Von jüdischer Kunst (1901)

Tausende und Tausende von Jahren waren wir ein unfruchtbares Volk. Wir teilten das Schicksal unseres Landes. Ein feiner grausamer Wüstensand wehte fort und fort über uns hin, bis unsere Quellen verschüttet und unser Ackerboden mit einer schweren, alle jungen Keime tötenden Schicht bedeckt war. Der Überschuss an Seelenkraft, den wir zu allen Zeiten hatten, drückte sich im Exil nur noch in einer unbeschreiblich einseitigen geistigen Tätigkeit aus, welche die Augen blind machte für alle Schönheit der Natur und des Lebens. Das, woraus jedes Volk immer wieder die frohsinnige, frische Energie schöpft, das Anschauen einer schönen Landschaft und schöner Menschen, war uns geraubt. Das Blühen und Wachsen jenseits des Ghettos war unseren Ahnen unbekannt und verhasst wie der wunderbare Menschenleib. Alle Dinge, über deren Zauber die Dichtung ihre goldenen Schleier spinnt, alle Dinge, deren Formen die Bildkunst mit seligen Händen bannt, waren etwas Fremdartiges, dem man mit einem unausrottbaren Misstrauen gegenüberstand. Manchmal nur stahl sich der halbverlorene Klang eines Liedchens über die düstere Gasse, huschte dahin, um in dem dicken Dunkel zu sterben. Das, worin sich das Wesen einer Nation am vollsten und am reinsten ausspricht, das heilige Wort der Volksseele, das künstlerische Schaffen, war uns beinahe völlig verwehrt. Wo die Sehnsucht nach Schönheit sich mit schüchternen Gliedern erhob, wurde sie niedergedrückt. Wo ein junger Trieb sich bang, in Angst und Erwartung der Sonne entgegenregte, wurde er erstickt.

Der Eintritt der Juden in die abendländische Zivilisation war es, der den großen Umschwung ermöglichte, dessen erste Früchte wir in unseren Tagen sehen. Ich möchte dies deshalb betonen, weil in der jüngsten Zeit in manchen zionistischen Kreisen eine eigentümliche Ghetto-Sentimentalität zu herrschen begonnen hat. Man hat über der zarten seltsamen Schönheit des geschlossenen Volkslebens, das wir in Europa bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein führten, die bedeutsame Tatsache vergessen, dass die moderne nationaljüdische Bewegung, dass der Zionismus nicht hätte entstehen können ohne jenes merkwürdige Stadium in der Entwicklung unseres Volkes, das fälschlich mit dem Worte ,,Emanzipation“ bezeichnet wird. Unter Emanzipation stellt man sich gewöhnlich das mehr oder minder willkürliche Handeln von einzelnen Volksvertretern vor. Dieses aber war nur der Ausdruck einer großen historischen Umwandlung, die bei den Völkern zum Kampfe für die Menschenrechte, bei uns zur inneren Annäherung an die neuzeitliche Zivilisation führte. Freilich nahm diese Annäherung, dem Charakter des Golus entsprechend, eine anormale, sprunghafte Form an. Freilich erzeugte sie jene blinde Anpassung nicht an die neuzeitliche Zivilisation, sondern an die Eigenart der einzelnen Völkerschaften, die wir unter dem Namen Assimilation kennen: eine traurige Episode unserer Geschichte, in der sich die ganze Schwere unserer Entartung kundgab. Aber als im Leben Europas an die Stelle eines blutlosen Menschheitsideals die gesunde nationale Selbstbesinnung getreten war, als die Anschauung durchgedrungen war, dass wie jeder Mensch, so auch jedes Volk am besten der Allgemeinheit dient, wenn es seine eigenen Gaben in fruchtbarem Schaffen betätigt, als mit der sozialen Erkenntnis dessen, was sein soll, die nationale Erkenntnis dessen, was ist, zu verschmelzen begonnen hatte, da war es doch wieder unsere Vermählung mit der abendländischen Zivilisation, die es uns ermöglichte, unseren uralten Drang nach nationalem Sichausleben, der sich die Jahrhunderte hindurch entweder in dumpf sehnsüchtiger Klage oder in wilden messianistischen Ekstasen geäußert hatte, nun in der modernen Form zu entfalten, die wir Zionismus nennen. Und ebenso war es jene Vermählung, die unsere Sehnsucht nach Schönheit und Schaffen, die im Ghetto immer wieder totgequält wurde, zu der jungen Macht heranreifen ließ, der wir, in ihrer unfertigen Gegenwart die große Zukunft verehrend, den Namen „jüdische Kunst“ gegeben haben. Diese Macht bedeutet in unserem Volke die Wiedergeburt des Schaffens. Die überströmende Bewegung unserer Seelen setzen wir nicht mehr in abgesonderte Intellektarbeit um, sondern in eine Tätigkeit des ganzen Organismus, und durch diese Tätigkeit in Linien und Klänge, in lebendiges Sein, das wieder lebendiges Anschauen weckt.


