Einleitung

Einleitung

§. 1.


Wem von meinen verehrten Lesern sollte es noch nicht geschehen sein, daß er abgespannt und ermattet von den Mühen des Tages, abgequält durch Kummer und Bedrängnis, oder angeekelt durch das ewige Einerlei seines vegetationsähnlichen Lebens, Alles liegen und stehen ließ und hinauseilte in Gottes freie Welt, wo Sonnenglanz, blauer Äther und buntes Wiesengrün sein Auge berauschte, wo jeder Luftzug einen seiner trüben Gedanken mit sich fortnahm in das Meer der Vergessenheit, und wo jeder wehende Blütenzweig, jede nickende Blume und jeder spiegelnde Tautropfen eine Feenwelt voll süßer Anschauungen in seinem Herzen erregte, und diese holdseligen Anregungen wie ein magisches Netz über alle seine Gefühle, Erinnerungen und Vorsätze ausbreitete. Der Trübe wurde heiter, er wußte selbst nicht wie; aller Ärger und Verdruß gaukelte fort wie die leichte Libelle; an die Stelle der bösen Gäste trat wohltätiger Frohsinn, weil sich das schöne Bild seiner reizenden Umgebung unvermerkt in seinem Innern abspiegelte, wie die heilige Lotosblume in den dunklen, raschbewegten Wogen des Ganges. Der Müde gewann neue Kraft, denn sein Auge erstarkte an der wunderbaren großen Szene, und sein Herz tauchte tief unter in die Wellen der Freude, wie Achilles in den Styr, um Kraft und Ausdauer für alles Neuankommende zu gewinnen. Und Jener endlich, den doch einmal die Scham über seine Untätigkeit ergriffen, der angewidert von seinem mechanischen Fortleben hinausstürzte in die freie Schöpfung: — er fühlt mit einem Male einen Aufschwung in sich, Tätigkeit fliegt durch sein Herz und seine Adern, und der Anblick der großen zaubervollen Werkstätte des blühenden Lebens erfüllt ihn mit Wünschen und Plänen, die ihn zum tätigen, kräftigen und nützlichen Menschen umbilden sollen.

§. 2.

Und woher all dieser wunderbare Trost, dieses neue Gemütsleben, diese Ermutigung und Anregung, die wie ein wohltätiger Genius niederschwebt zu den Darbenden und Verkümmernden? — Aus der ewig reinen Quelle der heiligen Natur. Sie ist die große überreiche Zauberin, die allen diesen Segen niederträufelt auf Jene, die vertrauensvoll zu ihr flüchten; sie ist das unermessliche, untrügerische Urwerk, der Bürge einer unsichtbaren, überschwänglichen Meister- und Gnadenhand; sie das sichtbare, alle Denkkraft und alle Bewunderung in Anspruch nehmende Zeichen einer unsichtbaren, ewigen Fürwaltung — und in ihren tausendfältig verschlungenen, oft scheinbar rätselhaft zusammenhängenden, aber doch immer wahren, klaren und unabänderbaren Verkettungen, Reihefolgen und Grundsätzen liegt das Vorbild des Menschenlebens und Glückes wie ein großes, schönes Geheimnis: wohl wert, daß sich ein jedes Menschenherz dem Argonautenzuge zu seiner Erforschung mit heiligem Eifer anschlösse.

§. 3.

