Die Kraft des Windes und der Wogen

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 29. 1894
Autor: W. Berdrow, Erscheinungsjahr: 1894

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Windkraft, Wasserkraft, Wind und Wogen, Stürme, Sturmfluten, Maschinenkraft, Wogenschlag, Wellenschlag, Windräder,
Einer von den technischen Leitern der weltberühmten Firma Siemens & Halske in Berlin, Oberingenieur Dihlmann, hat berechnet, durch welchen Aufwand von Windrädern man sämtliche in den Fabriken und Werkstätten von Berlin tätigen Dampfmaschinen ersetzen könnte. Da diese Maschinenkraft sich auf 50.000 Pferdestärken beläuft und zu ihrer Erzeugung nahezu anderthalbtausend Dampfmotoren erforderlich sind, so erscheint der Gedanke, sie nur durch den Wind leisten zu lassen, im ersten Augenblick etwas verwegen. Die Rechnung ergibt indes, dass der Ersatz durch Windmotoren nicht nur sehr gut möglich, sondern wahrscheinlich auch äußerst gewinnbringend sein würde.

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Der genannte Ingenieur denkt sich die Anlage so, dass je fünfzig hohe, eiserne Gerüste, von denen ein jedes drei Windräder über einander trägt, in einer fortlaufenden Reihe aufgestellt werden. Dieselben beanspruchen einen schmalen Streifen Landes von einem Kilometer Länge, und ihre Räder fangen über diesem Gelände eine Windschicht von 50 Meter Höhe ab, um sie in ein jahraus jahrein zu lieferndes Arbeitsquantum von 6.000 Pferdekräften umzusetzen. Acht bis neun solche Anlagen, an verschiedenen Punkten der Umgebung erbaut, würden den Kraftbedarf für stimmliche Arbeitsstätten der Hauptstadt hergeben können, und bedürften zu ihrer Wartung höchstens 200 Arbeiter, während die Dampfanlagen der heutigen Betriebe ein zehnfach größeres Wärter-Heer beanspruchen und überdies jährlich etwa 10 Millionen Zentner Steinkohlen verzehren. Dabei ist der Umstand, dass der Wind nicht immer in gleicher Stärke weht und häufig ganz versagt, bereits vollkommen in Rechnung gezogen; zu den Zeiten kräftiger Luftströmungen und Nachts, wenn die Industrie größtenteils ruht, würden die Räder sich umso emsiger drehen und in mächtigen Bassins Kraft genug aufspeichern, um sich für die schwächeren Windperioden reichlichen Ersatz zu sichern.

Diese Berechnung, an deren Zuverlässigkeit nicht zu zweifeln ist, erlaubt nun aber wiederum interessante Schlüsse auf eine noch weiter gehende Ausnutzung des Windes. Fast in allen ebenen Ländern der gemäßigten Breiten, ganz besonders aber auf sanft ansteigenden Geländen herrschen während des größten Teils des Jahres Windströmungen, welche zum Betrieb kräftiger Maschinen reichlich stark genug sind. Die obigen Anordnungen lehren uns, dass man einem Windstrich von der Breite einer geographischen Meile bereits gegen 50.000 Pferdekräfte abgewinnen kann, wenn man ihn nur in einer Höhenschicht von 50 Metern ausbeutet. In Deutschland aber haben wir an Ebenen von 10 bis 30 Meilen Ausdehnung so wenig Mangel, dass es ein Leichtes wäre, die 5 Millionen Pferdestärken, welche die deutsche Industrie gebraucht, zehn-, ja hundertfach dem müßigen Spiel der Atmosphäre zu entnehmen. So würde beispielsweise eine doppelte Reihe von Windrädern, welche sich zwischen Berlin und Leipzig, oder zwischen München und Passau erstreckte und die Luftströmungen nur bis 100 Meter Höhe ausnutzte, den Energiebedarf sämtlicher deutschen Eisenbahnen zu decken vermögen.

