Betrachtungen über die Hypochondrie

8. Betrachtungen über die Hypochondrie und ihren Einfluß auf das geistige und körperliche Wohlsein.

Ein reines Herz, ein Herz voll Ruhe,
Kann uns die Gottheit nur verleih'n.
Was ihre Huld für uns auch tue.
Der Mensch soll selbst, er soll allein.
Der Schöpfer seiner Seelenruhe,
Der Schöpfer seines Glückes sein.


Tiedge

§. 307.

Unter den Tantalusqualen des menschlichen Geschlechtes behauptet die Hypochondrie einen bedeutenden Rang. Unter den lebensverkürzenden Seelenstimmungen reichen wir diesem qualvollen Leiden die Krone.

Dieses Leiden ist doppelten Ursprungs; diese Krankheit tritt entweder als ein Kind der finstern Phantasie auf, die immerwährend eine Reihe nächtlich trüber Bilder vor die Seele führt, oder sie ist das Resultat der geschwächten Verdauungsorgane, welche Schwäche aus einer krankhaften Umstimmung der Nerven entspringt, die die Organe der Verdauung begrenzen.

Auch bei dieser zweiten Form der Hypochondrie ist der geistige und Gemütsmensch so wie der physische erkrankt; allein eine zweckmäßige Diät, eine veränderte Lebensweise und einige einfache Heilmittel heben die Hypochondrie aus dieser Quelle oft schneller als man glauben sollte.

§. 308.

Die erstere Form der Hypochondrie, die ihren Ursprung einem tiefwurzelnden Seelenleiden verdankt, bietet oft auch einer mit allem Wissen und aller Sorgfalt eingeleiteten Behandlung Trotz; sie verlässt ihre Opfer erst, bis das von Leiden gepresste Herz nicht mehr schlägt.

§. 309.

Es sollte unerklärbar scheinen, daß das männliche Geschlecht, als Repräsentant der Stärke und Größe, der Entschlossenheit und Kraftentwickelung, einer Schwäche des Gemütes anheimfällt, die aus einem tiefen Seelenschmerze ihre ersten Keime zog, und um die zu besiegen, ihm Energie und Resignation mangeln.

§. 310.

Der Hypochonder steht allein und verlassen auf Gottes schöner Erde, und hat sein Leiden einen hohen Grad erreicht, so geht er in seinem selbstsüchtigen Wahne so weit, daß er das Blau des Himmels, das Gold der Sonne, das Silber des Mondes, das Grün der Wiesen und das Rot der Blumenkönigin in seine nächtlichen Schatten kleiden möchte. Er wünscht nicht, wie die allgewaltige Liebe der ganzen Menschheit, ein Herz, um alle Menschen an sich zu ziehen, und für alle zu empfinden. Das Leben ist für ihn ein Leichenzug, dem er ernst und stille folgt; er legt die Freunde, die ihm gestorben, allein in den Sarg, er singt ihnen allein das Totenlied nach, er hält Wache bei ihnen und befindet sich überhaupt nur auf Kirchhöfen wohl. In einem solchen Falle tritt die Hypochondrie mit der Melancholie auf, deren Zwillingsschwester sie genannt zu werden verdient.

§. 311.

Man sieht auf den ersten Blick ein, daß es zur Heilung dieser Form von Hypochondrie unumgänglich notwendig ist, Herr seiner Leidenschaften und krankhaften Gefühle zu werden. Wo findet man aber diese Menschen? In welchem Eldorado der Erde leben sie, die so viel moralische Kraft besitzen, die sie zur erquickenden Einsicht leite: alle ihre Leiden seien phantastische Gebilde, schweren Träumen vergleichbar, die uns auch beim ersten Erwachen Angst und Besorgnis für die Zukunft einflößen.

§. 312.

Die verkehrte Erziehung mit ihren schlimmen Folgen hat Tausende und abermals Tausende um den lachenden Mai ihrer Jugend, um den fruchtbringenden Sommer ihres Mannesalters, um den freudenreichen Herbst und um den genussvollen ernsten Winter ihres Lebens gebracht. Die verkehrte Erziehung macht, daß wir auf dem Schauplatze des Lebens so vielen Halbmenschen begegnen und so viele Kunstgreise sehen.