Aber nicht bloß dem materiellen Genusse der Anschauung liegt das große Zauberbild der Natur vor. Er erquickt und erheitert wohl: aber beleben und begeistern kann sie nur den sinnigen Blick, das kundige Auge, das alle diese Schätze seiner Anschauungen mit dem emsigen Raupenfleiße hineinträgt in sein Herz und in seinen Geist, wo sie dann in Fäden der Gefühle, Beobachtungen, Urteile und Vorsätze ausgesponnen werden. — Wo hatte ein Jahrhundert in dieser Hinsicht so viel für sich, als das unsere? Der forschende Verstand ist allenthalben eingedrungen in die geheimsten Werkstätten der großen Meisterin; Ausdauer, Überzeugung und Scharfblick haben in Wahrheiten umgewandelt, was sonst nur in kühnen Hypothesen vorfindig war. Männer vom ausgezeichnetsten Verdienste haben die Ergebnisse ihrer edlen Forschungen zum Welteigentume gemacht; das nachwachsende Geschlecht trat, so zu sagen, immer auf die Schultern des Verschwundenen, und die Gegenwart hat ein reiches Erbe an Wissen und Erfahrung von der Vergangenheit übernommen, welches in seinen Schätzen noch immer erweitert wird. Die Einsicht und Kenntniß der Naturgesetze, Systeme, Stufenleitern und Wechselgänge ist allgemein, ja fast populär geworden: — und bei wem kann man sie billiger voraussetzen, als bei den reichen und gebildeten Ständen, denen diese Schrift zunächst gewidmet ist.

§. 4.

Diese Kenntniß, dieses Wissen ist es vorzüglich, an welches der Arzt appellieren muß; die Natur ist seine Gesetzgeberin, deren Willen sich jederzeit sein Streben, seine Absicht fügen muß: ist es dann eine allzu große Forderung von ihm, daß Jene, die seiner Hülfe bedürfen, auch einen tüchtigen Blick in das klare, heilige Buch der Natur werfen mögen, damit sie so die Quelle kennen lernen, aus welcher er zu ihrem Heile schöpft, — damit sie nach dieser Erkenntnis Zutrauen zu seinen Vorschlägen und Missbilligungen fassen, ihm vertrauen lernen und zugleich die Überzeugung gewinnen, daß keine Sorgfalt, Mühe und Forschung lohnender und beglückender ist, als jene, die dem allbelebenden heilbringenden Segensborne der Natur aus voller Seele zugewendet wurde; „denn wohin soll der Mensch sich wenden, wenn er außer der Schule der Ärzte und Diätetiker sichere Vorschriften zu einem gesunden und frohen Leben finden will? Wohin anders als an die Natur! denn diese war es, die dem Menschen Gesundheit und Leben bis ins späteste Alter erhielt, ehe es noch Ärzte und Diätetiker gab, die sie da erhält, wo diese noch nicht vorhanden sind, und die sie erhalten wird bei allen Metamorphosen, denen Heilkunde und Diätetik noch unterworfen sein werden.“

§. 5.

Der Mensch darf nicht leben wie eine Pflanze, das Leben ist ihm nicht gegeben, um es, wie der Geizige seinen Wucherschatz, voll Ängstlichkeit zu verwahren, ohne es zu genießen und anzuwenden. Unablässig treibt ihn sein Innerstes zum Wirken und Schaffen; laut ruft ihm die Welt rings um ihn zu, daß er genieße, und durch Genuß Kraft erwerbe zu Taten, die ihn zum Herrn der Erde erheben und ihn würdig machen, das Mittelglied zwischen dieser und einer höhern Welt abzugeben. Wie er dies vermöge, wie er sich an jeder Blume erquicke, an jeder Frucht sich labe, die an dem Pfade seines Erdenlebens blüht und reift, wie er mit allen seinen Kräften wirken und seine menschliche Sphäre ausfüllen möge bis an ihre äußerste Grenze, ohne sich Leiden und Hinfälligkeit an Körper und Geist zuzuziehen; wie vielmehr beide mitten in Genuß und Taten gedeihen, und an Wohlsein und Kraft wachsen können (Hartmann) — dieß sind die wichtigen Geheimnisse, deren Enthüllung sich nach einer einfachen besonnenen Rücksprache mit der Mutter Natur ergibt, und deren Lösung darin besteht, daß all unser Wirken, Streben, Wünschen und Begehren in der Natur ihr unabänderliches Vorbild erkenne.

