Wege zum Zionismus (1901)

Es gibt verschiedene Arten des Zionismus und verschiedene Wege zum Zionismus.

Der vulgärste Weg ist der vom Antisemitismus aus. Dem X. geht es hierzulande nicht gut, er wird bedrückt und beleidigt, seinem Wunsch nach Behaglichkeit und seiner „Menschenwürde“ wird das Europaleben unerträglich; und nun tritt ein innerer Prozess ein, als dessen Ergebnis eines schönen Tages ein ausgewachsener „Zionismus“ dasteht: der gute Mann sehnt sich fort, in ein eigenes Land, wo niemand mehr ihn ungestraft bedrücken und beleidigen dürfte, wo seine Behaglichkeit und seine Menschenwürde unangefochten einherstolzieren könnten, und da er vom Judenstaat gehört hat, akzeptiert er für seinen stolzen Traum diese stolze Bezeichnung. So mag sich ein Proletarier der angeblichen Intelligenz aus seinem Elend nach dem gepriesenen Zukunftsstaat hinsehnen.


Ein anderer Weg, der weniger instinktmäßig und weniger egoistisch, aber deshalb durchaus nicht wertvoller ist, ist der des abseitsstellenden Mitgefühls. Y. fühlt sich hier zwar leidlich wohl; aber da in ihm doch noch ein — ihm übrigens oft unbegreiflicher — Rest von Solidarität steckt, wurmt es ihn manchmal, dass „die armen Juden da draußen im Osten es so schlecht haben“. Ist er nun gar nichts weiter als ein satter Bürger, so hilft er sich über diese unbequeme Stimmung mit Philanthropie hinweg. Gehört er aber zu denen, denen es dennoch hier und da einmal passiert, zu denken, wenn auch nicht gerade eigene Gedanken, so wird er „Zionist“ mit der edelmütigen Begründung: „Den armen Leuten muss geholfen werden.“ Man denke an jene „Sozialisten“ des Mitgefühls, die von der Lebensanschauung, auf die sie schwören, keine Ahnung haben.

Beträchtlich höher steht schon die Ansicht, der Zionismus sei wahr, weil das Volk leide und gerettet werden müsse. Diese einfache Synthese „das Volk“ ist schon eine erfreuliche Entwicklungsstufe. Z., der sich zu ihr bekennt, ist sowohl über die kleinen Schmerzen, aus denen X. seine großen Lieder macht, als auch über die verschwommen wohlwollende Schein-Einstellung des Y. weit hinausgehoben. Er identifiziert sich. Er fühlt sich als Glied eines großen Organismus, wenn er auch dessen Eigentümlichkeit und Rätselhaftigkeit noch nicht ahnt. Und er empfindet den Zionismus als die Lebensfrage des jüdischen Volkes. Das ist schon ein Mensch, mit dem man reden kann. Aber auch nicht mehr. Ich sehe davon ab, dass ein solcher Zionist sehr leicht dazu verleitet werden kann, eines der Mittel — z. B. wirtschaftliche Hebung — als Selbstzweck anzusehen und sich mit einer halben Heilung zu begnügen. Vor allem aber ist dieser Standpunkt viel zu eng und viel zu — utilitarisch. Er entspricht dem jener gewiss vortrefflichen englischen Moralisten, denen das größtmögliche „Glück“ der größtmöglichen Zahl als das höchste Ideal erscheint. Wie traurig hört sich das schöne Wort „Glück“ aus zahnlosem Munde an! Und welch eine Ofenbank-Perspektive ist es, die ungeheure wundervolle Welt dahin steuern lassen zu wollen, dass möglichst viele Wesen sich möglichst wohl fühlen! Wenn je große Werte des Lebens aus dem Glück hervorgingen, so war es ein Glück, in das tiefe Tragik und unsagbares Leid gemischt waren. Und lässt sich solches Glück — das Glück der Persönlichkeiten — anstreben ?

Ich will deutlich sagen, was ich meine. Wenn ich für mein Volk zu wählen hätte zwischen einem behaglichen, unfruchtbaren Glück, wie es in alten Zeiten manche m seiner Nachbarn zuteil geworden war, und einem schönen Tode in letzter Anspannung des Lebens, ich müsste diesen wählen. Denn er würde, und sei es auch nur einen Augenblick lang, etwas Göttliches schaffen, jenes aber nur etwas Allzumenschliches.

