Zionistische Politik (1903)

Die zionistische Politik umfasst naturgemäß drei notwendigerweise miteinander verknüpfte Momente: Propaganda, Verhandlungen, Kolonisationsarbeit; drei Momente, die zueinander nicht etwa in dem Verhältnis zeitlicher Aufeinanderfolge, sondern in dem gleichzeitigen Zusammenwirkens stehen. Dass die Kolonisationsarbeit nicht Folge, sondern Unterstützung und vielfach Voraussetzung der Verhandlungen sein muss, geht aus der Geschichte aller Siedlungen klar hervor und wird sich auch in unserer Bewegung immer offenbarer aus den Tatsachen ergeben. Es tut nun meines Erachtens Not, im Gegensatz zu der gegenwärtig herrschenden Auffassung zu erweisen, dass alle drei Momente auf kulturellen Erwägungen und Arbeiten gegründet sein müssen, um zu großen und dauernden Erfolgen führen zu können: dass positive nationale Kulturwerke die einzigen auf das innerste Leben wirkenden Agitationsmittel sind, dass in Ermanglung politischer national-kulturelle Macht die einzige ist, auf die unsere Verhandlungen sich stützen können, dass Erziehung eines tauglichen Menschenmaterials die Prämisse planvoller Kolonisation ist; kurz, dass die zionistische Politik Kulturpolitik werden muss, wenn sie trotz ihres Ausnahmecharakters — Politik ohne Polis, vielmehr die Polis erst anstrebend — Ergebnisse erzielen will, die sonst nur der Aktion anerkannter Macht gewährt sind.

Zunächst muss das eine aber uns gegenwärtig sein, dass unter Kultur nicht etwas rein Geistiges zu verstehen ist. Die Kultur eines Volkes ist nichts anderes als die Produktivität dieses Volkes, synthetisch, d. h. in ihrer Gesamtheit und in ihrem einheitlichen Zusammenhange gefaßt. Kulturpolitik ist das konsequente und organisierte Streben der Produktivität nach Freiheit.


Die zionistische Propaganda ist doppelter Art; sie umfasst die äußere, die darauf ausgeht, die tatkräftige Sympathie der Völker und der führenden Geister Europas für die Sache zu gewinnen, und die innere, die die weitere Ausbreitung des Zionismus unter den Juden selbst bezweckt. Betrachten wir zunächst die erstere.

Vor lauter Audienzen und Verhandlungen hat man im zionistischen Lager die große Wahrheit vergessen, dass Regierungen kommen und gehen, Völker aber bestehen. Wobei unter Völkern naturgemäß vor allem deren vorgeschrittenster, geistig freiester und durchgebildetster Teil zu verstehen ist, der die Zukunft repräsentiert und verbürgt: die führenden Geister von heute sind das Volk von morgen. Wie hoch die Sympathien der Völker in diesem Sinne zu werten sind, hat die philhellenische Bewegung bewiesen. Sie ist zugleich sehr instruktiv dafür, aus welcher Quelle so mächtige Sympathie entspringt. Diese Quelle ist ein Kulturinteresse, und wenn es auch nur wie hier das Interesse der Pietät gegen eine längst gestorbene Kultur ist, von deren Trägern eine Kette von Vererbungen zu dem Volke hinüberführt, das Gegenstand der Sympathie ist. Man könnte nun sagen, dass diese Pietät auch in unserem Falle vorhanden sein sollte. Gewiss, aber Jahrtausende des unseligsten Zusammenlebens mit den Völkern haben ihr entgegengewirkt; überdies ist unsere unbestreitbare Entartung, jene Saat des Exils, die die Wiedergeburt auszurotten erst begonnen hat, nicht wie die der Griechen dem Blick entrückt, sondern vor aller Augen. Wir müssen daher, wenn wir unserer Zukunft das moderne, lebendige Europa als Bundesgenossen sichern wollen, etwas anderes in die Wagschale werfen, und dieses andere kann nur eines sein: lebendige Kulturtat. Es genügt nicht, zu sagen, dass wir die Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk erstreben. Denn man wird uns mit der Frage antworten: „Was ist denn das jüdische Volk, dass wir aufstehen sollen, ihm ein Heim zu bereiten? Hat es denn noch Kraft, zu leben? Was kann es denn noch schaffen?“ Zeigen wir ihnen denn, was das jüdische Volk ist: machen wir seine Kraft frei, soweit es in der Fremde möglich ist, bilden und fördern wir es, dass es schaffen kann, so sehr ein Verbannter und Entrechteter zu schaffen vermag, und dann lassen wir die Tat für uns sprechen, lassen wir sie überall die Ahnung erwecken von dem, das dort sein wird. Zeigen wir, dass es ein jüdisches Volkstum gibt mit persönlichen, nur ihm gegebenen schöpferischen Möglichkeiten und dass es vielleicht berufen ist, auf eigener Erde ein Neuland des Geistes und neue Formen des Zusammenlebens von Menschen zu stiften. Setzen wir alles ein, Wirken, Lebenshaltung und Leistung, suchen wir aus den anderen und aus uns selbst zu machen, was irgend wir machen können, um dies zu zeigen.