§. 6.

Wo lebendige Maschinenkraft das vollenden soll, wozu berechnende Tätigkeit des Geistes unentbehrlich ist; wenn sich das Kind dessen unterwinden wollte, was nur der vollkommene Mann ausführen kann; — wenn der Hänfling das Lied erzwingen wollte, das nur in die Kehle der Nachtigall gelegt ist: was käme da wohl allenthalben zu Stande, als Misslungenes, Unvollkommenes und Lächerliches? weil die Natur jedem Streben eine eigene Stellung, einen eigentümlichen Bezirk angewiesen, den es ungeahndet nicht überschreiten soll. Von moralischer Seite betrachtet sehen wir solchem ungestatteten Versuche bald das Misslingen folgen; das Misslingen selbst aber ist Strafe in geistiger Hinsicht. Von physischer Seite rückt solchem Umherschweifen außer den beschiedenen Grenzen das Heer der üblen Folgen in Gestalt körperlicher Leiden, die mit ihren gespensterhaften Händen bald auch in die Harmonie des Gemütes greifen, auf dem Fuße nach; und wenn die allgütige Natur zuweilen auch milder und nachsichtsvoller mit der verdienten Strafe noch inne hält: so setzt der Mensch bei so vernunftwidrigem und selbstvergessenem Beginnen doch sein Köstlichstes auf das Spiel, oder verliert es wirklich — die Gesundheit.

§. 7.

Wie dem bescheidenen Muscheltiere, das still hinschifft durch das Wogenmeer der Welt, die Perle, die es im Gehäuse als einen unbewussten Schatz verwahrt, erst seinen Wert und seine bedeutende Stellung gibt in der großen Familie der Schalentiere: so erhält der Mensch, der die unschätzbare Perle der Gesundheit in sich trägt, erst durch diese die vollen Ansprüche seiner Weltbürgerlichkeit, das volle Anrecht zum Herrscher der Erde, die gesamte Kraft, seine guten und gedeihlichen Pläne ins Leben treten zu lassen. Sie glänzt wie ein Zauberdiamant hellleuchtend aus seinem Innern hervor, läßt ihre Strahlen hervorblitzen durch das lebendige Prisma seines Auges, die sich dann als Farbenreif der Schönheit über seinen ganzen Körper ergießen; feurig dringt ihr Schimmer in sein Herz, das er mit tausend edlen Gefühlen erfüllt und belebt, auf seiner Wange wohnt das Morgenrot eines guten Bewusstseins, in seinen Muskeln schlummert die Kraft wie ein Funke, der nur des entlockenden Stahles harrt, und über sein ganzes Wesen verbreitet sich die Anmut der Zufriedenheit und Heiterkeit.

§. 8.

Ein schönes Bild! und fürwahr, was noch mehr, ein wahres: — aber leider ein nur zu seltenes! Und doch sind wir fast alle berufen und ausgerüstet, seine Wirklichkeit an uns selbst in Erfüllung gehen zu lassen; und dieß wäre so leicht und mit so geringer Mühe, daß der aufmerksame Beobachter nicht genug darüber erstaunen kann: wie man doppelte Anstrengung und Beharrlichkeit darauf wenden kann, sich krank, hinfällig und unglücklich zu machen, wo man doch mit weit einfacherer Mühe, mit einem festen guten Vorsatze gesund, kräftig und glücklich bleiben kann. Es ist fast als ob mit der zunehmenden Bildung, mit der wachsenden Einsicht in das ewig regelmäßige scharfbegrenzte Getriebe und Geäder der Natur zugleich eine gewisse Absichtlichkeit mit der Generation groß wüchse, den Gegenweg der Natur einzuschlagen, da Sprünge zu wagen, wo ein ruhiges Fortschreiten unumgänglich notwendig ist, und diesen Ungehorsam gegen Schöpfung und Vernunft mit gefälligem Selbstbehagen bis auf einen Punkt zu treiben, wo leider oft alle Reue zu spät, alle Sorgfalt vergebens und nichts mehr erübrigt ist, als eine unendliche Sehnsucht, nach überstandener Gefahr das Leben naturgemäß fortzusetzen und die Gesundheit höher zu achten als bisher; — eine unendliche Sehnsucht nach dem gelobten Lande der Wünsche, mit welcher man aber meist noch vor den Grenzmarken desselben ein unverhofftes trauriges Ende findet. Und je verschwenderischer das Glück in Erteilung des schönsten Loses und der besten Ansprüche auf die Seligkeiten dieser Erde war, desto eigensinniger wirkt gewiß der Wille und der Leichtsinn, jene Maschine zu zerstören, auf deren tausendfach in einander greifenden Rädern Leiden und Freuden, Elend und Seligkeit ab- und aufgerollt werden können.