Schaffen! Der Zionist, der die ganze Heiligkeit dieses Wortes fühlt und ihr nachlebt, scheint mir auf der höchsten Stufe zu stehen. Neue Werte, neue Werke schaffen, aus der Tiefe seiner uralten Eigenart heraus, aus der eigenartigen, unvergleichlichen Kraft seines Blutes heraus, die so furchtbar lange in die Fesseln der Unproduktivität geschlagen war — das ist ein Ideal für das jüdische Volk. Die Denkmale seines Wesens schaffen! Seine Art sich ausklingen lassen in einer neuen Anschauung des Lebens! Eine neue Form, eine neue Gestaltung der Möglichkeiten vor die Augen der Unendlichkeit hinstellen! Eine neue Schönheit erglühen lassen, einen neuen Stern emporgehen lassen auf dem zauberhaften Nachthimmel der Ewigkeiten! Erst aber sich durchringen, mit blutigen Händen, unerschrockenen Herzens sich durchschlagen zu seinem Wesen selbst, aus dem alle diese Wunder auftauchen werden. Sich entdecken! Sich finden! Sich erkämpfen!

Dieser Weg bedeutet: sein Volk suchen, weil man es liebt, und vor keiner Widerwärtigkeit zurückschrecken, die man findet. In seinem Volke das Material für eine Statue sehen, und sich nicht dadurch verwirren lassen, dass dieses Material nicht Marmor von Faros oder Carrara, sondern zähes, schwerfälliges, widerstrebendes Gestein ist. Dieser Weg bedeutet: für sein Volk ein Leben wollen, aber kein Leben, das sich mit Leben begnügt, sondern ein reiches, schöpferisches, fortzeugendes Leben.

Ich habe nur versucht, die Haupttypen zu zeichnen. Es gibt noch andere Wege zum Zionismus, Seitenwege gleichsam. Am eigentümlichsten unter ihnen ist vielleicht der Weg des Sozialtheoretikers, der seine Ideen an uns realisieren möchte. Der Zionismus erscheint ihm als die Möglichkeit eines riesigen sozialen Experiments. Die Männer, die so zu uns kommen, gewöhnlich ohne rechtes Verständnis für die ganze Schönheit unserer nationalen Idee und unfähig, zu ihr vorzudringen, sind dennoch eine befruchtende Kraft. Sie bringen neue Elemente in unsere Diskussionen, sie zwingen uns, zu den großen Strömungen unserer Zeit eine positive Stellungnahme zu finden.

Die übrigen Wege bieten verschiedenartiges Interesse. Da ist der Weg des judaistischen Gelehrten, der seiner Wissenschaft eine sichere Stätte wünscht; der Weg des Künstlers, der seinem jüdischen Schaffen Verständnis und Verwertung sucht; des Technologen, der seinem Volk ein modernes Leben bauen helfen will und zugleich große Möglichkeiten einer freien, allseitig begünstigten Betätigung ahnt. Da ist der Weg des Unsteten, der ein eigenes Milieu gefunden hat und sich daran klammert, und der Weg des jungen Halb-Skeptikers, der freudig nach einer heimischen Lebensanschauung greift. Da ist der Weg des Historiosophen, dem die Vergangenheit geheimnisvolle Winke gab, und der Weg des Politikers, der in Asiens wunderbare Zukunft schaut. Da ist der strenge Weg des Religiösen, und da ist der versonnene Weg des Romantikers, der anders als der Religiöse die alten seelenvollen Traditionen und ihr stilles Leben liebt. Da sind schnöde, unedle Wege, von denen wir nicht reden wollen. Da ist aber auch der große Weg des Helden, der in einer Zeit ohne Lorbeer geboren wurde. Da ist der gerade rücksichtslose Weg des Träumers, der seinen Traum leben will. Und da ist auch, von jungen Rosen überhangen, von jungem Lerchensang überschallt, von junger Morgensonne beschienen, der Schmerzensweg des Dichter-Propheten, der sterben wird, ohne das Land seiner Sehnsucht geschaut zu haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jüdische Bewegung 1900-1914