§. 313.

Man unterscheidet, sagt Richter, zwei verschiedene Greise schlecht von einander, nämlich die Naturgreise, die in jedem elenden Dorfe und unter Bettlern zu haben sind, und die Kunstgreise, welche nur unter jungen Leuten von Stand und Vermögen zu finden sind, und die sich mit großen Kosten hohes Alter, wie Pocken, schon in den besten Jahren einimpfen, nur um von demselben später gar nicht geplagt zu werden, sondern im Leben fortwährend eine gleich traurige Figur zu machen.

§. 314.

Solche Kunstgreise sind im Stande, im 25sten Jahre alle Beweise eines ehrwürdigen Alters zu führen. Brillen, bleiche Farben, kahle Häupter und krummgeschlossene Rücken, dergleichen die nötigen Jahre von Dickleibigkeit, bis zu Hämorrhoiden, und überhaupt, heiße papinische Maschinen ihrer selbst vorstellen, so daß sie Gästen als jene feinen Zwischengerichte à la Galantine aufzutragen sind, welche aus Geflügel bestehen, das man von allen Knochen gesäubert hat. Die alten Kunstgreise erweisen aber ihr Alter nicht bloß mit dem Körper, was leicht ist, da man bloß Schwächen aufzuzeigen braucht, sondern auch, mit dem Geiste. Denn brüstet sich der gewöhnliche Greis mit Erfahrungen, so hat der Kunstnestor noch weit mehr, und zwar die allergefährlichsten gemacht. Aus dieser Abnützung und aus diesem Verbrauche der edelsten geistigen und physischen Kräfte entsteht bei solchen Menschen jener beklagenswerte Seelenzustand, wovon ein Teil unter dem Namen Hypochondrie bekannt ist.

§. 315.

Die verkehrte Erziehung, wie ich erwähnte, betrachte ich als eine ferne, aber als die erste Quelle der Hypochondrie; denn in der frühesten Kindheit wird schon oft der Keim zu diesem Leiden gelegt, der so in der Jugend entwickelt, im männlichen Alter seine tötenden Früchte trägt. Würde man bei der ersten Erziehung unsere physische Körperbeschaffenheit im Einklange mit unserem Temperamente, und diese beiden in ihrer Beziehung zu unserem Talente und unsern Neigungen berücksichtigen, und diese Momente zusammen als Basis unserer geistigen und körperlichen Entwicklung und Ausbildung betrachten: so gäbe es mehr Glückliche als Unglückliche, mehr Starke als Schwache, mehr Frohe als Traurige. Es gäbe, behaupte ich, mehr Gesunde als Kranke in gewissen Ständen, und wir würden auf diese einfache Weise die Grenzen des Lebens erweitern und die des Todes immer mehr und mehr einmarken. In Bezug auf das Temperament, das man berücksichtigen sollte, um der Hypochondrie vorzubeugen, bemerke ich: Man sieht oft Jünglinge und Jungfrauen mit melancholischem oder melancholisch-phlegmatischem Temperamente, die sich immer in ihren häuslichen Verhältnissen von den andern Gliedern der Familie und selbst von den Eltern abzusondern trachten und sich gerne einsam beschäftigen. In Gesellschaften suchen sie sich gewöhnlich wieder gleichgesinnte Genossen auf. Wo man ein solches Streben zur Einsamkeit bemerkt, muß man doppelte Sorgfalt auf die Erziehung richten, die jedoch weder in Pedanterie, noch in sklavische Tyrannei ausarten darf.

§. 316.

Wie selten, und wenn es geschieht, wie verkehrt werden die wohlgemeinten Ratschläge der Pädagogen in der alltäglichen modernen Erziehung benützt. Fahrlässigkeit und Gleichgültigkeit, schwankende Meinungen und verkehrte Ansichten, die die meisten Menschen von der Erhaltung und Bewahrung ihrer physischen und geistigen Gesundheit haben, bewerkstelligen diese Zwittererziehung, wo man nicht weiß, was sie eigentlich damit beabsichtigten; denn einige Eltern tragen sehnsuchtsvoll den Wunsch in ihren Herzen, dem jungen Weltbürger die karg gemessenen Stunden zu verlängern; doch suchen sie die Mittel hiezu nicht in der Goldgrube der Erfahrung, nicht in dem Hause der Natur und nicht in den Zaubergärten der Vernunft. Die Menschen erlernen alle Künste, von der eitlen Tanzkunst bis zur Kochkunst: aber die Kunst, gesunde, starke und vorurteilsfreie Menschen zu erziehen, lernen Wenige nur.