§. 9.

Fast hat diese letztausgesprochene Behauptung den Anschein, als ob hier ein übertriebenes Farbenkolorit aufgetragen worden sei: — aber ich wende mich aus der Theorie in das Leben der Wirklichkeit, und frage: ob irgend wo anders so viele gefährliche, komplizierte und absonderliche Krankheitsformen vorkommen, als eben in den reichen, gebildeten und vornehmen Ständen? obwohl diese Art von Personen in quantitativer Vergleichung mit den übrigen Erdebewohnern nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen. Der Landmann, der nach dem heiligen Spruche im Schweiße seines Angesichtes den Samen streut und verhundertfacht wieder einerntet, er lebt bei den schweren Mühen seiner ununterbrochenen Arbeit zufrieden und — gesund. Der vielfältig angestrengte Körper findet kaum hinlängliche Zeit zur Erquickung im Schlafe; die Nahrung ist einfach und mitunter nicht einmal reichlich genug; die Wohnung meistens so beschränkt, daß sie nur notdürftig auf einen Raumbegriff Anspruch machen kann; unter solchen Umständen wird Reinlichkeit mitunter sogar zur Unmöglichkeit; an Erquickung, Zerstreuung und Erlabung ist nicht zu denken, weil kaum die Notdürfte befriedigt werden können; die Spanne Zeit endlich, die zwischen harter Arbeit und kurzem Schlafe liegt, nehmen größtenteils Sorgen für Weib und Kind, Hof und Tenne fort: — und dennoch sind die Krankheiten, die wie ein Flammenregen über das Sodom und Gomorrha großer Städte niederschweben, für sie selbst ganz unbekannte Gäste — vielleicht bis auf den Namen, wenn nicht etwa ein trostloser Städter siech hinausgeschleppt worden in ihre niedern Hütten, um auf ihren Wiesen, in ihren Gärten, Wäldern und Feldern, oder wohl gar in ihren Ställen dem früh verlobten Schatze seiner Gesundheit nachzuspüren.

§. 10.

Steigen wir um eine Stufe weiter in das Gebiet der sogenannten arbeitenden Mittelklasse: noch immer sind die Krankheiten seltene Erscheinungen. Wir finden Familien, wo seit hundert Jahren die Großmutter wie die Enkelin der Wahrheit getreu berichtet, daß sie sich einer Erkrankung in ihrem Hause nicht zu erinnern wissen. Ihre Art von Tätigkeit, obwohl sie zugleich eine Sorglosigkeit um das unbewusste Glück der Gesundheit entwickelt, ist doch zugleich ein Schild gegen jedes feindliche Siechtum: jene Gattung Arbeiter etwa ausgenommen, die ihre Gesundheit der Menschheit zum Opfer bringen, und Kraft der eingenommenen Stellung mit Dingen verkehren, welche den Organismus ihres Körpers zerstören und ihr Leben verkürzen müssen. Aber wie wir einen Schritt näher thun an die vornehme Klasse, wie wir das Leben der Gelehrten, Künstler, Geschäftsmänner usw. betrachten, so stoßen wir bereits auf eine Reihe äußerer und innerer Übel, die Legion zu nennen ist, und ihr den Interessen der geistigen Menschheit gewidmetes Leben mit tückischer Feindeslist umlauern. Je höher uns das Leben auf die Stufen geistiger Entwicklung gestellt, je großmütiger es uns den Schatz seiner Genüsse frei gegeben hat, desto hartnäckiger scheint sich Leid und Tod herandrängen, und so die irdische Waage ins Gleichgewicht setzen zu wollen.

