Jüdische Wissenschaft (1901)

Auf die Tagesordnung des fünften Zionistenkongresses ist unter den Fragen der „geistigen Hebung“ auch der Punkt „Jüdische Wissenschaft“ gesetzt worden. Es dürfte manchen braven Zionisten geben, der diesem Punkte ratlos gegenübersteht. Was ist jüdische Wissenschaft? Zu welchem Zweck und wie übt man jüdische Wissenschaft? Wo ist sie? Was hat sie mit dem Zionismus zu schaffen? Und was mit den Fragen der geistigen Hebung des jüdischen Volkes? All dies ist nicht ohne weiteres klar. Wir müssen versuchen, die Bedeutung einer jüdischen Wissenschaft und ihren Zusammenhang mit unseren Bestrebungen klarzulegen.

Eine jüdische Wissenschaft kann einen dreifachen Sinn haben. Sie kann, je nach ihrem Ausgangspunkt, entweder Wissenschaft des Judentums sein, oder Wissenschaft der Judenfrage, oder Wissenschaft des Zionismus. Im ersten Fall würde sie von der historischen und gegenwärtigen Wirklichkeit des jüdischen Volkes ausgehen, sie würde sich die Beschreibung und Erklärung des tatsächlich Gegebenen zum Ziele setzen und keine praktischen Gesichtspunkte hineintragen, es sei denn den, aus dem Gewirr der widerstreitenden Erscheinungen einheitliche Entwicklungen herauszulösen. Im zweiten Fall hätte sie sich mit einem eminent praktischen Problem zu beschäftigen, mit der Pathologie der gegenwärtigen Judenschaft und mit der Anomalie ihrer Beziehungen zu den anderen Völkern; sie hätte es nicht so leicht, wie die Wissenschaft des Judentums, objektiv zu bleiben, denn schon bei der Auswahl des Materials würde der Zweck mitreden. Noch schwieriger würde einer Wissenschaft des Zionismus werden, die Objektivität zu wahren; sie würde nicht von einer Frage, sondern von einer Antwort ausgehen, von einer Antwort, die in den meisten Fällen nicht wissenschaftlich, sondern intuitiv, jedenfalls subjektiv gefunden wurde, und die nun begründet werden soll; da könnte nicht bloß bei der Auswahl, sondern auch bei der Ausgestaltung, Deutung und Bewertung des Tatsachenmaterials der Zweck leicht das entscheidende Wort führen.


Die beiden letzteren Auffassungen erinnern an die wissenschaftliche Behandlung aktueller sozialpolitischer Themen, und zwar in dem einen Fall an eine von einem unbefangenen Volkswirtschaftler, in dem anderen an eine von einem Parteigelehrten unternommene. Den Unterschied beider Fälle wollen wir hier nicht berücksichtigen. Aber offenbar sind beide nur Stückwerk und für den Tag gemacht, wenn sie nicht an die großen Traditionen, der Wissenschaft vom sozialen Leben überhaupt anknüpfen. Sie dürfen sich nicht herausnehmen, mehr sein zu wollen, als Anbau und Übergang. Und nur wenn sie nicht mehr sein wollen, sind sie etwas. So darf auch die Wissenschaft der Judenfrage oder des Zionismus nicht mehr sein wollen, als Anbau und Übergang. Aber Anbau woran? Übergang wozu?

Es kann eigentlich nur eine jüdische Wissenschaft geben: die Wissenschaft des Judentums, die teils von selbst in eine wissenschaftliche Behandlung der Judenfrage und des Zionismus auslaufen müsste (da sie die historische und soziologische Erklärung der gegenwärtigen Verhältnisse bringen würde), teils von ihr ergänzt werden könnte, wie die theoretische Nationalökonomie von der Wirtschaftspolitik. Aber wo ist diese Wissenschaft des Judentums?

Man wird mir antworten: sie ist nicht da. Und man wird hinzufügen: und eine Wissenschaft kann nicht gemacht werden.

