jemals vermögen würde. Die Dame ist schon wach aus ihrer Ohnmacht und erwartet im Reigen mit ihrem Tänzer, daß der Tanz beginne. — Der junge Herr, dem es früher so übel geworden, sitzt wieder am Spieltische und mischt sich dann unter die Tanzenden, um zu zeigen, daß er sich ganz wohl befinde.

§. 367.

In allen Zeiten haben die Menschen leider die Geselligkeit nicht als eine Quelle der Gesundheit betrachtet, sie haben sie immer nach ihren Neigungen und Moden, nach ihren Launen und falschen Ansichten über gesellschaftliches Leben eingerichtet.

§. 368.

Die Gesellschaften, welche die Gesundheit nicht befördern, werden alle nach einem Plane eingerichtet, der sich sehr leicht entwerfen läßt. Sobald die Gesellschaft zusammen gekommen ist, wird Kaffee und Tee angeboten. Man seht sich um einen runden Tisch herum, in dessen Mitte ein kleiner Feuerofen glühet, auf welchem das kochende Wasser eine Menge wässeriger Dünste aufsteigen läßt, die sich mit dem Kohlendampfe vereinigen, welchen die Damen für gesund halten, wenn nur die Kohlen ausgebrannt sind, da er doch die Köpfe der ganzen Gesellschaft benebelt, daß alle Herren die Stirne reiben, und alle Damen in ihren Schnürleibern ersticken möchten.

§. 369.

Unter der Begünstigung dieses Qualms und Wassertrinkens werden die Fragen nach dem Befinden der kleinen Familie, die Urteile über die Witterung und die Begebenheiten der Stadt eiligst besprochen und Jedermann sehnt sich nach dem Spieltische.

Er wird gebracht, und die Gesellschaft pflanzt sich um ihn herum und wurzelt gleichsam auf ihren Stühlen ein. In dieser Stellung bleibt die Gesellschaft zwei, drei bis vier Stunden, nachdem es für vornehm gehalten wird, spät zu speisen.

Endlich wird zur Tafel gebeten, wo man ebenfalls zwei oder drei Stunden steif sitzt.

Zu einer so langen Mahlzeit und zu dem Genusse so vieler und mannigfacher Speisen ist in Wahrheit das Sitzen am Spieltische eine der allerschlechtesten Zubereitungen.

Die Last der Kleider, die natürliche Trägheit, welche die Verdauung der Mahlzeit begleitet, und die Länge der Zeit gestatten nicht, in einer Lage zu bleiben. Damen in ihren Schnürleibern kommt das Steifsitzen doppelt schwer an. Es muß also der Kopf, die Brust und der Magen viel erdulden in einem solchen geselligen Kreise, daher entstehen Ohnmachten, Schwindel, Engbrüstigkeit, Schlaflosigkeit, Magenschmerzen und alle Qualen der gestörten Verdauung. (Unzer.)

§. 370.

Da lobe ich mir aber die Gesellschaft in der freien Natur, in den Gärten an heitern Sommertagen und hellen Abenden. Da lobe ich mir die geselligen Kreise im Winter, die bei vielen Gebildeten statt finden, wo dem Kartenspiele, der Mahlzeit, die geringste Frist gewährt wird, hingegen Tanz, Musik, anmutige scherzhafte Reden, Singen, Lachen, in bunten Reigen die Stunden verkürzen und das Leben verlängern. Man scheidet in einer so angenehmen Stimmung aus einem solchen Kreise, wie man ihn betreten und freut sich den folgenden Tag, in der Erinnerung der verrauschten Stunden, in der Hoffnung, daß sie sich bald wieder erneuern mögen. Das geräuschvolle und doch leere gesellige Treiben erregt bei dem Menschen echter Bildung, bei Menschen, die Geist und Gemüt haben, Ekel und Widerwillen; wie wohl tut es hingegen in den Kreisen der Vornehmen zu sein, wo die Glückseligkeit eines Abendzirkels nicht in einem eitlen Schwalle von Ergötzlichkeiten der Sinne gesucht wird, wo sich nicht Menschen befinden, die ein folternder Visitentrieb den ganzen Tag hindurch ängstigt, die dann in diesen Zirkeln, wenn sie so glücklich sind, geladen zu sein, wie Puppen figurieren, und denen es anzusehen ist, daß sie achte Meister in der Kunst sind, Vernünftigen lange Weile zu machen.

§. 371.

Diese Menschen aber, die auch nicht gewöhnlich die gesündesten sind, halten das Visitenwesen für den Zweck ihres Lebens, sonst würden sie ja nicht nach solchen leeren Ergötzlichkeiten jagen, und doch haben sie von wahrer Glückseligkeit eigentlich keine Idee, — denn ihre Art, sich im geselligen Leben zu benehmen, ist höchst ungesellig: sie sehen den Horizont ihres Glückes nur mit lichten Rosenwolken beglänzt, und sie sind leider die ersten, deren Leben die trüben Schatten des Missmutes umnachten, den die Sucht nach Ergötzlichkeiten in ihnen erzeugt.