§. 11.

Wie es kommt, daß die Klasse der Reichen, Gebildeten und Vornehmen von Übeln umstellt ist, die für andere Individuen gar nicht vorhanden sind, darüber gäbe im weitesten Sinne schon Horazens Spruch: „daß der Blitz die höchsten Wipfel sucht,“ Aufschluss. — Betrachtet man die Sache mit aufmerksamem Auge, und ist unser Blick ganz partei- und rücksichtslos — der vor Allem dem denkenden Arzte eben so eigen als gestattet werden muß — so finden sich gar bald die veranlassenden Ursachen. Über ihr Leben ist so zu sagen das Füllhorn alles Glückes ausgegossen: dem Wunsche folgt die Befriedigung auf dem Fuße nach; sie brauchen keine Zeit dahin zu verwenden, um für Deckung der gegenwärtigen Bedürfnisse zu sorgen, oder den Lasten der nächsten Zukunft vorzubauen. Diese Zeit mithin ist schon ihrer beliebigen Verwendung, ihrem Vergnügen, ihrer Zerstreuung angewiesen. Lust und Freude aber verlieren ihren Reiz für den Körper und das Gemüt, wenn sie nicht in bunter Abwechslung erscheinen. Im Herbeiführen dieses Wechsels aber werden die meisten Missgriffe getan: da wird keine Zeit, keine persönliche Disposition, keine Witterung, kein Ort in Erwägung gezogen; der Wille, oder besser gesagt die Begierde ist die einzige Alleinherrscherin, der sich alle Umstände fügen müssen, weil Mittel und Wege genug vorhanden sind, jeden Plan ins Werk zu setzen. Endlich ermüdet selbst diese Abwechslung; in Kopf und Herzen tritt eine gewisse Leere ein, der abgeholfen werden soll. Da wird nun Alles in der Umgebung raffiniert: die Küche ist nicht gewürzt genug; das Dunenbette muß ausgewärmt werden; das Ausland hat feurigere Weine als der heimische Boden; der Spieltisch beschäftiget den Geist mehr als Freundschaft und Lektüre. Die Stelle sonstiger Tätigkeit nimmt behagliche Ruhe ein; der Fünfziger spielt in allen Dingen den jugendlichen kräftigen Herrn; der Jüngling affektiert die Lebensansichten eines Greises, — sein Körper bemüht sich dem Bilde nachzukommen; — Zwang gibt es keinen anderen, als den man sich etwa selbst anlegen wollte, und Jedermann weiß, wie nachsichtvoll und gütig in solchen Fallen ein durch seine Verhältnisse unabhängiges Individuum gegen sich selbst ist. Sollen und können unter diesen Verhältnissen körperliche und geistige Leiden zum Vorscheine kommen, die mit jenen der armen oder der erwerbenden Klasse eine Ähnlichkeit haben?

§. 12.

