Ein geistiges Zentrum (1902)

Achad-Haam, der tiefste Denker der jüdischen Wiedergeburt, hat vor wenigen Wochen auf dem Kongreß der russischen Zionisten zu Minsk seine Forderung nach einem geistigen Zentrum für unsere Nation noch einmal in klaren und starken Worten ausgesprochen. „Ein geistiges Zentrum, der Renaissance unseres Volksgeistes geweiht, eine Heimstätte, in der sich alle Strahlen unserer Seelenkräfte sammeln könnten“. Dieses Ziel stellt er neben das einer Heimstätte für das Volk, nicht als etwas dem Wesen nach anderes und unabhängiges, sondern als die zweite notwendige und gleichwertige Seite desselben Ideals: der Volksbefreiung.

Freilich könnte man, so meint er, dieser Zielsetzung vorwerfen, sie verkenne die natürliche Entwicklung eines Volkes: diese vollziehe sich ständig von unten nach oben, von den Anfängen seines wirtschaftlichen Wachstums, seines körperlichen Erstarkens durch eine lange Evolution zur Entfaltung der geistigen Kräfte. Solche an sich richtige Einwände rechneten nicht mit der einzigartig abnormen Art und Lage der jüdischen Nation. Wir entwickelten uns von oben nach unten. Wir seien wie jener seltsame Bachur, der Philosoph Salomon Maimon, den Kant als seinen größten Gegner ehrte, und der erst nach mancherlei Philosophieren das deutsche Alphabet erlernte. Auch ihm hätten die Klugen und Evolutionskundigen raten mögen, erst mit dem Buchstabieren fertig zu werden und dann erst ans Philosophieren zu gehen. „Wir müssen gleichzeitig von unten nach oben und von oben nach unten bauen. Das mag nicht natürlich sein, aber es ist notwendig.“


Dieses Paradox, das jeden, der noch in jenem sonderbarsten Erdreich, im jüdischen Volke wurzelt, doch als die unmittelbarste Wahrheit ergreifen muss, wird den Losgelösten vielleicht vergeblich entgegengehalten werden. Diese kommen stets mit Argumenten aus fremder Historie, weil sie die eigene nicht erkannt haben. Darum wird es gut sein, die Diskussion von dem Gebiete der Theorie, auf dem Analogiebeweise mehr gelten als die intuitive Erkenntnis absolut unvergleichbarer Individualität, auf das des Willens und des Strebens nach Einwirkung auf das Geschehen zu verpflanzen.

Selbstverständlich kann nur mit denen geredet werden, welche die Produktivierung der Volksart und die Entfaltung der Volksseele überhaupt für unbedingt wünschenswert und erstrebenswert halten. Diejenigen, die nur von „sozialem Empfinden“ — das in Wirklichkeit in diesem Falle nichts anderes als eine Art von Mitleid ist — erfüllt sind und denen die Judenfrage vor allem eine Frage der Judenheit, und erst in der zweiten oder dritten Reihe oder auch gar nicht eine Frage des Judentums ist, kommen hier nicht in Betracht. Aber auch jene, denen die Wiedergeburt des jüdischen Geistes etwas absolut Wertvolles ist, wollen die „Kulturarbeit“ nicht als gleichberechtigt neben der ökonomischen und politischen dulden. Ihre Einwände haben zwei Grundtypen. Der eine lautet etwa: „Wie könnt ihr das Volk geistig und sittlich erziehen, ohne es vorher durch wirtschaftliche Hebung befähigt zu haben, eure Erziehung aufzunehmen?“ Und der andere: „Alle Kulturgüter, auf deren Schaffung eure Arbeit hinzielt, müssen Stückwerk bleiben, wenn nicht zuvor durch die territoriale Einigung und Vereinheitlichung dem Volke die Möglichkeit einer stetigen normalen Entwicklung gegeben ist.“

Auf einen dritten Einwand allgemeiner Art, der ein Eingreifen in die „Evolution“ für zwecklos, ja unmöglich erklärt, kann ich hier nicht näher eingehen. Er beruht im letzten Grunde auf jenem „historischen Determinismus“, der, aus einer einseitigen Verallgemeinerung der naturwissenschaftlichen Methode er wachsen, die Menschheitsgeschichte kausal konstruieren will, während sie nur teleologisch zu begreifen ist.

Jene beiden spezielleren Einwände betreffen zwei verschiedene Funktionen unserer Kulturarbeit: der erste die Bestrebung, die schlummernden oder niedergehaltenen Kräfte zu wecken und loszubinden; der zweite die Versuche, den vorhandenen Kräften Betätigung, und dadurch auch weitere Entwicklung, und zwar Betätigung und Entwicklung innerhalb des eigenen Volkstums und der eigenen Gemeinschaft zu ermöglichen. Diese beiden Funktionen hängen innig zusammen und jede dient der anderen, denn die erste bereitet den schaffenden Geistern ein aufnahmefähiges Volk und die zweite ermöglicht eine freiere und reichere Produktion nationaler Kulturgüter, die wieder in die Erziehung und Höherbildung des Volkes eingreifen. So herrscht denn auch auf jedem Punkte und in jedem Augenblick die lebendigste Wechselwirkung zwischen beiden Funktionen. Dennoch ist es offenbar, dass die erste Form der Arbeit sich zunächst und unmittelbar mit den Volksmassen, die zweite mit einer geistig höchstentwickelten, schöpferisch begabten Minderheit beschäftigt. Dementsprechend verhält es sich mit den beiden angeführten Haupteinwänden.

