Die Künste u. Wissenschaften in ihrem Einflusse auf den moralischen Menschen

1. Die Künste und Wissenschaften in ihrem Einflusse auf den moralischen und physischen Menschen.

§. 347.


Ich habe bisher, so viel es in der Tendenz dieser Schrift liegen konnte, den Menschen der Bedürfnisse vor den Augen meiner Leser entwickelt; was materieller Genuß, Befriedigung und die hiemit korrespondierenden Zustände des Organismus betrifft, mußte vorausgesendet werden, um nach solcher Auseinandersetzung und Verständigung zu einer Betrachtung über den höheren Menschen übergehen zu können. — Der Bach, der durch die Wiesen rollt, wie ist er von doppelter, gar verschiedener Bestimmung: er scheint sein Wasser hin zu schäumen, als geschehe es nur darum, daß er im Lenze den Anger überschwellend befeuchte, oder daß er seine Wellen der nächsten Brotmühle in ihr Triebwerk hineinbrause und so den Nutzen und die Arbeit des Eigentümers befördere;— aber daran denken wohl wenige, daß derselbe Wiesenbach hell und kristallrein in seinen Fluten den ganzen Himmel über sich und die schöne Schöpfung um sich abspiegele, daß er diese Zauberlandschaft doppelt dem Blicke vorzuführen und zu einem treuen und begeisternden Abbildner aller dieser Herrlichkeit bestimmt sei. So der Mensch; wie all sein materielles Treiben und Streben dem eng umgrenzten Zwecke der Selbsterhaltung zugewendet, die großen, unleugbaren Wunder, die eine höhere Hand in ihm sichtbar gemacht, nur ahnen läßt: so ist sein höheres Wirken und Schaffen, der unermessliche Bezirk seiner geistigen Sphäre — ein wunderbarer herrlicher Beweis der Gottheit, die sich in ihm offenbart und ihn zum Herrscher dieser Erde und zum sinnigen Beobachter der gesamten Schöpfung berufen hat.

§. 348.

Und dieser höhere edlere Teil im Menschen, dessen erster und letzter Zweck in der bestmöglichsten Ausbildung und Annäherung an das große Bild der Vollkommenheit besteht, ist es, welchen sich der Verfasser in gegenwärtiger Abteilung vorliegender Schrift zur näheren Beleuchtung und Erörterung gewählt hat, in so fern die Absicht seines Werkes, nämlich die Beförderung des körperlichen Wohlseins und die Verhütung und Bekämpfung vorkommender Krankheiten, nicht nur die physischen Einflüsse, sondern vorzüglich auch die geistigen als hauptsächliche Mittel der Verhinderung und Begünstigung dieses Strebens erwiesen hat. Auch in dieser Hinsicht gewährt die Lage der reichen und vornehmen Stände, wie bereits in der Einleitung bemerkt worden, Subsidien, welche die günstigsten Resultate herbeizuführen geeignet sind.

§. 349.

Wer beglückt durch eine solche ausgezeichnete Stellung im Leben den Weg seiner geistigen Fortbildung auf der Bahn der Wissenschaften einschlägt, darf wohl nie befürchten, mit jenen Gefahren und üblen Folgen kämpfen zu müssen, welche den Unbemittelten oft mitten in diesem edlen ruhmwürdigen Bestreben ereilen. Denn dieser, unbekannt mit jenen Vorteilen, die eine verbürgte, sichere Existenz gewährt, schlägt die lange Pilgerschaft der Wissenschaft meist deshalb ein, um durch sie endlich zur heiligen Stätte eines kummerfreien oder minder sorgenvollen Lebens zu gelangen; für ihn wird doppelte Anstrengung zur Notwendigkeit, weil er mit der Zeit haushalten muß, seine geistige Anstrengung zehrt aber seine Körperkraft auf, welcher er in seiner beschränkten Lage keinen Ersatz zu bieten vermag, — der Geist wird unter solchen Umständen gedrückt und niedergebeugt — oder wenigstens minder willig zu seinen ununterbrochen wiederkehrenden Funktionen, welche oft die längste Zeit hindurch nicht der geringste Erfolg im Leben krönen will.

§. 350.