§. 317.

Den meisten Eltern begegnet die echte Weise im Gewande der Wahrheit gekleidet, wie sie ihre Kinder hätten erziehen sollen, meistens erst auf den ernsten Fluren des Friedhofes. Der Sarg eines hoffnungsvollen Jünglings oder einer liebevoll entschlummerten Jungfrau wird oft der Predigerstuhl, von wo aus sie die Stimmen der Wahrheit und der heiligen Vernunft, ihrer steten Gefährtin, vernehmen.

§. 318.

Die Ursachen der üblen Folgen der heutigen Erziehung sind:

a) Die schwankenden Begriffe vieler Menschen über den Zweck, den sie durch die Erziehung bei einem jungen Menschen zu erreichen sich ängstlich abmühen.

b) Die Flachheit und Einseitigkeit bei der Wahl der Mittel, die sie als die passendsten zur Erreichung ihres Zweckes wählen, und

c) die Hintansetzung und Vernachlässigung der Winke der Natur, die sie wohl beachten sollten.

§. 319.

Eine andere Quelle, aus der die Hypochondrie entsteht, ist der Hang zur Einsamkeit, der, wie ich schon erwähnte, in frühesten Jahren bei Knaben und Mädchen, bei Jünglingen und Jungfrauen sich auf eine auffallende Weise äußert. „Einsamkeit ist eine Lage der Seele, in der sie sich ihren eigenen Vorstellungen überlässt. Im Genusse wirklicher Absonderung und großer Stille, oder auch nur durch Wegwendung der Gedanken von dem, was uns umgibt, sind wir einsam.“ (Zimmermann.)

§. 320.

Kein Mensch würde die Einsamkeit verwinden und dulden, wenn er sich nicht die Hoffnung einer künftigen Gesellschaft oder jetzigen unsichtbaren machte. Gesellschaft treibt das Alltagsrad, das seine Funken nur an fremden Stößen gibt. Aber Einsamkeit zieht sich am besten über die erhabene Seele, wie ein öder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter befreundeten Bildern und Träumen symmetrischer, als unter ungleichartigen Nutzanwendungen. (Jean Paul.)

§. 321.

Wenn ich hier von Einsamkeit rede, so meine ich jene Verhältnisse, in die ein von Traurigkeit und tiefem Kummer darnieder gebeugter Mensch sich begibt, um die schmerzliche Erinnerung an gegenwärtige oder vergangene Leiden zu mildern.

Ich wünsche auch namentlich jene Lebensweise bezeichnet zu wissen, die Gelehrte und Künstler wählen, um das Gold der Wissenschaften reichlich an den Tag zu fördern.

In allen diesen Arten der Einsamkeit werden die Grenzen überschritten; den lichten Mittelweg schlagen die Wenigsten ein.

§. 322.

Der Mensch ist zur Geselligkeit, in der edelsten Bedeutung des Wortes, bestimmt, doch muß man ja nicht Geselligkeit mit Lebensgenuss verwechseln; man kann mit edlen Freunden gesellig sein unter mannigfaltigen Formen, ohne deswegen in den sinnlichen Genuß des Lebens die Haupttendenz und Bestimmung des Menschen setzen zu wollen. Überhaupt muß man den Menschen der Bedürfnisse von dem höhern Menschen wohl unterscheiden, die Grenzmarken, die beide Gebiete trennen, verleihen einem Jeden seinen Wert und seine Stellung in der moralischen, so wie in der physischen Welt. Der Hang zur Einsamkeit war bei den Griechen und Römern vorherrschend.

§. 323.