Das ist richtig. Sie ist nicht da. Und sie kann nicht gemacht werden. Sie ist nicht da, denn es gibt weder ein abgegrenztes Arbeitsgebiet, das ihr zugehörte, noch eine definierte Methode, die in ihr systematisch angewendet würde. Und sie kann nicht gemacht werden, denn eigentliche Wissenschaft entsteht nicht aus Plänen, Schemas und Programmen, so voll guten Willens sie auch sein mögen, sondern aus der weitsichtigen aber engbegrenzten Forschung der Wissensmenschen. Pläne und Programme sind ihr nicht Fundament, sondern Giebel.

Und doch sprechen wir nicht etwa bloß von wissenschaftlich betriebenem Zionismus, sondern von jüdischer Wissenschaft. Ich gebe zu, dass dieser Ausdruck nicht ganz korrekt ist, er soll nur aus praktischen Gründen beibehalten werden. Aber akzeptiert man ihn für das, was wir meinen (ich werde seine relative Berechtigung zu begründen versuchen), dann sind auch die Antworten auf die Fragen, wo diese Wissenschaft denn eigentlich sei, nicht ganz richtig.

Denn wenn man will, ist sie doch da: zum kleineren Teil in der sogenannten „Wissenschaft des Judentums“, zum größeren in den verschiedenartigsten Disziplinen. Und es handelt sich nicht um ein Machen, sondern um ein Herauslösen und Angliedern. Dieses Herauslösen und Angliedern soll aber nicht geschehen, um eine in den Augen der Wissenschaftslehre gültige selbständige Wissenschaft zu schaffen — ein selbständiger Stoff ohne selbständige Methode genügt niemals, um eine besondere Wissenschaft zu begründen — sondern um das Unsere zu sammeln, um ein sich fortentwickelndes Inventar des Judentums aufzustellen, um zu sehen, was wir sind, was wir haben und können. Ist dies zwar auch ein praktischer Gesichtspunkt, wie jene, von denen ich früher gesprochen habe, so wird er doch der Objektivität und der Vollständigkeit des in Frage stehenden Wissenschaftskomplexes nichts anhaben können.

Es sollen also aus den in Betracht kommenden Disziplinen die das Judentum betreffenden Partien herausgelöst und an die bestehende sogenannte „Wissenschaft des Judentums“ angegliedert werden. Es ist zu hoffen, dass durch diese und die daran zu knüpfende organisatorische Arbeit, sowie durch die Entwicklung und Vertiefung der national-jüdischen Bewegung das Interesse für das neu angegrenzte Stoffgebiet eine wachsende Steigerung erfahren wird, und dass jüdische Gelehrte der verschiedenen Disziplinen, jeder auf seinem Gebiete, sich der Erforschung der bloßgelegten Probleme widmen werden.

Wie steht es nun um die sogenannte „Wissenschaft des Judentums“, die den Kristallisationskern für den zu schaffenden Komplex bilden soll?

Das eine steht wohl fest, dass sie ihren großen Namen mit Unrecht führt. Sie hat wohl seit jeher bedeutende Männer zu den Ihren gezählt. Sie hat wohl ihre Methode in kritischer Feinheit und heuristischem Scharfsinn erstaunlich ausgebildet. Sie hat wohl einen seltenen Eifer im Suchen, Vergleichen und Feststellen an den Tag gelegt. Aber sie blieb, was sie war, und musste es bleiben: eine Abteilung der Philologie. Ihr Gegenstand war das altjüdische Schrifttum; der Weg ihrer Forschung war der philologische. Den Namen „Wissenschaft des Judentums“ verdient sie noch viel weniger als etwa die Germanistik den Namen einer Wissenschaft des Deutschtums.

Laien haben wohl auch anderwärtige wissenschaftliche Schöpfungen zu ihr gerechnet. Aber eine Geschichte des jüdischen Volkes wird doch wohl der historischen Wissenschaft zugehören, eine Abhandlung über die Gesetzgebung der Bibel oder des Talmuds der allgemeinen Rechtsgeschichte, Studien über jüdische Sagen und Bräuche der Volkskunde, Forschungen über Denkmäler altjüdischer Kunst der Archäologie und der Kunstgeschichte. Und auch die Arbeiten über das jüdische Rassenproblem, über die psychophysische Eigenart des Judentums, über das altjüdische Wirtschaftsleben, über die soziale Schichtung unseres Volkes, über die Evolution seiner spezifischen Sitten und seiner spezifischen Sittlichkeit, über den Weg des jüdischen Geistes und der jüdischen Kultur — alle diese Arbeiten, die wir erhoffen, werden nicht jener auf die philologische Methode angewiesenen Wissenschaft, sondern der Anthropologie, der Ethnologie, der Wirtschafts-, der Sozial-, der Sitten-, der Kulturgeschichte zugehören, Disziplinen, die andere Zwecke und so auch andere Mittel haben.