Aber nicht etwa bloß um es nach außen zu zeigen, sondern unendlich mehr noch für uns selbst. Lassen wir unser eigenes Dasein und jedes andere unserem Wirken zugängliche von dem lebendigen, schaffenden Geist des Volkes durchdrungen werden, damit wir in Wahrheit Zionisten seien, nicht im Sinne eines Bekennens, sondern eines Seins: Träger des werdenden Zion.

Die Sehnsucht nach Vermehrung des ziffernmäßigen Parteibestandes ist die treibende Kraft der zionistischen Propaganda geworden. Man hat so lange die Ansicht verbreitet, nicht etwa auf das Leben des Volkes in allen seinen Momenten einzuwirken, sondern der Partei Geld und Leute zuzuführen, sei die heiligste Aufgabe des Zionisten, bis diese Ansicht zum verderblichen Dogma wurde. Ihr gegenüber sei gesagt, dass all diese Arbeit in ihrer gegenwärtigen Form — das heißt, nicht etwa eine intensive innere Tätigkeit ergänzend, sondern die ganze Tätigkeit des Zionisten ausmachend — nichts ist gegen das, was zu tun ist. Die zionistische Propaganda muss eine Umwertung aller Funktionen, eine Umgestaltung des Volkslebens in seinen Tiefen und seinen Grundlagen werden. Sie muss an die Seele rühren und die Seele fordern. Die bisherige Agitation rührte nur an die Oberfläche und forderte nur Schekel und Aktienzeichnung. So macht man kein Volk volksbewusst. Nicht so vollzog sich das Bewusstwerden des internationalen Proletariats, nicht so das des „jungen Europa“. Wir müssen die lebendigen Kräfte der Nation hervorlocken, die gefesselten Instinkte losbinden. Das wird freilich nur eine wahre Freiheitsbewegung bewirken können, eine lavaartige, rücksichtslose, bedingungslose Freiheitsbewegung, ohne Kompromisse, ohne Opportunitäten. Eine Bewegung des Kampfes und der Aufopferung. Parteien diplomatisieren, Bewegungen kämpfen. Unsere junge Bewegung ist allzu früh Partei geworden. Sie begann mit den Mächten zu paktieren, bevor sie selbst eine Macht war. Durch eine Reihe von Anpassungen und Halbheiten schreckte sie den größten Teil der freiheitlichen Elemente ab. Manche Persönlichkeit, die in dem Ideal der Regeneration das Ideal des eigenen Blutes gefühlt hatte, fiel wieder ab, da man als Prämisse der Bewegung den Antisemitismus, als ihr Wesen Befreiung vom Antisemitismus, als den einzigen Weg der Diplomatie verkündete. Man gewann etwas Massen, etwas „Intelligenz“, — etwas Schekel, etwas Aktien. Man gewann nicht die lebendigen Kräfte der Nation, man gewann nicht die Menschen, denen es gegeben ist, diese Kräfte zu wecken. Denn Zion ist heute nicht, was es sein soll: die Losung der reinen, heiligen, sich nicht umsehenden Freiheit. Die nationale Bewegung der Juden hat noch kein Massada der Geister erzeugt. Die nationale Bewegung der Juden hat den jüdischen Volksgeist noch nicht revolutioniert. Ja, auf eine Revolutionierung des Volksgeistes kommt es an: Revolutionäre waren auch jene Propheten, die im Exil das Volk für ein neues Palästina erziehen wollten.