Der erste dieser Einwände sieht dem von Achad Haam zitierten ähnlich, aber er holt nicht wie dieser seinen Beweis aus der „normalen Entwicklung der Völker“, sondern aus den „wirklichen Verhältnissen“. Wie wollt ihr, so lautet etwa die Frage, den jüdischen Lumpenproletarier erziehen, da er doch weder Muße noch physische Möglichkeit hat, eure Erziehungselemente durch Lesen oder Zuhören in sich aufzunehmen? Schafft ihm erst Zeit und Freiheit, schafft ihm menschliche Daseinsgrundlagen und einen normalen Organismus, dann erst könnt ihr daran denken, seinen Geist auszubilden.

So nachdrücklich sich dieser Einwand auf die tatsächlichen Verhältnisse beruft, so unbekannt ist ihm doch ihre spezifische Natur. Das Vorgebrachte mag ja ziemlich genau zutreffen, wenn es sich etwa um den slawischen Bauern handelt: beim Juden ist es grundfalsch. Wäre nämlich der jüdische Kleinkrämer oder Lumpenproletarier etwas geistig Indifferentes, das nur für einen mehr oder minder engen physischen Lebensbedarf Gedanken zu produzieren imstande ist, so wäre es diesem tiefsten wirtschaftlichen Elend gegenüber ein törichtes, ja grausames Beginnen, Erziehungsexperimente an zustellen. Nun sind aber diese Kleinkrämer und Lumpenproletarier gerade die geistig prononcierteste aller Menschengruppen.

Das Leben des slawischen Bauern ist ein kraftökonomisches System. Er denkt kaum mehr, als zur Befriedigung seiner verschiedenen direkten und indirekten physiologischen Bedürfnisse notwendig ist. Manchmal überkommt ihn eine nachdenkliche, fast immer praktisch zugespitzte Neugier, manchmal ein schwerfälliges, inhaltsarmes Sinnen. Das ist auch alles. Das Leben des jüdischen „Luftmenschen“ hingegen ist alles eher als kraftökonomisch. Ein großer Teil seiner Zeit und Kraft gehört einer intellektuellen Arbeit, die nichts mit seinen Bedürfnissen, ja überhaupt nichts mit einem wirklichen Leben zu tun hat. Er denkt viel nach. Aber nicht über seine Erinnerungen und seine Wünsche. Nicht über Menschen und Dinge seiner Umgebung. Er denkt nach über die viel verschnörkelten, unlebendigen Deutungen von Stellen einiger uralter Bücher; einiger Bücher, von deren geschichtlicher Bedeutung, von deren geistigen, sittlichen, künstlerischen Werten, von deren lebensvollem Hintergrunde er keine Ahnung hat. Sein Denken steht außer aller Beziehung zu irgend etwas Wirklichem. Und diesem wesenlosen Denken, diesem Spinnen von Abstraktionen ist er mit Maßlosigkeit ergeben. Nicht nur die vielen, die das „Lernen“, das heißt eben das scharfsinnige aber lebensfremde und unfruchtbare Grübeln über Bücherstellen zu ihrem Lebensberuf machen und sich von ihren Frauen erhalten lassen, auch die ausschließlichen Geschäftsmenschen sind von dieser spezifisch jüdischen Geistigkeit erfüllt; sie durchtränkt ihr ganzes Tun, jedes Wort, jede Geste mit einer Fülle spitzfindiger Reflexion. Auch der slawische Bauer ist kein Instinktmensch, auch er denkt nach, bevor er etwas tut, in seiner langsamen, schwerfälligen Art. Aber sein Denken ist dem jeweiligen Zweck angepasst; es geht nicht über diesen hinaus. Der Jude denkt in jedem einzelnen Fall wohl schneller, aber zugleich doch viel mehr und viel mannigfaltiger. Und in seine praktischste Erwägung weben sich, ohne sie übrigens meistens zu beeinflussen, tausend lebensfremde Reminiszenzen und Gedankenschnörkel ein. Er denkt, um zu denken; überall findet er Gelegenheit dazu; und auch der Elendeste, Gedrückteste gönnt sich noch diesen Luxus. Es gibt nirgends sonst in der Welt Menschen, die zugleich solche Not leiden und solchen Geistesluxus treiben. Der „Luftmensch“ ist der eigentliche Luxusmensch.