Wie anders gestaltet sich dieser ganze geistige Verkehr bei dem Wohlhabenden, Er ist an keine Zeit gefesselt und gebunden! wie in Mahoms Paradiese dem eintretenden Seligen die Peri's den Becher der Wonne kredenzen, so treten ihm die Wissenschaften, leichtgeschürzte rosige Jungfrauen entgegen, von deren Lippen er den Kuss der Kenntnisse pflücken kann; und was unter Lust und Freudigkeit gewonnen worden, prägt sich, wenn es anders geistiger Natur ist, der Seele bleibender ein, als das, wobei Entbehrung und Kummer unser Gefährte war. Für ihn existiert in der Wissenschaft, der sich sein Geist zugewendet, nicht allein der tote Buchstabe, den sich der Bedürftigere durch den eigenen Gedankenverkehr drehen und wenden muß, bis er zum lebendigen, verständlichen Worte wird; auch dieser Weg ist ihm verkürzt und erleichtert; denn die Schöpfer des geistigen Materials, die kundigsten und gelehrtesten Zeitgenossen sind bei ihm, um ihn, oder ihm so leicht zugänglich und erreichbar, daß sich für ihn in ihrem Munde das Wort zum Leben umwandelt und von ihm als solches, als eine klar aufgefasste Idee in die Schatzkammer seiner Seele, als schönes, unentreißbares Eigentum niedergelegt werden kann.

§. 351.

Betrachtet man endlich den Ursprung und Endzweck eines solchen wissenschaftlichen Strebens bei den Reichen und Vornehmen näher, so findet man, daß ähnliche Bemühungen meist das Resultat eigener Wahl und Neigung sind, daß hier kein, von fremder Seite eingreifender Zwang obwaltet, der den widerstrebenden Geist oft mit Macht dahin leiten will, wo dieser den geringsten entsprechenden Anklang, die wenigste Nahrung für sich findet. Eigener Vorsatz, selbstbestimmte Tätigkeit und Zeiteinteilung führen hier, wenn auch oft langsamer, doch meistens sicherer zum erwünschten Ziele, d. h. zur Aneignung und Ausbildung. Wie aber wird das auf solchem Wege Gewonnene verarbeitet und angewendet. Hat es gleich Anfangs seinen bestimmten Zweck, um dessen Willen es begonnen und fortgetrieben worden? — Keinen andern, als den, wenn es errungen worden, zur innern bildenden Zierde des Verstandes und Gemütes zu dienen, in geistreichen Gesprächen erneuert, ergänzt, bereichert, oder an Andere erteilt zu werden, bei dem wahrhaft Gebildeten nie mit der Absicht zu glänzen, sondern mit dem Wunsche, sich auszusprechen, wechselseitig zu verständigen, mit den großen Anforderungen unserer Tage möglichst gleichen Schritt zu halten, und mit der schönen Absicht, diesen bereits vorhandenen geistigen Besitz gleichsam zur Grundlage immer noch neu herbei zu schaffender Materiale zu benutzen, damit die Beute des Geistes einen gehörigen ansehnlichen Umfang erreichen möge.

§. 352.

Es zeigt sich hier die zweckmäßigste Gelegenheit, zu den Vorteilen überzugehen, welche das gesellige und konversationelle Leben, wie es die vornehmen Stände genießen, darbietet.

Eines Teils entfaltet sich hier in einem anständigen, unter den freundlichsten Verhältnissen versammelten Zirkel, in Gestalt interessanter Gespräche, die Erfahrungskunde des Lebens und des Wissens; kein Zweig, keine Art bleibt da unerwähnt und unerörtert; wo sich der wechselseitige Ideenaustausch auf Gegenstände der gewöhnlichen Welt oder auf die sogenannten Interessen des Tages wendet, werden diese meistens aus einem schönern, ich möchte fast sagen aus einem erhabeneren Gesichtspunkte betrachtet, und es findet sich keine Spur von jenem gewöhnlichen Beisatz von Missgunst, Neid oder egoistischer Berücksichtigung des eigenen Vorteils. Alles ist gewählter, eleganter und harmonierender, als in jenen, meistens öffentlichen Orten, die sich der minder Begünstigte zum Salon seiner Zerstreuung, Erholung oder Geselligkeit ausersehen muß. Zielt der Zweck der Versammlung unter solchen Personen bloß auf Unterhaltung, wie anmutig, wie reich belebt und den mannigfaltigsten Anforderungen entsprechend kann diese veranstaltet werden. Des Lebens Freuden sind ihnen gleichsam mit Vorzug beschieden, und an ihnen allein liegt es, den süßen Schaum dieses Wonnebechers mit behaglicher Vorsicht und Harmlosigkeit abzunippen, ohne von dem Taumel eines Übergenusses oder der Leere einer Übersättigung erfaßt zu werden.