§. 372.

Der ruft vergeblich der Freude nach, der ihren Becher gierig ausleeret.

Ein Mensch, der alle Scheinfreuden des unnatürlich geselligen Lebens in Fülle genoss, wird am Körper und am Geiste schwach. Das Gedächtnis wird bei ihm in Stumpfsinn verwandelt. Die Einbildungskraft hat ihn nie in einem ausgezeichneten Grade beglückt. Statt Witze zu machen, bringt er Lappalien oder Zoten hervor, und er ist ganz bezeichnet, wenn man ihn mit dem Titel eines ausgedienten Lustigmachers belegt.

§. 373.

Ganz anders benimmt sich der Mann von Geist und edler Bildung; er ist die Blüte, die Zierde alles freieren geselligen Lebens; während ein gehaltloser Mensch in einer Gesellschaft das bleibt, was er ist, gewinnt der Gebildete nur immer mehr; denn der Umgang mit Menschen, die Welt und Ton haben, der Umgang mit fein gebildeten Frauen verleiht unserem Geiste Witz und Anmut, gibt unserem ganzen Wesen Biegsamkeit und unserem Körper jene edle Haltung, die den Menschen schon aus der Ferne erkennen läßt, dem das Glück zu Teil wurde, in gebildeten Zirkeln wichtige Erfahrungen einzusammeln. Auch sind die geselligen Zirkel für Menschen von Geist und Bildung oft die Anlässe zu großen Schöpfungen. In demselben Augenblicke, wo der Geistesarme in der Gesellschaft Sinnenlust atmet, überdenkt jener sein ganzes Sein, indem ihm gerade diese Stunden der geselligen Freude den Ernst des Lebens in seiner Seele wach rufen. Manchen großen Entschluß faßt ein tüchtiger Mensch oft unter den frohlockenden Tönen einer heitern Tanzmusik.

§. 374.

Der Gebildete führt eine Welt mit sich, mit der er sich beschäftiget, er lebt nie so sehr nach außen, wie der modern Kultivierte, bei dem Alles nur Form ist, der keinem Vergnügen Inhalt Kraft und Dauer verleiht. Zimmermann meint, bei Schwachköpfen sei Furcht vor sich selbst die Ursache dieses beständigen Strebens nach sinnlichen Vergnügungen. Alles wird ergriffen, was den heutigen Tag, den gegenwärtigen Augenblick erheitern kann, und dies muss immer etwas außer ihm sein, immer etwas anderes und neues, immer etwas, was ihn hindert, Hilfe zu suchen in sich selbst. Bist du empfindsam genug, jeden Tag und jede Stunde im Tage etwas ausfindig zu machen, was jenem die Zeit vertreibt, so bist du ihm ein guter Gesellschafter und sein bester Freund.

§. 375.

Solche Personen, die uns so zahlreich im Leben und in den geselligen Zirkeln begegnen, sind gewöhnlich auch Freunde der Unmäßigkeit, sie zittern für die Zukunft, wo der Taumel in Nichts zerstäubt; darum genießen sie die Gegenwart mit Herzenslust.

§. 376.

Ich glaube also durch diese Bemerkungen über das gesellige Leben in meinen Lesern die Überzeugung hervorgebracht zu haben, dass die Geselligkeit, wenn sie in den Schranken der Natürlichkeit und Ungebundenheit, der munteren Laune und biederen Offenherzigkeit, der herrschenden Sitte und der Mäßigkeit sich bewegt, eine nicht genug anzupreisende Quelle sei, das Leben auf eine heitere Weise zweckmäßig zu verjüngen; wenn sie aber die ihr hier bezeichnenden Grenzen überschreitet, oder gar auf Abwege gerät, eine wichtige Ursache vieler Krankheiten der gebildeten Stände werde, die in Schwindel, Kopfschmerzen, Magendrücken, Beängstigung, Herzklopfen, üble Laune oder Hypochondrie ausartet.

§. 377.

Mögen die hier enthaltenen Warnungen nicht klanglos verhallen, und meine geehrten Leser folgende Reflexionen sich wohl zu Gemüte führen:

„Wie hinfällig ist alles Glück, wie unerwartet schnell erbleichen die Blumen unserer Erdfreuden; wie schnell stehen die blühenden Gefilde unseres Lebens öde und leer, dürr und tot vor unseren tränenden Blicken. Wir breiten vergebens unsere Arme sehnsuchtsvoll aus, um die flatternden Freuden aufzuhalten – wir rufen vergebens eitle Klagen in die öde Leere hinaus. Darum müssen wir als Menschen im höheren Sinne des Wortes Freuden in uns und außerhalb uns pflanzen, und sie so zu genießen uns bestreben, damit sie uns im Frühling, wie im Sommer, im Spätsommer, wie im Winter unsere Tage das kurze Leben verschönern und verklären.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Krankheit der Reichen