Theoretisch verschmelzen können diese, beiden Gebiete — die philologische Judaistik einerseits und die das Judentum behandelnden Kapitel der anthropologischen, historischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen anderseits — niemals. Sie können nur praktisch verbunden werden. Dass dies möglich ist, dafür erwächst uns in unseren Tagen ein eigentümliches und wertvolles Beispiel: die Jewish Encyclopaedia. Aber diese jüdische Enzyklopädie ist, ein so denkwürdiges Werk sie auch sein mag, dennoch ein unvollkommenes Beispiel, oder wenn man will, nur ein Beispiel. Sie kann vor allem gerade als Enzyklopädie kein rein wissenschaftliches Unternehmen sein. Sie wird bedeutsame wissenschaftliche Abhandlungen bieten, aber kein wissenschaftliches Ganzes; das verwehrt ihr ihre Form, ihr System, ihre Aufgabe. In der Mitteilung der Tatsachen wird sie gründlich sein können, die großen Zusammenhänge wird sie nicht zu heben vermögen, die das letzte Ziel der wissenschaftlichen Tätigkeit sind; ja es wird ihr nicht möglich sein, von irgendeiner Erscheinungsseite des Judenvolkes ein ganzes festgefügtes Bild zu geben; sie müsste denn dem Gesetze ihres Wesens untreu werden und sich zu einer Reihe großer selbständiger Arbeiten auswachsen. Das erscheint mir und wohl jedem Kundigen nach der Anlage des Werkes ausgeschlossen. Die Jewish Encyclopaedia, die manchem wie ein Abschluss aussieht, kann in Wahrheit nur als eine großartige Vorarbeit bezeichnet werden.

Wenn wir ferner bedenken, dass die Enzyklopädie manche der obengenannten Disziplinen — z. B. die sozialwissenschaftlichen — nicht genügend berücksichtigt und wohl auch nicht berücksichtigen kann, so wissen wir wohl schon, wo wir anzusetzen haben.

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Ich habe nachzuweisen versucht, dass es keine im strengen methodischen Sinn gültige jüdische Wissenschaft geben kann, sondern nur einen jüdischen Wissenschaftskomplex, der durch Herauslösung der das Judentum betreffenden Abschnitte aus den verschiedenen Disziplinen und durch systematische Angliederung dieser Abschnitte an die modern aufgefasste philologische Judaistik hergestellt werden könnte. Das vorausgeschickt, werde ich ihn im nachstehenden aus Zweckmäßigkeitsgründen als „jüdische Wissenschaft“ bezeichnen.

Damit wäre unsere erste Frage: ,,Was ist jüdische Wissenschaft?“ im wesentlichen beantwortet. Eigentlich wissen wir aber auch schon ihren Zweck. Wir sollen jüdische Wissenschaft treiben, um das jüdische Volk in seinen Grundlagen, seiner Entwicklung, seiner gegenwärtigen Verfassung kennen zu lernen. Das hat eine doppelte Absicht. Zunächst die, das zu erkennen, was man liebt. Dann aber auch, aus dem Gegebenen zu erforschen, was unserem Volke Not tut und was es zu erwarten hat, seine Bedürfnisse und seine Möglichkeiten. Die einen wie die anderen, um einen Plan jüdischer Politik großen Stils wissenschaftlich fundieren zu können, d. h. um an das zu gehen, was wir als „Wissenschaft der Judenfrage“ bezeichnet haben.