P. Scipio, dem Ehre und Ruhm unverwelkbare Lorbeerkränze um die Stirne wanden, floh die Welt, und zog sich in den friedlichen Hafen der Einsamkeit zurück. Bücher schrieb er hier nicht, wie Zimmermann berichtet, aber er wog Roms Schicksale im Stillen ab, und sagte: „Ich bin niemals weniger allein, als wenn ich allein bin.“ Als er den Gipfel der menschlich erreichbaren Größe erklimmte, zog er sein Landhaus Liternum in einem Walde dem ewig großen Rom vor, und endete in einförmiger Ruhe sein tatenreiches Leben.

§. 324.

Horaz dichtete seine unsterblichen Gesange auf seinem öden Tibur.

Cicero suchte seine Welt und Rom wieder auf seinem einsamen Tusculum zu finden.

§. 325.

„Kaiser Diocletian, als er fünf und zwanzig Jahre auf dem Throne gesessen, entschloß sich denselben zu verlassen. Bücher konnten ihn nicht zum Philosophen machen; er war ununterbrochen glücklich in seiner Regierung, alle seine Feinde waren überwunden, alle seine Absichten erreicht, und geliebt von seinen Völkern. Er war nur 59 Jahre alt, aber kränklich, dies machte ihm die Erfüllung seiner Pflichten schwer, und brachte ihn auf den Entschluß, den Überrest seiner Tage in gelehrter Ruhe zuzubringen, seinen Ruhm nicht mehr dem Glücke zu überlassen, und jüngern und tätigern Gehilfen sein Reich. Er begab sich von der Stadt Nikomedien nach Salona in Dalmatien, welchen Ort er sich selbst wählte, um in ungestörter harmloser Einsamkeit das Ziel seines Lebens zu erreichen.“

§. 326.

Den größten Trieb, das geräuschvolle Leben mit dem ernsten und stillen Selbstgenusse zu vertauschen, fühlen Menschen, deren Stirne die Wolken der Hypochondrie umnachten. Denn dieser qualvolle Zustand bringt es mit sich, daß man unfähig wird, an den Zerstreuungen Anderer innigen Anteil zu nehmen.

Dieser Zustand der Hypochondristen, der leider sehr oft von der nächsten Umgebung und häufig auch von Ärzten missverstanden wird, gleicht er nicht einem Dorne, einem glühenden Dolche, den der Unglückliche in seinem Busen trägt? Er mag sich auf dem rauschenden Balle oder im Theater befinden, dieser Dämon steigt aus der Tiefe empor und zerstört ihm die Gunst und den Genuß des Augenblickes.

§. 327.

Wie schief beurteilen aber Viele ihre Mitmenschen, die von so manchen Schlägen des Schicksals darnieder gebeugt in die Einsamkeit flüchten, um sich und die verlorne Ruhe im Schoße der Künste und Wissenschaften wieder zu finden.

Wer das Licht der Vernunft eingesogen, wem sich die Wahrheit genähert und wer es in seinem Innern fest beschlossen, den Freuden in Theatern und auf Tanzsälen nicht überall nachzujagen, den bezeichnet die Masse mit dem Worte: „menschenscheu“.

§. 328.

Wie glücklich und wie ruhmvoll ist aber das Leben eines großen und würdigen Gelehrten. Seine Geisteskräfte regen das Triebwerk seines Seins an, wenn sie erlahmen, ist der Inhalt und der Wert, der Glanz und die Fülle seines Lebens verschwunden.

§. 329.

Ein Gelehrter im echten Sinne des Wortes, den eine Summe großer Lebenserfahrungen zu dem Tempel der Wissenschaften beruft, wird den Hang zur Einsamkeit nicht bis zur Leidenschaft steigern; denn sein Wirkungskreis ist ein Hafen für menschliches Wissen und Forschen. „Er ist“, wie Zimmermann richtig bemerkt, „als Kapital aller Kenntnisse zu betrachten, die unter dem gebildeten Teile des Menschengeschlechtes im Umlaufe sind.“ Ein solcher Gelehrter ist niemals mürrisch, wie viele Altergelehrte. Er ist glücklich in sich selbst, und entzieht sich deswegen dem geräuschvollen Treiben; doch bleibt er ein Freund der Natur. War es das Unglück, das ihn in die feierlichen Räume der ernsten Einsamkeit führte, so wird er Trost und Beruhigung in dem kummerlosen Stillleben finden.