Freilich, die Tatsache allein, dass wir wieder Künstler haben, genügt noch nicht, um die Existenz einer jüdischen Kunst zu begründen. Doch sind wir in der jüngsten Zeit bereits ganz leise über diese erste Stufe, das bloße Vorhandensein von Künstlern jüdischer Abstammung hinweg- und emporgeschritten. Das kam so, dass dieser und jener von unseren Künstlern, von der Kraft seines Blutes getrieben, der Seele seines Volkes huldigte und seine Werke von ihr beschenken ließ. Es ist in den Jahrtausenden unseres Volkslebens ein Schatz von feinen heimlichen Seelenwerten angesammelt worden, und aus diesem begannen unsere Künstler zu schöpfen. Manche gingen noch weiter: sie verwandten das von der unbewussten Arbeit der Volksgeschlechter Geschaffene: Motive und Stoffe. Und auf dem Wege zu einer nationalen Kunst wird dieses Schaffen und Verwerten sich immer feiner und tiefer ausgestalten. Stehen wir nämlich einerseits ganz in der modernen Zivilisation, so können wir anderseits doch nichts von den Dingen aufgeben, worin sich die Seele unseres Volkes geäußert hat, als da sind: die Sprache, die Sitten, die naive Volkskunst der Lieder und Melodien, der Leuchter und Gewänder. Nur müssen wir alle diese Dinge nicht als etwas Heiliges mit scheuer Ehrfurcht betrachten, sondern als das Material, aus dem wir eine neue Schönheit aufzubauen haben, nicht als Statuen, die man nur von ferne bewundern darf, sondern als einen wertvollen Marmorblock, der auf unsere Hand und auf unseren Meißel wartet.

Doch auch dieses Stadium des jüdischen Schaffens, die Tatsache der nationalen Selbstbesinnung unserer Künstler, bedeutet noch nicht, wenn wir den strengen Sinn des Wortes anwenden, das Vorhandensein einer jüdischen Kunst. Und will man unter jüdischer Kunst nicht wie ich etwas Werdendes, im Entstehen Begriffenes, Unfertiges verstehen, sondern etwas Bestehendes, in sich Geschlossenes, Vollendetes, dann müsste ich auf die Frage nach dem Vorhandensein einer nationalen Kunst bei uns mit einem Nein antworten. Was uns dazu fehlt, ist der einheitliche Zusammenhang der Künstler, sowohl untereinander, als mit dem Volke selbst und dessen Idealen. Eine nationale Kunst braucht einen Erdboden, aus dem sie hervorwächst, und einen Himmel, dem sie entgegenblüht. Wir Juden von heute haben keines von beiden. Wir sind die Sklaven vieler Erden und zu verschiedenen Himmeln fliegen unsere Gedanken auf. Im tiefsten Seelengrunde aber haben wir keine Erde und keinen Himmel. Wir haben kein Volksland, das unsere Hoffnungen im Schöße trüge und dem Schreiten unserer Füße Festigkeit verliehe, und wir haben keine Volkssonne, die unsere Saaten segnete und unseren Tag vergoldete. Eine nationale Kunst braucht eine einheitliche Menschengemeinschaft, aus der sie stammt' und für die sie da ist. Wir aber haben nur Stücke einer Gemeinsamkeit, und leise erst regt es sich in den Teilen, zu einem Leibe zu werden. Nur mit der fortschreitenden Wiedergeburt kann die jüdische Kunst werden und wachsen. Eine vollendete jüdische Kunst wird erst auf jüdischem Boden möglich sein, ebenso wie eine vollendete jüdische Kultur überhaupt. Aber das, was heute schon da ist, das sind Kulturkeime, Kunstkeime; und die müssen hier in der Fremde mit zarter liebender Hand gepflegt werden, bis wir sie in die heimatliche Erde verpflanzen können, auf der sie sich erst entfalten werden. Das, was wir jüdische Kunst nennen, ist kein Sein, sondern ein Werden, keine Erfüllung, sondern eine schöne Möglichkeit, ebenso wie der Zionismus heute ein Werden und eine schöne Möglichkeit ist. An beider Wachstum kann jeder von uns, gleichviel wie die Art seiner Tätigkeit beschaffen ist, mitarbeiten. Jeder von uns kann in seiner Weise wie dem Zionismus so auch der jüdischen Kunst die Wege bahnen.