§. 353.

Ist nicht der Wechsel allein, der in allen üblichen Attributen geselliger Unterhaltung beobachtet und beabsichtigt wird, hinlänglich, das Gemüt heiter aufzuregen und der Seele Kraft und Ausdauer für Ernsteres und Würdigeres zu gewinnen. — Freilich, wo das Leben keinen andern Endzweck hätte, als fortwährend Lustbarkeiten und rasch sich verdrängenden Vergnügungen nachzujagen, und nur hierin Befriedigung und Genuß — endlich aber auch Ekel und Überdruss zu finden: -— da sänke es freilich so tief herab, wie etwa eine Jungfrau, die nur in dem Flitterstaat der Mode, womit sie ihren Leib auf Kosten der Wahrheit und Natur zu schmücken bemüht ist, den Zweck und das Interesse ihrer schönsten Jahre zu finden glaubt, bis sie endlich gealtert und durch herbe Erfahrungen belehrt, zu der Einsicht gekommen ist, daß sie ihre Blütezeit edler und bester hätte verwenden sollen.

§. 354.

Gehen wir in das Reich der Künste über, welche reiche, schöne Ausbeute erwartet da Jenen, der begünstigt durch die Glücksgüter dieser Welt ihre große Tempelpforte betritt. Er schreitet hinein mit jener unveränderten Sicherheit, der er sich in seinem Boudoir oder in seinem Garten überlassen kann; er braucht nicht erst, bevor er ihre Schwelle berührte, einen Trunk aus dem Lethe zu tun, wie der minder Glückliche, der vorher erst die Lasten des Tages, die Sorgen seines Lebens sich für ein Paar Stunden zu vergessen bemühen muß.

§. 355.

Teilt man diejenigen, die sich mit Künsten befassen, ein, so wird sich eine Klasse der Empfänglichen und eine der Schaffenden ergeben. Unstreitig werden die Reichen und Vornehmen größtenteils mehr der erstgenannten angehören, aber wie viel ist schon dadurch für die Veredlung des Gemütes, für die innere Harmonie gewonnen— abgesehen davon, welcher Vorteil so für Förderung und Gedeihen der Kunst erwächst.

§. 356.

Noch sind die Mäcenaten und Medicäer nicht zum leeren Sprichwort herabgesunken; Empfänglichkeit und edler Gönnersinn für alles Schöne und Gute im deutschen Vaterlande sichert der Kunst ihre besten Fortschritte, und den Herzen, welche so edel einwirken, das schönste Bewußtsein. Alle diese Blumen, bereit, gepflückt und zum herrlichen Strauße zu werden, blühen auf der Bahn der Reichen. Hier lächelt ihm Musik und bewirbt sich um seinen Beifall und seine Teilnahme; sie, die bald unter der herrlichen Gestalt einer heiligen Cäcilia die Schauer der Andacht und Ehrfurcht in sein feurig bewegtes Herz gießt, bald als reizende Euterpe alle Melodien der Lust, des Entzückens, der Liebe und der Sehnsucht an seinem freudigen Gemüte in bunten Reihen und ewiger Beweglichkeit vorüberziehen läßt.

§. 357.

Jetzt nahet ihm die Poesie, die stillen Saiten seiner Gefühle mit ihren Rosenfingern zu berühren. Die ernste Clio, wie die ewig wechselnde, heiter bewegliche Tochter Jovis, die Phantasie muß ihr dienen, an seinem Herzen die Miniaturbilder einer ganzen Welt, die Tatenernte der Vorzeit, verwebt mit dem stillen Enthusiasmus einer Dichterbrust, vorbeigehen und sein Auge bald in Tränen erglänzen, bald in Begeisterungsflammen auflodern zu lassen.