Müssen sie nicht zahlreicher und ganz verschieden von diesen erscheinen? — Erwägt man überdies die Reihe psychischer Veranlassungen, welche durch ihre Fortdauer, ihren Wechsel, ihre Heftigkeit, oder ihre Verheimlichung gleichweise notwendig Gemüts- und Körperleiden hervorrufen müssen, so begegnet man einem feinen Getriebe von Leidenschaften, womit die Mitwelt die höheren Stände entweder schlau umgarnt, oder die ihre Wurzeln selbst in den Herzen dieser durch das Glück höher gestellten Individuen haben, und deren Wachstum, wechselweise Bezüglichkeit und Verbreitung auf eine ganz andere Art zu Stande kommt und betrieben wird, als dieß bei den gewöhnlichen, leicht erkennbaren Leidenschaften niederer Stände der Fall ist.

§. 13.

Wie alle diese Verhältnisse ein Heer von Gefahren herbeiführen, die über dem Haupte der vornehmen Stande so lange unbeachtet schweben, bis sie drohend hereinbrechen und nun alle mögliche Sorgfalt aufrufen: so ist der erste und geringste Übelstand, den ihr Einfluß gewöhnlich auf das körperliche Wohlsein ausübt, derjenige, daß er Personen dieser Klasse in den Besitz einer sogenannten zärtlichen Gesundheit versetzt, d. h. einer solchen, die durch die geringsten gewöhnlichen, mehr oder minder unvermeidlichen Veränderungen, und selbst, wenn diese nicht im hohen Grade Statt finden, leicht in Unordnung gebracht wird. Solche zärtliche Personen befinden sich mitunter sehr wohl, sie sind aber nie sicher, ob dieses Wohlsein auch von Dauer sein wird, weil ihre Gesundheit zu sehr von fremden Zufällen abhängt. Diese Art des Befindens gleicht einer beständigen Sklaverei, wobei man sich jederzeit bemüßigt sieht, gegen sich selbst fortwährend auf der Hut zu sein, um alles Schädliche zu vermeiden, was man nicht einmal immer einzusehen im Stande ist. — Nun zur andern Seite dieser Lage. Wie leicht kommt bei solchen Individuen eine Krankheit vor; ein Zustand, wo die organischen Verrichtungen mit so weniger Regelmäßigkeit vor sich gehen, daß sie ohne eine eigentliche vorhandene Krankheit häufig in Unordnung geraten, ohne daß man eine Ursache anzugeben weiß, weil diese oft von so geringer Bedeutung war, daß sie im Verfolge gar nicht mehr entdeckt werden kann.

§. 14.

Bedenkt man diese Lage, welche unter allen hier vorkommenden bei weitem noch die erträglichste und geringfügigste ist: so wird man eingestehen, daß sie keineswegs beneidenswert, und wie gefährlich und bedrohend erst jede Folge ist, die sich oft in den wunderbarsten, hartnäckigsten und bösesten Formen einstellt. — Allen solchen Übelständen vorzubeugen, und die einmal vorhandenen glücklich zu besiegen, bietet das Los und die Stellung der Reichen und Vornehmen hinwieder Ressourcen dar, die dem Andrange jener Feinde die Spitze bieten, und die eingedrungenen überwältigen können. Betrachten wir diese Vorteile nur von physischer Seite, erinnern wir uns des heitern sorglosen Landaufenthaltes, der ihnen vor allen Andern beschieden ist, und ihrem Leben die heilsamste, zuträglichste Abwechslung gewährt; betrachten wir den Besuch heilvoller, wieder herstellender Bäder, der ihrer Stellung so leicht zugänglich ist, und von ihnen verhältnismäßig lange nicht mit solchen Opfern erkauft werden muß, wie von Andern, die nur auf dem Wege der Entbehrung zum Teiche Bethesda gelangen; erwägen wir ferner den anmutigen, Geist und Körper stärkenden Reiz und Wechsel der Reisen, wo fremde Länder mit allen ihren Merkwürdigkeiten an dem Auge, fremde Sitten, Gebräuche und Nationen an dem Gemüte, ich möchte sagen der ganze Markt des Lebens an dem inneren Gesichte vorüber geht: — übersehen wir alles dieß, diesen Wandel von Genuß und Stärkung, Belebung und Lust, — welch eine reiche Quelle, um aus ihr Ersatz für ein ewiges Einerlei, für ein verlorenes oder bedrohtes Glück — wie das der Gesundheit — zu schöpfen. Wie viel Nahrung liegt schon nicht hierin für den Geist, und wenden wir uns noch zu den übrigen Aisancen ihres Verhältnisses. Wem öffnet sich der beglückende Himmel der Ehe so schnell, so vielversprechend und so wolkenfrei? eine Seligkeit, tausend bunte Vergnügungen der Welt aufwiegend und durch stillgeheimen Zauber übertreffend; wen umkreisen die leichten Wellen eines feinen geselligen Lebens, wo sich Sitten und Anstand mit Witz und Wissen verbinden, und ziehen sein Herz ab von dem Treiben der eintönigen Alltäglichkeit? Wer kann sich dem Umgange mit Künsten und Wissenschaften so unbeirrt und ganz hingeben, und den süßen Honig dieser Himmelsblumen mit vollen Zügen aufsaugen? Durchaus Annehmlichkeiten, dazu geschaffen, als schöne Präservative, als Damm gegen die lauernden Feinde geistiger und körperlicher Krankheit zu dienen, und fühlt man sich von diesen erfaßt, mit ihrer Hilfe und unter Anleitung eines beobachtenden Arztes jedes Umsichgreifen zu verhindern und den angeschwollenen Strom des Lebens in seine übertretenen Ufer zurückzulenken.