§. 330.

Es gibt aber auch viele Gelehrte, die die Geselligkeit eigensinnig fliehen und der Einsamkeit auf ihrer Studierstube pedantisch huldigen. Diese werden, wenn sie einige Jahre ein solches Leben fortführen, Hypochondristen, die unheilbar sind. Treten diese Menschen aus ihrer Studierstube in die konversationelle Welt, so müssen sie sich Gewalt antun, um nicht überall ausgelacht zu werden. Ihre Lebensweise schadet nicht nur ihrem Gesundheitswohle, sondern ihren Lebensinteressen, indem sie es selten vermögen, sich persönliches Wohlgefallen zu erwerben, und in den Unterhaltungen bei einflussreichen Männern anstatt Welt und Ton zu zeigen, die Rollen der launenhaften Pedanten spielen. Diese Fehler entstehen aus Mangel an Menschen- und Weltkenntnissen; denn die vier Wände der Studierstube sind nicht die Begrenzungen der Welt, und in allen Büchern steht, nicht alles, was große Männer gedacht haben. Daher wird die Selbstbildung in der Studierstube durch Lektüre und Nachdenken empfangen. Fortgesetzt und vollendet wird sie durch den Umgang mit Menschen, durch Bekanntschaft mit ihren Gesinnungen, mit ihren Vorurteilen, mit ihrer Weisheit und Torheit.

§. 331.

Wen das Große, Edle und Schöne erhebt und begeistert, wer es in irgend einer Kunst zu realisieren sucht, er sei Dichter oder Maler, Tonsetzer oder Bildhauer, der deswegen mit Wenigen nur Umgang hat, weil er mit jenen himmlischen Genien verbrüdert lebt, den bezeichnet die Masse mit dem Worte: „ungesellig“, weil sie den Nutzen, den er aus dem einsamen Stillleben schöpft, nicht zu begreifen vermag; denn

„Die Einsamkeit, die hohe Stille,
Vergöttert und erhebt den Geist,
Dass er sich kühn aus dieser Hülle
Der engen Sinnlichkeit, zur Fülle
Der Feier seines Himmels reißt.
Hier blüh’n ihm ewige Naturen
Aus der Unendlichkeit hervor;
Hier tönt der Welten großer Chor,
Hier sprießt aus reinen Äthersturen
Ein junges Sonnenheer empor;
Hier blitzen heller ihm die Spuren
Der Gottheit auf. Ein stilles Licht
Unsichtbar dem profanen Volke,
Versilbert jede Schattenwolke,
Die sich um seine Ruhe sticht.
Und ihm die Aussicht in den Spiegel
Der schönen Zukunft unterbricht.
Die auf dem weichen Taubenflügel
Der Ahnung um den Rosenhügel
Geliebter Urnenreste schwebt.
Er hüllt (der Geist) sich tiefer ein ins Grauen,
Der Mitternacht, dem Ernst geweih't;
Und auf die Blumen seiner Zeit,
Auf seine schönsten Stunden tauen
Die Tropfen der Unsterblichkeit.
Er sieht am Ufer, wo die Zeit
Ihr Laub noch fallen läßt, mit Schweigen
Das Wogenfluten und das Steigen,
Und Sinken der Vergänglichkeit.
Gerettet von den Truggestalten,
An die der Wahn der Torheit glaubt.
Übt er die Kunst, sich fest zu halten.
Dass ihn kein Trug ihm selber raubt.“


§. 332.

Viele Menschen verleben diese Feierstunden ihres Lebens auf ihrer Stube, da zaubern sie durch die Macht ihrer Phantasie diese Himmlischen um sich her. Die Heroen der Künste und Wissenschaften steigen zu ihnen hernieder, und beglücken sie mit ihrer begeisternden Nähe. Viele andere verweilen in dem großen Hause der Natur, da sind sie nicht einsam, wo der blaue Himmel mit seinem klaren Sonnenauge oder mit seinem Sternengeflimmer das lachende Grün der Fluren, das Silber der Bäche, die Grazien und die Musen, die Liebe und die Freundschaft sie umgeben.

