Gegenwartsarbeit (1901)

Der Zionismus tritt in die Phase der Gegenwartsarbeit ein.

Das ist natürlich nicht so zu verstehen, als ob jene Programmpunkte, welche die Arbeit an der Zukunft bestimmen, in den Hintergrund treten sollten. Ist es doch gerade der Erstarkung und Vertiefung unseres aktiven Glaubens an die Zukunft zu verdanken, dass die neuen Gesichtspunkte zum Durchbruch gelangt sind. Als wir Jungen mit glühendem, bebendem Herzen und vor Tatbereitschaft fiebernden Händen uns der Bewegung als dem lebendigen Ausdruck unserer Sehnsucht anschlössen, da war unser Glaube ein kernfrischer Enthusiasmus, eine Flamme, die zum Himmel schlägt, weiter nichts. Es war etwas Großes an unserer Begeisterung, aber auch etwas Unselbständiges und Unbeholfenes. Wir ließen uns von der guten Sache gefangen nehmen und wollten uns beschenken lassen. Wir streckten die Hände aus und baten um Arbeit. Für viele war das ja das Richtigste, was sie für ihre eigene und des Ganzen Entwicklung tun konnten. Für andere aber war es ein Raub an ihrem Selbst und ihren künftigen Leistungen. Sie baten um Arbeit. Die dachten sie sich im Sinne ihrer Ideen, die weltumspannend, wunderschön und unausführbar waren. Arbeit wurde ihnen zugewiesen, tüchtige, fruchtbare Arbeit im Dienste der Organisation und Agitation. Es wurde doch bei ihnen nicht Ganzes daraus, kein rechtes Werk und keine rechte Freude. Lag das wohl an ihnen oder an der Arbeit? Es waren willensstarke und leistungsfähige Menschen; es war ein schönes und reiches Tätigkeitsgebiet; aber beides passte nicht zueinander. Man hatte der Eigenart der Befähigung zu wenig Rechnung getragen. Darum lösten sich die einen ab, die anderen blieben, aber ohne den beglückenden Lebenshalt, den man von einem großen Ideal empfängt, dem man dient. Bis allmählich hie und da der Gedanke zu tagen begann, dass es vielleicht doch noch eine andere zionistische Arbeit gibt, die gerade für diese Menschen geschaffen ist.


Ich habe bereits gesagt, woraus dieser Gedanke sich bei den jungen Zionisten — denn aus ihrer Mitte ist er in Wahrheit emporgekommen — entwickelt hat: aus den Wandlungen, die ihr Glaube an die Zukunft durchmachte. Dieser Glaube war anfangs utopisch und phantasievoll, mehr auf deduktivem als auf empirischem Wege entstanden; in Poesie und Stimmungsglut getaucht, aber vag und ohne festen Inhalt. Hier hat die Agitationsarbeit, die so viel leere Rhetorik und phrasenselige Gedankenträgheit großzog, doch wieder erzieherisch gewirkt, und zwar auf zwiefache Art. Positiv dadurch, dass sie die jungen Schwärmer mit dem Reiche der Tatsachen und der strengen Wirklichkeit bekannt machte; negativ dadurch, dass sie sie unbefriedigt ließ und so veranlasste, eine andere wesenhaftere Betätigungsform zu suchen. Unser Glaube begann den Wegen der geschichtlichen Notwendigkeit nachzugehen und die gegenwärtigen Verhältnisse mit klarem, unbefangenem Auge zu betrachten. Daneben reifte eine Selbsterkenntnis heran, die uns befähigte, den Kreis unserer zionistischen Aufgaben selbst zu ziehen, soweit sie von unserer subjektiven Veranlagung abhängig sind. Innere und äußere Erkenntnis ergänzten sich; wir wurden selbständiger. Wir gingen verschiedene Wege; aber uns vereinigte eine Idee: wir stehen in einer Bewegung, in der Politik — die der straffen Zentralisierung bedarf — nur die letzte unentbehrliche Konsequenz bedeutet und in der Organisation und Agitation nur weitverzweigte und unentbehrliche Hilfsmittel sind, die relativ dezentralisiert sein und in den Händen der gerade hierfür Befähigten liegen müssen. Dagegen sehen wir das Wesen und die Seele der Bewegung in der Umgestaltung des Volkslebens, in der Erziehung einer wahrhaft neuen Generation, in der Entwicklung des jüdischen Stammes zu einer starken, einheitlichen, selbständigen, gesunden und reifen Gemeinschaft.

Zu diesem Ergebnis kommen zwei Gruppen auf verschiedenen Wegen. Die einen glauben, dass die Gewinnung unseres „Kinderlandes“ sich erst auf dem Boden der wiedergeborenen jüdischen Kultur, als deren Frucht und Folge, entwickeln werde; die anderen, die der Erde und der bodenständigen Volkseinheit allein kulturschöpferische Kraft zuschreiben, wollen nur eine Verbesserung und Veredlung unseres Menschenmaterials. Diese Verschiedenheit ist aber rein akademischer Natur; das unmittelbare Handeln wird von ihr gar nicht beeinflusst. Jedenfalls macht eine so exzeptionelle Bewegung wie die unsere, die eine so einzigartige und im letzten Grunde unvergleichbare Volksbefreiung anstrebt, auch ein exzeptionelles Programm nötig: das einer großen und radikalen Volkserziehung. Zu diesem Programm sind erst die ersten Ansätze vorhanden; es muss ausgestaltet werden. Ich denke es mir gleichsam als Programm des angewandten Zionismus; auf der Grundlage der Erkenntnis aufgebaut, konkret, lebensvoll, im schönsten Sinn praktisch, ohne Formeln, alle Strömungen berücksichtigend, allen Kräften Betätigung zuweisend, weit, aber nicht vieldeutig, das Höchste an Tat verlangend, aber auch das Höchste an Beseligung bietend.

Es genügt, anzudeuten, was dieses Programm leisten soll. Es soll vor allem die heute noch lose nebeneinander wirkenden Bestrebungen der Volkshebung zusammenfassen, kräftigen und leiten; es soll die Erzieher erziehen und die Unsicheren anregen. Es soll ferner jene sammeln, die in der Ära der Volksversammlungen ihr individuelles Arbeitsbedürfnis nicht befriedigen konnten und abseits traten. Es soll allen modernen national-jüdischen Bewegungen Raum schaffen innerhalb der Bewegung und so einem größeren Zionismus die Wege bahnen. Es soll den Zionismus erweitern, indem es alle geistigen Faktoren der Wiedergeburt vereinigt, und es soll ihn zugleich vertiefen, indem es vor dem starren und oberflächlichen Formelkram der Agitation zu einer innig lebendigen Erfassung des Volkstums und der Volksarbeit führt. Es soll endlich neben die Propaganda durch das Wort die heute schon allerorten sich durchringende Propaganda durch produktive Tätigkeit setzen.

Nur ein Programm der potenzierten Tätigkeit, wie wir es uns denken, kann die weckende und befruchtende Macht ausüben, die zu allen Zeiten von den Manifesten des triumphierenden Lebens ausging und Welten umgestaltete. Und nur ein solches Programm kann die Unseren zu der geistigen Freiheit und Selbständigkeit heranziehen, die einst alle Programme entbehrlich machen wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jüdische Bewegung 1900-1914