Die Behandlung der Neugeborenen und die Erziehung der Jugend bei Kultivierten

4. Die Behandlung der Neugebornen und die Erziehung der Jugend bei den Kultivierten. Missgriffe und Fehler in derselben, mit Bezugnahme auf die Ausbildung und Entwicklung der geistigen und körperlichen Kräfte in ihrem Verhältnisse zu Krankheits-Veranlassungen und Krankheiten betrachtet.

Das Schicksal des neugebornen Menschen hängt ganz allein von der Mutterliebe ab.


Hartmann.

§. 393.

Mutter und Säugling hat die Natur in eine zu innige Beziehung gesetzt, als daß mit der Trennung des letzteren aus ihrem Schoße zur naturgemäßen Frist auch das Los des neuen Weltbürgers so sicher gestellt wäre, daß er nicht an demselben Busen, wo er so lange geruhet, noch ferner die Quelle seines Gedeihens und Fortblühens finden sollte.

§. 394.

Ein Blick auf die uns untergeordnete Tierwelt belehrt uns schon, daß das menschliche Geschöpf, der Erbe der Vernunft, an dem mütterlichen Busen seine erste Nahrung zu suchen habe, und sie auch dort finden solle.

§. 395.

Ohne Mutterliebe ist das Kind, gehöre es auch einem Krösus an, eine arme verlassene Waise. — Und genösse es auch den Schlummer in einer Wiege mit Gold und Perlen verziert, auf den feinsten Leinen von weichen Flaumen umfangen, beschäftigten sich um ihn eine Schar von Anverwandten, Ammen, Dienern und Dienerinnen : — ohne Mutterliebe ist es eine arme Waise, die mit dem Säugling einer Bettlerin, die, obwohl sie sich selbst karge Nahrung nur erwirbt, ihre besten Säfte mit ihm teilt, nicht zu vergleichen ist.

§. 396.

Die Natur hat die Muttermilch für die neuen Weltbürger bestimmt, weil:

a) Dem Kinde nur jene Nahrung behagen kann, und es nur bei der gedeihen wird, an die es sich im Mutterschoße gewöhnte, da es von allen äußern Einflüssen, als Licht, Luft und Wärme auf eine unfreundliche Weise affiziert wird, deswegen seine ersten Laute Klagetöne sind, — um so viel mehr von einer fremden Nahrung, an die es nicht gewöhnt ist.

§. 397.

b) Weil die Mutter nach dem Akte der Geburt im Besitze der Nahrung ist, die das Kleine verlangt, und wenn sie sich dieser edelsten Pflicht einer Mutter entgeht, über sich und über den Neugebornen ein Heer von qualenreichen Leiden verhängt.

§. 398.

c) Weil Mutter und Säugling sich beim Selbststillen recht wohl befinden, ausgenommen, es streitet bei der ersteren eine ausgesprochene Anlage zu Lungenleiden oder anderen Krankheiten dagegen, in welchem Falle es beiden Teilen nicht zuträglich wäre.

§. 399.

Obgleich glänzende, aufmunternde Beispiele erlauchter Mütter aufzuweisen sind, die um das Wohl ihrer Säuglinge nicht minder, als nm ihr eigenes besorgt, ihnen die von der Natur bestimmte erste und milde Nahrung angedeihen lassen, so haben doch diese edlen Pflichterfüllungen noch nicht allseitig entsprechende Erfolge, wie es zu erwarten gewesen wäre, unter dem größeren Teile gebildeter Mütter ins Leben gerufen.

§. 400.

„Daß kränkliche, abgezehrte, nervenschwache Frauen,“ sagt H a r t m a n n, „sich vom Selbststillen befreien, ist nicht allein sehr verzeihlich, sondern meistens eine traurige Notwendigkeit; daß aber gesunde Frauen aus bloßer Bequemlichkeit, Gefallsucht und Üppigkeit ihrem Kinde die Brust entziehen, die ganz allein von der Natur für dieses gebildet und mit Milch angefüllt ist; das ist ein Verbrechen gegen die heiligsten Gesetze der Natur, ein Schimpf für die Menschheit, und der grellste Beweis einer Ertötung der ersten Menschengefühle und einer gänzlichen Entartung des Menschenstammes.“

§. 401.

