Die Mäßigkeit und ihr wohltätiger Einfluss auf Leben und Gesundheit

1. Die Mäßigkeit und ihr wohltätiger Einfluß auf Leben und Gesundheit.

Auf unserer Erde wird die Unmäßigkeit von dem Tode abgeordnet, das Geschäft des Alters zu verrichten.


Young.

§. 18.

Die Mäßigkeit ist der große Arzt, der die Gesundheit zu erhalten, das schwache Leben zu stärken und die Jugend und Schönheit zu bewahren versteht. Würden die Menschen diese ihre treueste Freundin, die innige Genossin der Natur, die einer hochstämmigen Eiche gleicht, deren frischgrünende Zweige Leben, Gesundheit und Seelenruhe sind, höher achten und treuherziger lieben, so gäbe es mehr Kraftvolle als Schwächlinge, mehr Gesunde als Kranke, mehr Hoffnungsreiche als Hoffnungslose, mehr Glückliche als Unglückliche. Aber Mäßigkeit müsste in allen sinnlichen und geistigen Genüssen nicht erfolglos ihr wohlmeinendes Wort führen.

§. 19.

Allein welch ein anderes trauriges Gemälde zeigt uns das praktische Leben; — die meisten Menschen verkürzen ihre Tage durch Unmäßigkeit.

Das Leben der Gebildeten gleicht einem Kreise von Hoffnungen, Wünschen, Neigungen nach psychischen und physischen Bedürfnissen. Die Natur, das Meisterwerk Gottes, bestrebt sich, so viel es in ihrer Macht steht, den wandelbaren Genüssen des Erdenbürgers Genüge zu leisten. Sie öffnet ihm die Pforten zu ihren großen Reichen, damit er wählen könne, was er bedarf, was seinen Sinnen behagt und sein Verstand für gut findet. Aber mit Maß und Ziel befiehlt sie zu genießen, mit Mäßigkeit warnt sie liebevoll die Menschen, ihre naturgemäßen Bedürfnisse zu befriedigen. Allein die Menschen schwelgen, anstatt zu genießen, und der langsam tötende Schlaf der Sättigung bemeistert sich ihres ganzen Wesens. Anstatt sich im Besitze so vieler Mittel, wie hier die Natur liebevoll und reich spendet, ein heiteres und gesundes Leben zu gestalten, bereiten sich die meisten Menschen, durch Unmäßigkeit verleitet, ein kummervolles und sieches. Traurige Erfahrungen, leider, machen sie erst geneigt für die goldenen Lehren der Mäßigkeit, wofür doch alle Menschen gleich empfänglich aus der Hand des Schöpfers kamen.

§. 20.

Wenn man im Kreise der gewöhnlichen Bedürfnisse alles verkostet hat, wenn man in unserer nächsten Sphäre nichts Neues, nichts Fesselndes mehr findet, so wird man traurig, misslaunig, einsilbig, kränklich und geistesschwach. Unsere Launen sind dann die Herren, und wir ihre Knechte.

§. 21.

Armer Sterblicher, wie teuer bezahlst du deine Scheinfreuden! Bald stehst du einsam und verlassen, ein Fremder im Hause der Natur, ihr rosiges Brautkleid dünkt dich ein Totengewand, der schmelzende Ton ihrer Nachtigallen tönt dir wie ein Grabgesang. Frühlinge kommen, der deine ist längst verblüht; Morgensonnen gehen heiter auf, die deine ist längst untergegangen. Dich erquicken die stärkenden Gaben der wohltätigen Natur nicht, der heilige Schlaf zieht an dir vorüber, ein traumvolles Wachen fesselt deine Sinne. Das behagliche Gefühl des Hungers und Durstes erquickt dich nicht. Geistige und körperliche Leiden umnachten den Horizont deiner Tage, denn du hast den Freudenkelch des Lebens zu rasch geleert, und dein Geist, dein Gemüt und dein Körper sind übersättigt. Diese Siechheit des Körpers, dieser peinvolle Zustand des Gemütes und diese Leere des Geistes finden ihre vorzüglichste Quelle in der Unmäßigkeit, mit der die Menschen ihre naturgemäßen Bedürfnisse befriedigen.

§. 22.