Nun bewegen sich sämtliche Windstärken, welche die Technik bis jetzt durch Motoren auszunutzen versteht, zwischen einem Druck von 2 bis 10 Kilogramm auf den Quadratmeter. Es sind aber Stürme von der zehnfachen Stärke, ja von einem Druck bis zu 150 Kilogramm und mehr, unter den Tropen und auf der See durchaus nicht selten. Gegen die Energiemassen, die dabei auftreten, muss selbst die größte bekannte Wasserkraft, die 16 Millionen Pferdestärken des Niagara, als verschwindend klein erscheinen. Bereits weniger ausgedehnte tropische Wirbelstürme lassen sich nämlich nicht mehr nach Millionen, sondern nur noch nach Hundertmillionen Pferdestärken abschätzen. Da ist es kein Wunder, wenn solche Stürme Häuser von ihren Fundamenten reißen, ganze Wälder entwurzeln und Ströme in ihrem Lauf stauen und bergauf drängen. Alle Lokomotiven der Erde — sie erreichen nach der neuesten Zählung die hübsche Summe von 109.000 — vermöchten bei der angestrengtesten Arbeit nicht die schiebende oder drückende Wirkung aufzuhalten, welche die Luftpressung auch nur eines mäßigen Wirbelsturmes im Bengalischen oder Chinesischen Meer ausüben würde, könnte man ihr eine feste Mauer entgegenstellen. Einer der stärksten Zyklone, von dem die Geschichte berichtet, der vom 5. bis 7. Oktober 1844 über Kuba wütende Orkan, hat nach einer Berechnung von Reye während dieser Tage eine Energiemasse von nahezu 500 Millionen Pferdekräften entwickelt — alle Dampfmaschinen und Lokomotiven der Erde vereint wären nicht im Stande, den zehnten Teil dieser Kraft aufzubringen.

Auch im Spiel der Gewässer lassen sich gewaltige Kräfte beobachten, und zwar in der regelmäßigsten, von Wind und Wetter unabhängigen Wiederkehr in dem Wechsel von Ebbe und Flut. Es ist schon oft über die Ausnutzung dieser Naturkraft spekuliert worden, und sicherlich wird man einmal dahin gelangen, sich die Energiemengen, welche dabei tagtäglich anscheinend zwecklos aufgeboten werden, nicht mehr ungenutzt entgehen zu lasten. Um nur ein Beispiel anzuführen, erwähnen wir die sogenannte brandende Flutwelle im Bristolschen Kanal. Täglich stürzt sich in dem breiten Eingang dieses Meerbusens eine mächtige Flutwoge von 10 Meterhöhe und einer Länge von nicht weniger als 80 Kilometer, welche tobend und mit der Geschwindigkeit eines Eilzuges die tiefe Bucht durcheilt und bis hoch in den Severnfluss hinaufsteigt. Weder der Übergang aus dem weiten Meerbusen in das verhältnismäßig schmale Flussbett, noch die Reibung auf dem flachen, steinigen Grund vermag sie aufzuhalten.

Schon aus weiter Ferne hört man das Brausen der nahenden Flut, dass sich schnell bis zum Donnern eines mächtigen Wasserfalles steigert. Eine weiße, den ganzen Fluss quer überspannende Schaumwoge, der Vorläufer der eigentlichen Flutwelle, stürzt heran, und in einem Augenblick ist der stille Spiegel des Wassers in eine tobende See verwandelt. Das Donnern der Brandungswelle verhallt in der Ferne, der Spiegel aber steigt zwischen den schirmenden Dämmen unausgesetzt bis zu 6 ja 8 Meter über dem gewöhnlichen Wasserstand, um erst nach Stunden mit der abfließenden Ebbe wieder zu weichen. Die mechanische Energie, welche sich in dieser Naturerscheinung austobt, spottet jeder Berechnung, doch ist es gewiss, dass in dem Augenblick, wo die Fluh sich in ihrer vollen Höhe und Breite aus dem Atlantischen Ozean in den Kanal stürzt, alle Dampf- und Menschenkräfte der Erde nicht stark genug sein würden, um sie aufzuhalten. Und doch gibt es Uferstrecken, an denen sich die Gezeiten noch weit lebhafter äußern, so z. B. auf Neuschottland, wo die Flut 15 bis 16 Meter erreicht, oder an der Mündung des Amazonenstromes, wo man an jedem Tage das Brüllen der mit dem Strom kämpfenden Flutwoge meilenweit hört.