Wird aber der Säugling der Muttermilch beraubt, so fehlt ihm

a) die leicht verdauliche Milch, die sein Magen und seine schwachen Gedärme vertragen können; — das Kindspech, das durch diese Nahrung zugleich auf die leichteste und einfachste Weise ausgeführt wird, sammelt sich entweder an, und erzeugt Schmerzen und Krämpfe, oder die beliebten Laxirfläschchen übernehmen die Rolle der Muttermilch und treiben es heraus, dann

§. 402.

b) kann die Ammenmilch die Muttermilch nie ersetzen, und sie erzeugt wegen des bald lockern, bald geringern Zusammenhanges ihrer Bestandteile Koliken, Diarrhöen usw.

c) Wird ihm aber weder Mutter- noch Ammenmilch gereicht, sondern wird er mit einem Mehlbrei genährt, so schreit der Säugling nicht weniger wegen Magen- und Leibschmerzen, als wenn man ihn mit Ammenmilch beehren würde, aber auch für die Zukunft wird jetzt in ihm die Grundlage zu vielen Krankheiten gelegt. „Schlimm sind“, sagt der gelehrte Zimmermann, „bei Kindern der Reichen, die vorzüglich dazu bestimmt zu sein scheinen, daß sie mit fremder Milch oder Brei genährt werden, die Folgen des letzteren. — Ich weiß sehr wohl, daß der Brei viele Millionen Kinder sehr wohl nährt, aber er hat auch schon viele hunderttausend getötet. Mehrere bekommen Verstopfungen, das Brechen, das beständige Bauchgrimmen, den Durchfall, die unter meinen Augen die Kinder plötzlich fast erdrosselnde Halsstarre und alle Gattungen konvulsivischer Anfälle, welche alle Ärzte in allen Ländern sehen, beschreiben und bejammern. Woher kommt es hauptsächlich, daß unter 25000 Toten in London jährlich 8000 Kinder sich befinden, die an Konvulsionen sterben, als eben von der überflüssigen Nahrung, mit welcher man den Magen und die Gedärme der Kinder verkittet.“

§. 403.

Die Fehler, die ferner in der ersten Behandlung der Neugebornen vorzüglich gebildeter Stände begangen werden, bestehen, um sie kurz, wie ich es dem Zwecke meiner Schrift angemessen halte, zu bezeichnen:

1. In dem festen Zusammenbinden, des ganzen Körpers, ganz besonders aber der Hände und Füße mit feinen Leinen und bunten Bändern;

2. in der übermäßigen Wärme, die man den Kleinen für dringend notwendig hält;

3. in dem Schaukeln in der Wiege oder auf den Händen, um sie zu besänftigen, und

4. in dem Gebrauche und Missbrauche betäubender Mittel, um sie in Schlaf zu bringen.

§. 404.

Nun wende ich meine Blicke auf die Erziehung in den gebildeten Ständen, wozu ich wohl erst keine Vorschriften zu erteilen brauche, da sie sich in so vielen vortrefflichen Werken gesammelt finden, sondern wobei ich nur einiger Hauptfehler gedenken und einige wohlgemeinte diätetisch-moralische Ratschläge erteilen will.

§. 405.

Nur der verfeinerte Mensch genießt das Glück der Erziehung, aber wie teuer muß er jene Gunst des Schicksals oft bezahlen, indem gerade er, dem man eine vielseitige Bildung zu erteilen strebt, oft sehr einseitig erzogen wird. Bald verwenden die Erzieher ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Körper und nur zum Teil auf die geistigen Anlagen und Fähigkeiten; bald richten sie auf diese ihren vollen Einfluß, berücksichtigen den Körper als einen unterworfenen Sklaven, der sich sein Los selbst bereiten soll.

Das jugendliche Alter mit vollem Rechte und tiefer Bedeutung seines Inhalts, die Blüte, der Mai unseres Lebens genannt, ist eine gefahrvolle und sturmbewegte Periode unserer irdischen Pilgerfahrt. Das Erwachen der heftigen Naturtriebe, ihr reges Verlangen nach Befriedigung, die Ebbe und Flut jugendlicher Leidenschaften, die vermehrten Tätigkeiten in allen organischen Gebilden und Systemen machen diese Bahn zur gefährlichsten, die der Mensch im Leben wandelt. Rechnet man noch hinzu die ererbten Krankheitsanlagen, die Fehler und Mängel der moralischen und physischen Erziehung: so dürfte die Behauptung obiger Wahrheit als gegründet betrachtet werden.

§. 406.