Eine Erziehung des Volkes also, eine revolutionäre, von Grund aus aufwühlende Erziehung zur Freiheit, mit uns selbst beginnend und beim letzten Lumpenproletarier endend, soll die zionistische Propaganda werden. Endend? Man wird es eine unendliche Aufgabe nennen. Aber man erhebe sich im Geiste und man wird erkennen, dass in noch viel innerlicherer Bedeutung der Zionismus selbst eine unendliche Aufgabe ist, oder, was dasselbe bedeutet, ein Ideal, und dass sich dem Ideale mit allen Kräften und in jedem Augenblick zu nähern der hohe Sinn menschlichen Lebens ist.

Aber nicht bloß Propaganda, nicht bloß die einzig denkbare vollkommene Gewinnung des Volkes bedeutet die Volkserziehung, sondern sie ist zugleich eine notwendige Grundlage der Verhandlungen und der Kolonisation, und je weiter gediehen sie sein wird, eine desto stärkere und sicherere Grundlage.

Grundlage der Verhandlungen zunächst in dem bereits in bezug auf die äußere Propaganda erörterten Sinn. Aber es gilt hier das Problem weiter und tiefer zu fassen. Die Politik ist, wie das Recht, der Ausdruck der realen Machtverhältnisse. Nur eine reale Macht kann mit einer Macht erfolgreich verhandeln. Die Diplomatie, welche die Kunst der Machtverwertung ist, kann wohl leichte Verschiebungen vortäuschen, aber über nichts Wesentliches Illusionen hervorrufen. Aber auch wenn sie es könnte, so wäre sie doch nicht vermögend, der zionistischen Partei den Schein realer Macht zu geben. Unsere Bewegung entbehrt völlig des staatlichen, fast völlig des kapitalistischen Rückhalts: sie entbehrt auch der höchst bedeutsamen Basis, die eine schon bestehende, große, wohlorganisierte und produktionsfähige Kolonie gewähren würde. Sie ist daher bestenfalls Machtmöglichkeit, gleichsam der Keim einer Macht, aus dem die Macht erst werden kann, — wenn die Verhandlungen zu einem günstigen Resultat geführt haben. Und auch für diesen Fall konnte bisher keine positive Garantie geboten werden: es konnte nicht in konkreter Weise nachgewiesen werden, dass die zu gründende jüdische Siedlung eine Macht werden, das heißt dass sie in der Lage sein wird, eine etwa eingegangene Äquivalentsverpflichtung einzulösen. Aus dieser anormalen, ungesunden Sachlage erklärt sich leicht die Fruchtlosigkeit der bisherigen Bemühungen. Die Situation erscheint als ein Dilemma ohne Ausweg. Dennoch gibt es einen. Er besteht, so paradox es klingen mag, darin, dass wir trachten müssen, eine Macht zu werden. Wir müssen freilich, um dieses Ziels wahrhaft inne zu werden, lernen, mit Generationen statt wie bisher mit Jahren zu rechnen. Aber wenn wir den Mut zu solcher tätigen Resignation nicht aufbringen, wenn wir uns zu aufopferungsvoller Arbeit für die künftigen Geschlechter nicht aufraffen könnten, dann wäre es mit uns zu Ende und wir hätten nichts mehr zu hoffen.

Um eine Macht, ein Machtfaktor zu werden, müssen wir vor allem ein starkes, selbstbewusstes, geeintes und organisiertes Volk sein. In unserem Volke schlummern Gewalten. Sie werden erwachen, wenn das Volk sich selbst erkennen und beginnen wird, an sich und für sich zu arbeiten. Die entartete und demoralisierte Masse, von der jemand unlängst auf einem Parteitage der österreichischen Zionisten wagen durfte zu sagen, sie könne nur Objekt, nicht Subjekt des Zionismus sein, wird nur das Mitleid, nicht die Sympathie der Menschheit erwerben, sie wird nur Werkzeug, nicht Macht sein. Eine bewusstgewordene Masse, zwar noch nicht genesen, aber schon die Krankheit bekämpfend, zwar noch nicht gestalten, aber durchglüht und hingerissen von reiner Sehnsucht, wird Europa ein Phänomen, eine Offenbarung sein. Eine Masse mit gereiftem Willen, mit politischem Sinn, mit wirtschaftlicher Organisationskraft wird erst eine Nation sein, wird eine Macht sein. Das werden nicht mehr lose, chaotische, hin und her geworfene Haufen sein, sondern ein Volk, das weiß, was es will, und mit dem man zu rechnen hat.