An unseren vaterländischen Meeresküsten kommen derartig mächtige Fluterscheinungen nicht vor; in der Nordsee steigt die Flut nicht über 2 bis 3 Meter, und an den Ostseeküsten bedarf es schon genauer Messungen um überhaupt noch ein periodisches Steigen und Fällen nachzuweisen. Um so grimmiger aber tobt sich hier die Natur hin und wieder in den Sturmfluten aus, welche die unvorbereiteten Küstenbewohner von Zeit zu Zeit schwer heimsuchen. Bei der letzten schweren Sturmflut der Ostsee, am 13. November 1872, wälzte sich innerhalb zwölf Stunden gegen die ganze 150 Meilen lange deutsche Ostseeküste ein Wogenschwall von 4 Meter Höhe heran. Man braucht die Breite dieser Flutwelle nur auf eine Meile anzunehmen, um zu berechnen, dass allein die Hebung des Flutwassers während der Steigezeit die Arbeit von 5 Millionen Pferdekräften verzehren musste. Die gesamte Energie, welche sich in diesem Naturereignis offenbarte, ist aber sicherlich auf das Zehn- bis Zwanzigfache zu schätzen, ein neuer Beweis dafür, wie winzig unsere menschlichen Hilfsmittel gegen das Walten der Naturmächte sind.

Gedenken wir endlich des unaufhörlichen Wellenschlages auf offener See, der ebenso wie die Sturmfluten nur eine Begleiterscheinung der atmosphärischen Bewegungen ist, so müssen wir bekennen, dass diesem Phänomen gegenüber alle menschliche Rechenkunst versagt. Um nur eine einzige, 10 Meter hohe Welle auf die Länge einer Meile in wenigen Sekunden aus dem Meeresschoße emporzuheben, bedarf es einer Kraft, wie sie kaum in allen Dampfmaschinen der britischen Monarchie enthalten ist. Von solchen und höheren Wogen sind aber die Ozeane oft Tausende von Quadratmeilen bedeckt, und alle Gewalt der mächtigsten Winde würde für das rastlose Spiel dieser Wassermengen bei Weitem zu schwach sein, wenn nicht der Wogenschlag, einmal eingeleitet, sich gleich dem Schwingen eines mächtigen Pendels fast von selbst unterhielte. Der ganze Wellenschlag besteht nur darin, dass fortdauernd je eine ins Wasser zurücksinkende Woge neben sich eine neue auftürmt, und so, in fortschreitender Richtung immer neue Massen emporhebend, das Bild einer einzelnen, über die Fläche hinrollenden Welle erzeugt. Kräftige Wellen können sich so fast ohne Mithilfe des Windes auf weite Entfernungen fortpflanzen, wie die Erfahrung lehrt, wenn die durch einen Sturm aufgeregte See ihre Bewegung noch nach vielen Stunden oder nach Tagen an ferne Küsten trägt, welche von dem Sturm selbst gar nicht betroffen worden sind. Demungeachtet spielt auch beim Wellenschlage der Wind eine nicht geringe Rolle, und wenn sich bei starken Stürmen die See zu hohen Tromben oder Wasserhosen auftürmt, so steigert sich auch die Energie der Wogen zu einer Höhe, welche jeden menschlichen Maßstab weit hinter sich lässt.

Bauern, Die Flucht vor dem Gewitter

Bauern, Die Flucht vor dem Gewitter

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, auf dem Priwall bei Rosenhagen in Mecklenburg-Schwerin

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, auf dem Priwall bei Rosenhagen in Mecklenburg-Schwerin

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Das Fischerdorf Hasthagen in Mecklenburg-Schwerin

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Das Fischerdorf Hasthagen in Mecklenburg-Schwerin

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Die Landesbrücke in Travemünde

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Die Landesbrücke in Travemünde

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Verwüstungen der Ostseite von Eckernförde 2

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Verwüstungen der Ostseite von Eckernförde 2

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Verwüstungen in Bad Boltenhagen in Mecklenburg-Schwerin

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Verwüstungen in Bad Boltenhagen in Mecklenburg-Schwerin

Maritim, in der Brandung

Maritim, in der Brandung

Maritimes; Winterstürme an der deutschen Küste, Rettungsboot gekentert

Maritimes; Winterstürme an der deutschen Küste, Rettungsboot gekentert