Die geistigen und physischen Kräfte des männlichen Organismus erleiden eine desto sicherere und schnellere Niederlage, je mehr derselbe von der vollkommenen Entwicklung ferne ist; das heißt, je mehr die Natur in der fortschreitenden Bildung begriffen ist, und je mehr schwächende Ursachen von außen und innen diesem Zwecke entgegen arbeiten, den die Natur in ihrem großen Wirken beabsichtigt. Wenn dieses mit voller Gewißheit von dem rosigen Sein der Jugend behauptet werden darf, so gilt von dem Mannesalter, daß es als das Bild der vollkommen entwickelten Geistes- und Körperbildung, durch seine energischen Lebenskräfte einen festeren Schirm in sich findet, gegen viele, wenn auch nicht gegen alle schädlichen Außendinge.

§. 407.

Wie verkehrt, wie wandelbar ist das menschliche Geschlecht geworden! Man erkrankt jetzt aus Laune, Unmäßigkeit in der Befriedigung der Naturtriebe aus einer unzweckmäßigen Behaglichkeit und Ruhe, oder aus forcierter Körperbewegung. Selten setzt der Zufall dem Schwerleidenden den Grabstein, Eigensinn und eine mohamedanische Sinneshuldigung in allen ihren Formen zimmern uns den Sarg.

§. 408.

Alle diese Übelstände finden ihre erste Quelle in einer nach modernen oder verkehrten Ansichten geleiteten Erziehung. Der ganze Erziehungsplan, den man heut zu Tage bei der Jugend beiderlei Geschlechtes in höhern Ständen einschlägt, beabsichtigt Trägheit und Weichlichkeit bei ihnen zu erzeugen. Unser Jahrhundert ist das Säkulum der Sinnlichkeit. Daher welken auch die meisten Jünglinge in der Blüte hin, wenige erreichen, ohne ihre Gesundheit gestört zu sehen, die Periode der Frucht, oder des glücklichen Mannesalters, sie werden Greise, ehe ihnen die Ernte ihren Lohn sendet.

§. 409.

„Das“, sagt der treffliche C a r n a r o, „sind unsere Jünglinge, die zu Männern reifen. Man sehe sie, wenn sie 30, wenn sie 40 Jahre gelebt haben, da, wo bei dem unverdorbenen Menschen die Ausbildung des Geistes und des Körpers einer Blume gleich ist, die sich so eben ganz in ihrer Schönheit entfaltet hat, ach, was sind jene dann? — Nichts anders, als was sich von einem Menschen vermuten läßt, dessen Kräfte des Geistes und des Körpers im Abnehmen, dessen Leben im Untergange begriffen ist.“

§. 410.

Gegen und nach dem 40sten Jahre fühlt der unverdorbene gesunde Mensch erst die Wohltat und den Wert seines Lebens recht; seine Tätigkeit ist dann am stärksten, die Bande, die ihn an die menschliche Gesellschaft knüpfen, sind ihm dann erst heilig und lieb, und der Genuß der reinsten und edelsten Erdenfreuden, die aus eigener Nützlichkeit, aus kräftiger Mitwirkung zum Wohl der Welt entspringen, treten dann erst ein, dann eigentlich geht um diese Zeit der Mittag des Lebens an.

§. 411.

Jene Schatten von Menschen haben keinen Morgen, Mittag und Abend des Lebens, eine traurig finstere Nacht ist der Inhalt ihrer ganzen Laufbahn.

Die Kinder der verfeinerten Menschen werden viel zu früh mit abstrakten Dingen zur Ausbildung ihrer geistigen Fähigkeiten überhäuft, man sucht so schnell als möglich die schlummernden Verstandeskräfte durch alle Torturen der modernen Erziehung aufzuregen, indem gebildete Menschen immer in der Furcht leben, ihre Kinder werden zu spät klug, und sie können den Zeitpunkt nicht erwarten, wo sie mit ihnen in gesellschaftlichen Zirkeln hervortreten dürfen. — Was geschieht nun? Man ist tätig beschäftigt, den Verstand und die Phantasie zu erwecken und zu bilden, und vergißt, daß man eben dadurch einen unglücklichen Menschen macht, da die rege gewordene Einbildungskraft alle übrigen Geisteskräfte überflügelt, und man hat einen Phantasten statt eines verständigen Menschen gebildet.

§. 412.

Dieser erste Fehler in der Entwicklung geistiger Anlagen und Fähigkeiten hat unberechenbare Folgen für den physischen, so wie für den moralischen Menschen.

Aber mögen Reiche nur immerhin wohl überlegen, daß, wenn die Kinder der Landleute und der Bürger, so wie überhaupt aus den mittleren Ständen, ausgezeichnete Körperkräfte besitzen, und frühzeitiges Anstrengen ihrer Seelenkräfte ohne Nachteil für ihre Gesundheit ertragen, so liegt hievon der Grund in einem festen Körperbau, in stärkeren Muskeln und kräftigeren Nervengebilden, indessen der schwächliche Körperbau der Kinder der Vornehmen Vorsicht gebietet, und diese um so mehr zu beobachten ist, wenn sich an einem kindlichen oder jugendlichen Organismus eine ausgesprochene Krankheitsanlage zeigt.