Wer kann, ohne zu erröten, behaupten, daß da der Mensch allein sei? Wo ihm Welten entgegen winken und Gestirne ihn umkreisen, da bricht die Helle seines Geistes hervor, in seinem Innern tagt die Morgenröte einer neuen Freude, das Ewiggrün der jungen Hoffnung schmückt seine Stirne, und sein Herz spricht dann begeistert: „Glücklicher, dem diese Lichtmomente geworden sind, wie beklagenswert sind so viele Sterbliche im Vergleiche mit Dir, die in der Einsamkeit kein Auge zum Sehen, kein Ohr zum Hören und keine Seele zum Fühlen und Empfinden mitbringen!“

§. 333.

Es gibt noch eine andere Gattung von Menschen, die nach vielen Stürmen, die sie erlitten, sich nach Ruhe sehnen, und deswegen ein einfaches stilles Leben dem geräuschvollen Treiben der Scheinglücklichen vorziehen. Ich halte sie für wahrhaft große und erhabene Menschen, von denen die gewöhnliche Masse keinen Begriff hat.

„Das Herz, das sich nach Ruhe sehn’t.
Das oft verkannt, sich selbst nur kenntlich
Durch manche Hoffnung hingeharrt.
Durch manche Täuschung, bis es endlich
Sein eig'ner Arzt, sein Engel ward.“


Wer seine Hoffnung und seine Wünsche in seinem Herzen eingesargt, der findet in der Einsamkeit, wo er über die Eitelkeiten der Welt nachdenkt, Hoffnung und Vertrauen wieder. Unter dem Schirme von Einfalt und Ruhe, Unschuld und Frieden erschließen sich ihm die Pforten eines geläuterten Wandels auf Erden.

§. 334.

Die Unglücklichen aus Liebe, die Hypochondristen, verringern sich nicht an der Zahl. Unser Zeitalter leidet sehr an der krankhaften Empfindelei, die man so gerne für die Münze echter Herzlichkeit zu Markte bringen möchte. Lektüre, Schauspiele und die moderne Erziehung sind die drei wichtigsten Ursachen, die aus beiderlei Geschlechtern so viele Unglückliche in der Liebe zu Hypochondristen machen, und dieses in den lachenden und hoffnungsvollen Jahren der Jugend.

§. 335.

Da Arzneimittel in dieser Krankheit wenig vermögen, da die Natur der Hypochondrie, diese mag aus moralischen, geistigen oder physischen Ursachen entstehen, und dynamische oder materielle Veränderungen nach sich ziehen, noch ziemlich in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt ist, da die Zahl der Hypochondristen mit der steigenden Geisteskultur zugenommen hat; so dürften einige Worte in Bezug auf die Heilung der Hypochondrie zum Schlusse meiner Andeutungen über dieselbe am passenden Orte sein.

§. 336.

Dieses qualvolle Leiden tritt unter mannigfachen Gestalten auf, als Niedergeschlagenheit, Missmut, Krankung, Gram, Trübsinn, Wehmut, Harm oder Sorge. Je nachdem unglückliche Liebe, missglückte Pläne, die Schatten der Einsamkeit, anhaltendes Meditieren auf der Gelehrtenstube, oder ein unordentlicher Lebenswandel es erzeugten.

§. 337.

Unter den Heilmitteln nimmt hier eine regelmäßige und vernünftige Lebensweise den ersten Platz ein, ohne diese nützen alle andern nichts; ihrer Auseinandersetzung glaube ich mich überhoben zu wissen, indem ich sie in dieser Abhandlung oft und oft berührte, nur der Bewegung gedenke ich hier noch einmal, weil sie eine Art Zerstreuung mit darstellt, die auf das niedergebeugte Gemüt, so wie auf den von mannigfachen krankhaften Empfindungen heimgesuchten Körper einen höchst wohltätigen Einfluß ausübt. Die Bewegung muntert die trägen Organe des Unterleibes zu ihren Pflichten auf, das Blut beginnt den Kreislauf in rascheren Gängen, die träge Haut gerät in einen wohltätigen Schweiß, das geistige, so wie das physische Auge fesseln neue Gegenstände, und durch diese ersten Umstimmungen tritt der Mensch der Bedürfnisse und der höhere Mensch aus dem Tempel der Nacht, in den ihn die Hypochondrie eingekerkert, an das rosige Licht eines neuen Lebens.