Aber das genügt noch nicht. Das Volk muss auf ein bereits geschaffenes Zentrum in Palästina hinweisen können, um für seine Siedlung Selbständigkeitsrechte zu verlangen. Jede Kolonie entwickelt sich in der Weise, dass Menschen sich ansiedeln, sich organisieren, Werte hervorbringen und mit wachsender Bevölkerungszahl, Organisationsfestigkeit und Produktionshöhe auch entsprechende Selbstverwaltung erhalten. Nun ist unsere Kolonisation eine recht anormale, da sie erstens kein Mutterland, sondern nur ein Muttervolk hat, und zweitens nicht unokkupiertes, sondern türkisches Land besiedeln will; und die Verhältnisse der Türkei sind durchaus nicht dazu angetan, eine normale Entwicklung unserer Siedlung zur Autonomie im angeführten Sinn als wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Wir könnten daher wohl einmal in die Lage kommen, Verhandlungen mit europäischen Mächten zu führen, aber mit Erfolg wohl nur dann, wenn das Muttervolk, das zum realen Machtfaktor in Europa, und die Siedlung, die zu einem realen Machtfaktor im Türkischen Reich geworden sein wird, zusammenwirken werden. Jedenfalls aber muss die Siedlung da sein. Um sie zu schaffen, sind freilich auch Verhandlungen nötig, aber nur eine ungehinderte Kolonisationsarbeit in gewissen zu vereinbarenden Formen betreffend. Diese Verhandlungen sind im Gegensatz zu den auf vorherige Autonomiezusicherung abzielenden schon heute mit Aussicht auf Erfolg zu führen, da die Aufbringung oder Garantierung der Gegenleistung hier wohl möglich wäre*); ein auf wissenschaftlichen Grundlagen aufgebauter Siedlungs- und Exploitierungsplan wäre hierfür von großer Bedeutung. Diese wissenschaftliche Arbeit, wenn sie richtig aufgefasst wird, würde die Erforschung von Volk und Land und somit eminente jüdische Kulturarbeit bedeuten.

*) Selbstverständlich sollte auch jenseits der Verhandlungen, durch innere Kolonisation und durch wirtschaftliche und kulturelle Arbeit in Palästina, das Land immer mehr zu einem de facto jüdischen gemacht werden.

Dieses alles aber reicht noch nicht hin, um eine Kolonisation, wie sie hier gemeint ist — keine „Kleinkolonisation“, sondern eine Kolonisation in größtmöglichem Umfange und im Vollbewusstsein der politischen Zwecke und Mittel — eröffnen zu können. Vielmehr ist in diesem merkwürdigsten aller nationalen Probleme alles mit allem so eng verkettet, dass auch für die Siedlungsarbeit die Volkserziehung die notwendige Grundlage abgibt. Denn, es muss immer wieder gesagt werden, kein Charter kann helfen, wenn das Volk nicht reif ist, den Charter zu verwirklichen. Zu einer so eigentümlichen, so fast analogielosen Kolonisation, wie die von uns beabsichtigte ist, bedarf es eines körperlich, geistig, sittlich starken Menschenmaterials; eines Menschenmaterials, das stark genug ist, die schwersten und mühseligsten Arbeiten zu bewältigen, den abgründlichsten Gefahren zu trotzen, den trostlosesten Enttäuschungen standzuhalten. Es ist grundfalsch, zu behaupten, wir wollten „dem Volke statt Brot Kultur geben“. Wir wollen das Volk befähigen und vorbereiten zu dem Kampfe ums Brot, welcher in Wahrheit der Kampf um die nationale Existenz ist. Wir wollen im Volke jene sittliche Stärke erwecken, die Arbeitsmut und Ausdauer verleiht; wir wollen sein Denken vom Relativismus zur Wirklichkeitserfassung und sein Wollen von Hast und Gier zu kraftvoller Stetigkeit führen. Wir wollen erst kleine, dann immer größere Scharen heranziehen, die wir in Palästina ansiedeln dürfen werden. Wir können von dem Wechsel der Generationen alles erhoffen, wenn wir alles aufbieten, um auf die heranwachsenden Generationen einzuwirken. Der wird das Größte für den Zionismus getan haben, der die Erziehung der Jugend unseres Volkes in neue Bahnen lenkt. Zu einer großen jüdischen Kultur gibt es nur einen Weg: durch Kultur.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jüdische Bewegung 1900-1914