§. 413.

In dieser Hinsicht werden die Kinder der Reichen, bevor die festen Teile des Körpers ihre hinlängliche Stärke erlangt haben, und die Füße den Knochenbau zu tragen im Stande sind, im Laufen geübt; man schickt sie noch lallend in die Schule, und so werden sie zur schnellen Reife des Alters angetrieben. Indessen wird die Seele empfindlicher und reizbarer (wenn sie nicht träge und abgestumpft dahin stirbt), der Körper für Krankheiten empfänglicher gemacht, und wenn noch überdies Diätfehler hinzukommen, eine Anlage zu Nervenkrankheiten hervorgebracht, die vorzüglich unter gebildeten Leuten so häufig sind.

§. 414.

Ehe ich diese Reflexionen beende, gedenke ich noch einige Winke über die Bildung des Geschmackes in der ersten Erziehung zu geben.

Der physische Mensch wird vernachlässigt und in seiner vollkommenen Entwicklung gehemmt, indem die Lebenskräfte zur Ausbildung des Geistigen verschwendet werden, und die Folgen sind Schwäche einzelner Teile, skrophulöse oder phthitische Anlagen, erhöhte Reizbarkeit und ausgezeichnete Empfindlichkeit für äußere und innere Einflüsse, Wankelmut und Unbeständigkeit im Handeln, unmäßiger Hang nach Befriedigung verderblicher Leidenschaften, und wie alle diese Anwartschaften heißen mögen, womit der modern gebildete Mensch die Welt betritt, in der er nun selbstständig fortleben soll.

§. 415.

Viel zu wenig berücksichtigen Gebildete die Leitung des Geschmackes im edleren Sinne des Wortes. Nichts würde die Menschen in den Besitz einer heitern Seelenstimmung, die das Resultat einer beglückenden Zufriedenheit wäre, und einer festen Gesundheit setzen, als die echte Bildung des Geschmackes, wozu die Reichen die Mittel besitzen.

Der Geschmack oder die charakteristische Richtung eines Menschen, sich für das Zuträgliche zu entscheiden und von dem Gegenteile sich wegzuwenden, gibt einen großen Vorteil im praktischen Leben. (Unzer.)

§. 416.

Eine Fertigkeit in dieser Erkenntnis macht uns zum Herrn über unsere Neigungen, Triebe und Leidenschaften, und wem ist eine solche Herrschaft zuträglicher, für wen ist sie heilbringender, als für den Gebildeten und Vornehmen, der ohnedies ein Spielball der Leidenschaften und Affekte ist oder werden soll.

Nicht nur beim physischen, wenn ich die mannigfachen Genüsse, die ihn locken, betrachte, sondern auch beim moralischen Menschen ist Charakterstärke, die er sich von Jugend auf zu erwerben wußte, von großer Entscheidung.

§. 417.

Welcher Vater, welcher Lehrer der Jugend ließ sich wohl einfallen, die Beförderung eines guten Geschmackes für eine der vornehmsten Regeln bei der Erziehung und Unterweisung der Jugend zu halten? Wird nicht ein Jüngling für vollkommen genug gehalten, der einige Sprachen versteht, ein System der Philosophie durchgedacht, oder auch nur auswendig gelernt, und eine Brotwissenschaft sich angeeignet hat?

Wer glaubt wohl, daß man einem Kinde den guten Geschmack eben so, wie das Lesen und Schreiben beibringen müsse, und daß er eine notwendigere Eigenschaft für die Kinder der Reichen sei, als Tanz und Musik, die mau nur diejenigen lehren sollte, die Talent dazu besitzen.

§. 418.

Die falsche Geschmacksbildung macht uns krank und unglücklich; daher gibt es so viele kränkelnde, mit sich selbst unzufriedene Menschen dort, wo man sie am wenigsten zu finden glaubt.

So sind die Krankheiten der Gebildeten größtenteils Produkte ihrer Neigungen und Triebe, die sie zu Scheinfreuden verleiten.

Wer also den Geschmack eines Jünglings gehörig kultiviert, oder den auf Abwege irre geleiteten zurückführt, auf die heitere Bahn der Wahrheit, der reicht ihm zugleich den Schlüssel zum Tempel Hygieas, und macht aus ihm nicht nur einen gesunden, sondern auch einen glücklichen Menschen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Krankheit der Reichen