Der Zweck ist also ein theoretisch-praktischer. Das Praktische an ihm mag sogar überwiegend sein. Nun ist es selbstverständlich, dass es nicht der richtige Weg wäre, wenn alle, die es angeht, sich durch sämtliche in Frage kommenden Disziplinen durcharbeiten und jeder sich selbst das Jüdische herausschälen müsste. Das wäre eine Kraft- und Zeitvergeudung, die wir uns keineswegs gestatten können. Es werden vielmehr Mittel gesucht werden müssen, die es allen möglich machen würden, jüdische Wissenschaft einheitlich und systematisch zu studieren. Unter diesen Mitteln gibt es zwei besonders wichtige, die ich das Werk und die Hochschule nennen möchte. Sie entsprechen der doppelten Funktion der Wissenschaft : der tätigen und der empfangenden.

Ich habe bereits ausgeführt, warum die Jewish Encyclopaedia nur als eine Vorarbeit aufgefasst werden darf. Es wird ein Werk zu schaffen sein, das nicht nach lexikalischen Gesichtspunkten, sondern nach einem wissenschaftlichen Plan entstehen müsste. Biographica und Allgemeinheiten würden einer strengen Darstellung der naturwissenschaftlichen, historischen, soziologischen Tatsachen und Zusammenhänge Platz machen müssen. Dieses Werk denke ich mir als Sammelschöpfung, an der die bedeutendsten jüdischen Gelehrten teilnehmen würden, jeder sich seiner Aufgabe als einer Mission bewusst, jeder das Seine selbständig und abgeschlossen gebend, und doch alle zusammen und ineinanderwirkend. Dieses Werk wäre, vollendet, eine Etappe der geistigen Arbeit, von der ans man wohl schon versuchen könnte, in die Zukunft des jüdischen Volkes zu schauen.

Von einer jüdischen Hochschule war in der jüngsten Zeit mehrfach die Rede. Der Gedanke lebte in den besten Juden dieser Tage. Er wurde auf dem Zionistenkongress ausgesprochen. Dann tauchte er wiederholt in Zeitschriften auf. Dann in positiver Form in Amerika, durch die Persönlichkeit seines Apostels mit der Enzyklopädie zusammenhängend. Hierauf wieder Zeitschriftendiskussion. Aus alledem haben sich für mich einige Leitsätze herausgebildet, die namentlich zu der amerikanischen Gründung in entschiedenem Gegensatze stehen. Sie lauten: 1. Eine jüdische Hochschule ist eine Notwendigkeit, als das Hauptmittel zur Heranbildung eines modern jüdisch denkenden Geschlechtes, als die Vorbereitung einer Zukunft für die jüdische Wissenschaft, als die Zentrale der Bestrebungen einer geistigen Hebung unseres Volkes. 2. Der Lehrstoff der Hochschule ist die jüdische Wissenschaft oder Wissenschaft des Judentums in dem von mir dargelegten Sinn. 3. Der Lehrstoff ist nicht nach dem hergebrachten unzulänglichen Schema „Geschichte, Literatur, Theologie“, sondern nach moderner wissenschaftlicher Methodik (etwa Anthropologie, Geschichte — worin selbstverständlich auch Literatur und Religionsgeschichte eingeschlossen wäre — und Sozialwissenschaft) in Abteilungen zu gliedern. 4. Der gegenwärtige Sitz der Hochschule kann nur in Europa sein, wo allein das in Betracht kommende Menschenmaterial zu finden ist. 5. Die Hochschule wird von der (im nachstehenden besprochenen) jüdischen Akademie durch eine von dieser ernannte Vertretung geleitet.

Die jüdische Akademie, von der ich hier spreche, wäre die Institution, in deren Tätigkeit das Werk und die Hochschule zusammentreffen würden.

Wir haben gesehen, dass dem „Werke“ heute noch beinahe alles fehlt: der systematische Plan, die Abgrenzung und Gliederung des Stoffes, der Entwurf der Form, die Organisation der Arbeitenden. Ebenso fehlt der Hochschule noch beinahe alles. All dies kann nicht von Einzelnen gegeben werden, sondern nur von einer hierzu berufenen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft möchte ich die jüdische Akademie nennen. Sie hätte die jüdische Wissenschaft aus dem Zustand der Monographie und der Verstreutheit in den des Werkes und des Gelehrtwerdens überzuführen. Heute ist noch Werk wie Hochschule unmöglich. Aufgabe der Akademie wäre es, sie möglich zu machen und ihre Leitung zu übernehmen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jüdische Bewegung 1900-1914