§. 15.

Wenn meine redliche Absicht dahin ging, in den nachfolgenden Blättern einen Plan zu entwickeln, wie Personen des bezeichneten Ranges ähnlichen Unordnungen kräftig vorzubauen vermögen; wenn ich es zugleich versuchte, die gewöhnlichen Ursprungsquellen dieser Übelstände anzudeuten, und sonach zur genauen Beobachtung seiner selbst unter den mannigfachen, meist vorkommenden Verhältnissen aufzumuntern: so durfte ich diesmal keinen Augenblick vergessen, daß meine Schrift einem eigenen, unterschiedenen Publikum gewidmet sei, wo die Bearbeitung von einem ganz andern Gesichtspunkte ausgehen mußte, als bei gewöhnlichen diätetisch-populären Schriften, deren Empfehlungsbrief jederzeit an die große Masse gerichtet ist, bei welcher man unmöglich allenthalben das voraussetzen und finden kann, was man auf dem reich bebauten Felde des Gebildeten jederzeit antrifft.

§. 16.

Wenn also Manches, nur aphoristisch behandelt, der eigenen Ansicht und weitern Umbildung überlassen wurde, so geschah dieß gewiß nur in Fällen, wo das Wissen des medizinischen Laien zur Ergänzung hinreicht, um nach der vorliegenden Andeutung selbst zum richtigen Resultate zu gelangen; weiter aber war es die Absicht des Verfassers, auf diese Weise Raum für Gegenstände zu gewinnen, deren vollständige und durchgeführte Auseinandersetzung unumgänglich notwendig war.

§. 17.

Dem Auge des Arztes bietet sich die menschliche Natur allenthalben in ihrer eigentlichen Wahrheit, in ihrer ungeschminkten Blöße dar; er sieht Ursache und Folge, und den Zustand der Gegenwart, so wie sie ist, nicht wie sie oft umgedichtet werden möchte; sein Beruf ist es, dieser Wahrheit mit gleicher Wahrheit entgegen zu kommen, wie er sie aus seiner besten Überzeugung und aus seinem Bewußtsein schöpft: — man wird es daher wohl verzeihlich finden, daß seine Rede auch da, wo sie einen schöneren und feinfühlenderen Kreis betrifft, streng und unparteiisch lautet, und daß seine Feder sich nicht zu Schmeicheleien auf Kosten seiner Kunst und der Wahrheit herbeilassen konnte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Krankheit der Reichen