Religion, Vaterland, Leben und Natur streicht auf dem Fittiche erhabener Ideen an seiner entzückten Seele vorüber, die aus dem Bereiche der materiellen Existenz keinen trüben Ballast in sich aufgenommen hat, der nun den edlen Schwung und Flug des Geistes erschweren oder verhindern könnte.

§. 358.

Alles, was er liest, fühlt, denkt, hört oder sieht, wird zu seinem unumschränkten Eigentume, wird so zu sagen ein Teil seines bessern Ich, das durch die Bereicherung Anlaß zu tausend schönen Bestrebungen und zum Eindringen in das innerste Heiligtum des Kunsttempels findet. Nun erscheint die Malerei und rollt ihren bunten Bilderteppich vor seinem entzückten Auge aus einander. Jeder Pinselzug, ein interessantes begeistertes Studium der Natur, dieser ewig unerschöpflichen reichen Quelle aller Schönheit und Wahrheit, jeder Gedanke ein glücklicher Versuch, das Erhabene und wahrhaft Reizende, sei es nun den Armen der Vergangenheit abzuringen, der Gegenwart abzulauschen, oder das Selbstgeprägte oder Geschaffene dauernd für Mit- und Nachwelt aufzustellen; — jede Linie ein Zeugnis edler Künstlersehnsucht, das Hohe zu erreichen, wie es mit seinen himmlischen Farben dem begeisterten Auge der Seele vorgeschwebt, jede Contour ein Beweis der unergründlichen geistigen Prometheuskraft des Menschen, der mit seinem Fuße in der Trümmerwelt versunkener Städte herum zu wandeln vermag, indes sein inneres Auge die Embryone künftiger Erden in dem Sternenzelte nachzuweisen strebt.

§. 359.

Alle diese Reichtümer sind dem Blicke, der Teilnahme und den Bestrebungen jener willig freigestellt, denen diese Blätter zunächst gewidmet sind. Für sie vor allem scheint die reizende Mythe von den holdseligen neun Jungfrauen, den Musen, erschaffen, welche freundlich und heiter das Haupt des Verehrers mit Kränzen schmücken — indes sie sich nur unwillig zu jenem Dienste hergeben, der die Bedürfnisse der materiellen Existenz sicher stellen oder erkämpfen muß. Und tritt nun der Wohlhabende selbst in die Reihen der schaffenden Künstler, wie leicht ist es für ihn, wenn anders wahrer Beruf und tüchtiger Wille in ihm liegt, etwas Ausgezeichnetes zu leisten: für ihn, der keine sogenannte, merkantilische Konkurrenz zu befürchten und mit keinen Anlässen zu kriegen hat, welche den Weg zum Parnasse zur doppelt steilen, oft unzugänglichen Bahn machen.

§. 360.

Welchen heilsamen und förderlichen Einfluß muß unter diesen Umständen der Umgang mit Künsten und Wissenschaft ten auf das Gemüt der vornehmen Stände ausüben; wie muß unter diesen annehmlichen Auspicien innere Harmonie und bestes Einvernehmen zwischen den Organen geistiger Fähigkeit und Empfänglichkeit und zwischen jenen der Tätigkeit erzielt und hergestellt werden, welche sich in ihrer wohltätigen Wirksamkeit gleichfalls auf den ganzen physischen Organismus erstreckt, und hierin eben jenes Ebenmaß und jene Übereinstimmung hervorruft, welche zur Begründung einer dauernden Gesundheit als erstes und vorzüglichstes Befestigungsmittel anzusehen ist, und welches von den Personen der reichen und vornehmen Stände mit so geringer Mühe errungen werden kann, daß es in dieser Hinsicht einem schönen Eilande zu vergleichen wäre, wohin wir auf dem nächsten Nachen oder mit der geringsten Schwimmfertigkeit gelangen könnten, wenn uns nicht ein falscher Begriff von Ruhe und behaglicher Sicherheit an das Ufer des Alltagslebens festgebannt hielte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Krankheit der Reichen