Mancher wird nun wohl nicht einsehen, weshalb die Entwicklung unserer Kunst eine so große und wesentliche Sache für uns ist. Zunächst diejenigen nicht, welche die Internationalität der Kunst betonen. In sehr feiner Weise hat diesen vor kurzem der schwedische Maler Richard Bergh in einem Brief an die Schriftstellerin Ellen Key geantwortet. Er gab zu, dass man im ästhetischen Genießen nicht nach der Nationalität frage. „Aber,“ fuhr er fort, „das Glück des Momentes ist nicht das Wichtigste für den Menschen, sondern seine Lust zu schaffen, seine Sehnsucht. In einem vollendeten Garten will man am liebsten genießen und ruhen, aber wenn man unbebaute Erde sieht, will man schaffen — Gärten, neue, eigentümliche, nie zuvor gesehene, sie mögen nun groß oder klein werden. „Ubi bene, ibi patria“ ist eine alte Lüge. Nicht das Land ist das beste, in dem man am meisten genießt, sondern das, wo man am besten schafft.“ Solch ein neuer, eigentümlicher, nie zuvor gesehener Garten soll die jüdische Kunst sein. Denn in dem künstlerischen Schaffen sprechen sich die spezifischen Eigenschaften der Nation am reinsten aus; alles, was diesem Volke, und nur ihm, eigen 4st, das Einzigartige und Unvergleichbare an ihm, findet greifbare lebendige Gestalt in seiner Kunst. So ist unsere Kunst der schönste Weg unseres Volkes zu sich selbst.

Die Wiedergeburt des jüdischen Volkes ist, wie ich bereits angedeutet habe, zugleich die Form, in der dieses Volk an einer großen Kulturbewegung der heutigen Menschheit teilnimmt. Zionismus und jüdische Kunst sind zwei Kinder dieser unserer Wiedergeburt. Was bedeutet nun die jüdische Kunst für ihren älteren Bruder? Was bedeutet sie für uns als Zionisten? Sie bedeutet uns zunächst einen großen Erzieher. Einen Erzieher zu lebendigem Anschauen der Natur und der Menschen, zu lebendigem Empfinden alles Starken und Schönen, zu diesem Anschauen und Empfinden, das uns so lange gefehlt hat und uns nun durch die Bilder und Dichtungen unserer Künstler wiedergegeben werden soll. Und es ist sehr wesentlich für uns als Zionisten, dass dieses lebendige Anschauen und Empfinden unserem Volke wiedergewonnen werde. Denn nur ganze Menschen können ganze Juden sein — die fähig und würdig sind, eine eigene Heimat sich zu erschaffen. Aber unsere Kunst bedeutet noch in viel direkterer Weise einen Erzieher zum wahren Judentum. Keine Sprache ist so eindringlich, so überzeugend wie die Sprache der Kunst; keine kann so wie sie offenbaren, was das Leben und was die Wahrheit ist. Und unsere Kunst wird eine starke Künderin des auferstandenen Judentums werden, sie wird mit der Gewalt der Formen und Melodien, mit der Gewalt der Schreie und Visionen alle schlummernden Herzen ergreifen und wird wie ein Sturmwind in sie hineintragen das Lied vom werdenden Zion. Unsere Kunst wird sich erheben, und wo einer sagen wird : Dieses Volk ist tot, da wird sie seine Augen schlagen mit gewaltigem Strahl, dass sie sehend werden und ihre Schönheit schauen und erkennen, dass dieses Volk so voll von lebendigen Säften ist und von überströmender Lebenskraft, wie nur irgendein Volk auf Erden. Unsere Kunst wird, das herrlichste Kulturdokument, nach außen Zeugnis ablegen, dass eine neue jüdische Kultur sich zu bilden beginnt. Unsere Kunst wird aber auch uns selbst belehren. Denn die tiefsten Geheimnisse unserer Volksseele, das große Mysterium Jeschuruns wird in ihr offenbar werden und leuchten mit dem Glänze des ewigen Lebens. Wir werden sie anschauen und uns erkennen.

Aus einem Referat, erstattet auf dem V. Zionisten-Kongress zu Basel am 27. Dezember 1901
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jüdische Bewegung 1900-1914