§. 338.

Das Reisen, dessen ich schon erwähnte, ist hier eine der besten und entsprechendsten Formen der Bewegung, da sie aktive und passive in sich faßt, die Sinne und die Einbildungskraft in Anspruch nimmt. Welch großen Wert die Praktiker der Arzneikunde auf die Bewegung bei diesen Leidenden setzen, beweiset folgende Bemerkung Richter’s vom großen Boerhaave, er sagt: „Boerhaave gab den ihn um Rat fragenden Hypochondristen selten Arzneimittel, ließ sich aber von ihnen unter dem Vorwande, ihren Krankheitszustand genau zu erforschen, auf seinen häufigen Spazierritten und Gängen begleiten, erweckte durch Teilnahme und freundschaftliches Zureden in ihnen Hoffnung und heitere Aussichten für die Zukunft, und entließ sie dann nicht selten nach einigen Monaten ohne alle Arzneimittel vollkommen geheilt.

§. 339.

Der Arzt, der einen Hypochonder zu behandeln hat, und die Umgebung, die seine Anordnung ausführen soll, haben einen schweren Stand. Unter die Tantalusqualen der Berufspflichten gehört die Behandlung dieser Kranken. Die Umgebung, Eltern, Gatten, Freunde oder eine Geliebte haben keine leichte Aufgabe, wenn ihnen das Los geworden, einen traurigen, ganz in sich versunkenen Menschen zu trösten, sich in seine Launen zu fügen und seinen Gedanken oft und oft zu huldigen. Um die Aufgabe nur mit einigem sichern Erfolge zu lösen, müssen sie:

§. 340.

A. Sich das Vertrauen des Hypochondristen erworben haben, ehe sie ihr liebevolles Werk beginnen. Ein fremder Mensch wird, wenn er versucht, ein von Kummer darnieder gebeugtes Gemüt zu trösten, keine oder eine gerade entgegengesetzte Wirkung hervorbringen, oft auch eine heftigere Erbitterung erregen. Ein Freund aber, der mit uns viele ernste Stunden im Leben teilte, der selbst manche herbe Prüfung überstand, und der in den Augen des Kummervollen beklagenswert erscheint, ein solcher Freund, der wird vielen und großen Einfluß auf den Hypochonder haben, und zu dessen Selbstbeherrschung nicht wenig beizutragen vermögen; er wird dessen immer wachem Streben der Phantasie nach dem Objekte, das ihn in traurige Gefühle versetzte, feste Schranken entgegenstellen. Verbindet sich dieser Freund mit dem Arzte des Unglücklichen, so werden sie mit vereinten Kräften die untergegangene Sonne am Horizonte hervorzulocken bemüht sein, und an der sichern Hand der holden Freundschaft wird er geistig und körperlich genesen, und einem Schiffbrüchigen gleich, der großen Gefahr entronnen, das Leben als ein neu entdecktes Land begrüßen.

§. 341.

B. Die Art und Weise, wie man einen Darniedergebeugten aufrichtet, um einen wohltätigen Eindruck auf seine von düstern Bildern umgebene Einbildungskraft auszuüben, ist von großer Entscheidung. Hiezu den sichersten Weg einzuschlagen, die passendsten Mittel zu wählen, ist nicht Jeder berufen. Ein mutwilliger Mensch, oder ein Mensch, dem alles gleich ist, der sich über ernstere Zufälle auf den leichten Flügeln der Laune hinweg hebt, der taugt nicht zum Zerstreuer, nicht zum Tröster eines bekümmerten Gemütes. In der Nähe eines solchen Menschen fühlt sich der Trauernde verlassen und verhöhnt; er will innige Teilnahme, er will Tränen in den Augen desjenigen sehen, der ihn tröstet. Wem die Macht der Sprache mangelt, der lese aus den großen Werken berühmter Männer seinem trauernden Freunde vor. Bälle und Theater, Tafeln und nächtliche Gastgelage erreichen diesen Zweck nicht, und äußerst selten haben diese Hebel der modernen Geselligkeit einen wohltätigen Einfluß auf den Hypochonder ausgeübt, der in diese Gemächer der Freude immer die Dornen des Kummers in seinem Herzen mitbringt.