Sollte also Mäßigkeit nicht etwas Wünschenswertes, nicht etwas Heilbringendes sein? Sollte sie, das einzige Arkanum, das Jedem erreichbar, nicht von allen Menschen erwünscht und erstrebt werden, da sie die höchsten Güter der Erde, Leben und Gesundheit zu erhalten vermag. Gesundheit! lichter Genius, von allen Menschen geliebt, von keinem gehaßt, und doch so oft gekränkt und beleidigt, verkannt in deinen Forderungen und deinen Wünschen, und dies aus keinem anderen Grunde, als weil dich Viele nicht zu fassen vermögen. Nur dein Besitz macht den Glücklichen — glücklich in der Liebe, Freundschaft oder Ehe. Du umschwebst den Armen, und er dünkt sich reich, wenn du seine kleine Hütte mit deinem Rosenglanze verklärst; — selten weilst du dort, wo hohe lichte Räume, die das Getümmel der Freude durchwogt, dich zu empfangen bereit stehen — Gesundheit! frommer Gedanke im Morgengebete der Mutter, die an der Wiege des Säuglings kniet, du durchziehst die ahnungsvolle Brust des Mannes, wenn er im Schoße seiner Familie die schönsten Stunden des Lebens feiert; dich ruft der Greis, dem noch die Hoffnung weniger irdischen Tage zur Seite weilt. — Und doch, heißersehnter, vielgeliebter Genius des Lebens, wie selten lernen die Menschen dich ganz schätzen, welche herbe Prüfungen erwecken in ihnen erst die Überzeugung, daß Gesundheit jener Zustand des Körpers sei, wo alle Verrichtungen und Tätigkeiten der Organe und Systeme, die sein Gebäude ausmachen, ihrem natürlichen Zwecke entsprechen?

§. 23.

Gesundheit ist also der vollkommenste Normalgrad des organisch-tierischen Lebens. Darauf können wenig Sterbliche Anspruch machen.

§. 24.

Denn mit Schwächen ausgerüstet begrüßen wir das Licht der Welt, entweder verkümmert unser werdendes Sein eine skrophulöse oder gichtische Körperbeschaffenheit, eine Anlage zu Lungen- oder zu Nervenleiden. Betrachten wir die verkehrte unvernünftige Erziehung, die modernen Lebensarten, die physische Behandlung usw., so dürfen wir uns nicht wundern, daß wir nicht den vollkommensten Grad der Gesundheit besitzen, und können uns glücklich schätzen, einen gewissen mittlern Grad der Gesundheit zu haben, der uns, wenn wir ein ordnungsvolles, mäßiges, vernünftiges Leben führen, ein höheres, unserer Bestimmung entsprechendes Lebensziel verbürgt.

§. 25.

Wären die meisten Menschen treuere Freunde einer gesundheitsförderlichen Lebensordnung, die in einer zweckvollen, menschenwürdigen Befriedigung der naturgemäßen Bedürfnisse besteht: so würden sie selbst die Anlagen zu Krankheiten, mit denen sie begabt sind, vermindern und schwächen, ihr Leben würde nicht eine Beute schmerzenreicher Leiden werden, und ein hohes und erfreuliches Alter, als die Krone ihrer verlebten Tage, würde ihre Silberlocken zieren. Die Tendenz einer vernünftigen Lebensordnung müsste herrliche Grundsätze aus dem reichen Schachte der Mäßigkeit zu Tage fördern, die aus nichts anderem bestünden, als aus der naturgemäßen Befriedigung des physischen Menschen mit Bezugnahme auf unschädliche und zusagende Gewohnheiten in Rücksicht seines Verlangens nach Kleidung, Nahrung, Bewegung, Schlaf usw.; dabei muß man aber nicht außer Acht lassen, daß der physische Mensch ein Diener des geistigen und moralischen Menschen ist, und daß alle drei einen Körper bewohnen. Keiner werde in seinen Rechten verkürzt. Es herrsche unter diesen Freunden die vollkommenste Harmonie, denn ist diese gefährdet, so verarmen sie in ihrem eigenen Palast, und die unschätzbaren Güter, Leben und Gesundheit, sind für sie verloren.

§. 26.

Von diesen allgemeinen Betrachtungen über die wohltätigen Folgen der Mäßigkeit und jene nachteiligen der Unmäßigkeit, wende ich mich zu den einzelnen Bedürfnissen des Menschen, die ich mit Berücksichtigung der Verhältnisse gebildeter Stände zu erörtern beginne, indem sich hier einige Differenzen kund geben, welche die Entstehungsanlässe zu den Übeln der Reichen und zugleich die moralischen und physischen Heilmittel, jene im Keime zu besiegen, am leichtesten entwickeln und am anschaulichsten hervortreten lassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Krankheit der Reichen