§. 342.

C. Je früher ein solcher Gemütskranker einen wahren Freund findet, der ihn zu trösten vermag, und der im eigentlichen Sinne des Wortes die Rolle des Arztes spielt, desto schneller tritt auch die Heilung ein.

D. Wer hier einen gewissen Mittelweg einschlägt, milde und nachgiebig, teilnehmend und liebevoll, nicht aber kalt und berechnend, widerstrebend und eigensinnig ist, der wird desto erfolgreicher und sicherer seinen menschenfreundlichen Vorsatz realisieren.

§, 343.

E. Nicht allein die Sprache, auch die Macht des Gesanges, die Musik versöhnt uns wunderbar schnell mit den Wechselfällen des Lebens. Wenn wir in das Geisterreich der Musik hinüber schweben, zerfließt unser Schmerz wie Nebel, als senkten sich unsichtbare Engel herab, um unser irdisches Weh zu mildern und zu vernichten. Unerklärbar, wie die Liebe, ist der Zauber der Musik, sie ergreift mit geheimnisvoller Macht unsere Seele, deren Töne sich in sanfte Wellen erheben. Musik ist die Zauberin, die alle unsere Gefühle verfeinert und veredelt, und die Bilder der entflohenen Freuden in unsere Nähe bringt.

§. 344.

F. Die Einsamkeit schadet dann dem Hypochonder, wenn sein Leiden einen hohen Grad erreicht hat, wenn er nicht fähig ist, sich in dem Tempel der Wissenschaften Trost und Beruhigung zu holen; daher müssen ihm seine Freunde, oder wer sonst sich in seiner Nähe befindet, mit Liebe und Geduld, Mitleid und Beharrlichkeit zur Seite sein, sich in seine krankhaften Neigungen und Gefühle schicken, und mit seinen ernsten Sentenzen harmonierende Maximen befolgen.

§. 345.

G. Ist ein körperliches Übelbefinden mit dem geistigen Leiden verschwistert, so muß ein humaner Arzt, zu dem der Leidende Zutrauen und Liebe zeigt, zweckmäßig den abnormen Zustand heben. Je einfachere Mittel hier angewendet werden, desto glücklicher ist der Erfolg, denn es bleibt wahr: „Der Zustand des Kranken erfordert oft den langen und anhaltenden Gebrauch von Arzneien, und dann haben auch viele Kranke einen wahren Heißhunger nach Arzneien, und glauben nicht, daß durch bloße Diät ihr Zustand verbessert werden könne, und daß ihr Weg zur Genesung nur durch eine Spalier von Pillenschachteln, Mixturenflaschen und Latwergbüchsen gehe. Ich glaube aber, es sei nötig zuweilen Pausen zu machen im Gebrauche von Arzneien, und selbst wohltätig wirkende Heilmittel zeitweise auszusetzen, damit sich der Körper nicht zu sehr an sie gewöhne, und sie auch Zeit gewinnen, ihre Nachwirkung in dem Körper zu äußern.“

§. 346.

Leider sind aber die moralischen Ursachen der Hypochondrie zahlreicher als die physischen; warum sind es nicht auch jene Heilmittel, die in den Bereich der physischen Heilkunde gehören? Wir stehen oft waffenlos bei dem Leidenden, denn wer vermag in das Getriebe der mannigfaltigen Veranlassungen immer einzudringen? Wer vermag die sitzende Lebensweise, das Treiben der Gelehrten, das Spiel der Phantasie, die Ebbe und Flut der Leidenschaften, die Unmäßigkeit oder pedantische Mäßigkeit in den physischen Genüssen, die missglückten Pläne, die gescheiterten Hoffnungen, die Leiden der häuslichen Zwietracht, wer vermag, frage ich, diese Feinde menschlicher Glückseligkeit zu entkräftigen oder zu entfernen? — Hier muß die Zeit, dieser große Arzt, uns in unserem Streben unterstützen, und ihr Balsam, wenn auch nur tropfenweise gereicht, hat noch immer Wunder gewirkt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Krankheit der Reichen