Diese jüdische Geistigkeit ist eine ungeheure Tatsache, vielleicht die markanteste der ganzen großen jüdischen Volkspathologie. Und deshalb handelt es sich gar nicht darum, geistige Interessen zu wecken, sondern geistige Interessen umzugestalten. Hier ist ja unaufhörliche Geistesarbeit da; aber sie ist verzerrt, starr, krank, verschroben, wirklichkeitsfremd, unproduktiv, unmenschlich. Auf sie einzuwirken, sie zu heilen, sie umzuwandeln ist die große Forderung. Nicht erst die Fähigkeit, geistige Nahrung aufzunehmen, ist heranzubilden; diese Fähigkeit ist da und wird Tag für Tag bestätigt; aber andere Nahrung ist herbeizuschaffen und so, dass sie auch angenommen werde; dies ist notwendig, damit das Volk geistig gesund werde, und so ist es das Problem des Lebens. Denn (wenn man von dem sich in moderne Lebensformen von selbst einlebenden jüdischen Industrieproletariat absieht) man wird dem eigensinnigen Juden erst dann menschliche Daseinsgrundlagen schaffen können, wenn man in ihm den Wunsch nach ihnen erweckt hat, und auch das ist eine Sache der geistigen Erziehung.

Solchen Darlegungen gegenüber wird, wo sie als unwiderlegbar erkannt worden sind, zuweilen auf die künftige palästinensische Heimstätte und auf die Macht des mütterlichen Bodens hingewiesen. Mich hat es durchschauert, als ich kürzlich von einer Chewras lomde schas (Verein der Talmudlernenden) in einer der Kolonien, ich glaube in Rischon Lezion, las. Das mag ja vielleicht ein Vorurteil sein; und gewiss sind die gegenwärtigen Kolonien und die Heimstätte, wie wir sie uns vorstellen, zwei inkommensurable Größen. Auch bin ich durchaus überzeugt, dass die territoriale Einigung, die erneute Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Volkselementen, die Möglichkeit ruhiger, steter Betätigung aller Kräfte, wohl auch die klimatischen Verhältnisse des Landes, unter deren Einwirkung ja einst die Rasse entstanden ist, einen großen heilvollen Einfluss auf das gesamte Volksleben ausüben werden. Aber ich glaube, dass all dies doch nichts anderes tun kann, als die vom Volke selbst mitgebrachten Keime des Neuen zur Entfaltung bringen. Kulturkeime sich zu Kulturwerken anwachsen zu lassen. Ich weiß nicht, ob man behaupten darf, es werde auch mit dieser ganzen krankhaften jüdischen Geistigkeit aufräumen, der Orient werde diese Entartung einer orientalischen Eigenschaft heilen. Ich glaube nicht, dass man bei einer Unternehmung, zu deren Wesen ihre Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit gehört und deren Misslingen den Tod einer großen Kulturmöglichkeit bedeuten würde, daran denken darf, ein Volk wie tote Fracht auf Schiffe zu verladen, hinüberzuführen und dann vom Boden alles zu erwarten: die Erlösung der am schwersten kranken aller Nationen zu einem wahren Leben. Man muss vielmehr daran gehen, die jüdische Geistigkeit umzuwerten, nicht durch Theorien, sondern durch Arbeit: durch die Heranbildung immer neuer Schichten eines kolonisationsfähigen Menschenmaterials, und zugleich einen Plan zu entwerfen, auf Grund dessen es sich, wenn die ,, Kolonisation im großen Stil“ beginnt, bewerkstelligen ließe, dass gerade diese entwickeltsten Schichten zum Kristallisationskern der Ansiedlung werden. Die Heranbildung des Menschenmaterials hängt mit der nationalen Erziehung aufs innigste zusammen; in der wirklichen Kulturarbeit treten sie immer einheitlich auf. Jede Chederreform bringt uns einer starken, reifen und kolonisationsfähigen Volksgeneration näher; und wir können keine Ackerbauschule gründen, die nicht ein Quell nationaler Verjüngung wäre.

Die wesentlichste Frage der nationalen Erziehung ist selbstverständlich die der Jugenderziehung. Zwar lässt sich auch auf die Erwachsenen einwirken. Doch ist es offenbar, dass nur jungen und unfertigen, noch richtungslosen Seelen gegenüber ein Werk großer Umgestaltung möglich ist, und auch hier nur stufenweise im Wechsel der Generationen. Allerdings ist diese Arbeit stets wieder von einem Einwirken auf die Erwachsenen abhängig : eine durchgreifende Chederreform (in modern nationalem Sinn) ist zwecklos, wenn nicht gleichzeitig die Eltern über deren Bedeutung aufgeklärt werden; und wenn das Haus zerstört, was die Schule gebaut hat, wird allezeit nur Halbes herauskommen. Das mag ein Dilemma sein; aber eines, das durch intensives Tun aus dem Leben geschafft werden kann und muss. Dieses intensive Tun zu ermöglichen und zu organisieren, wird eine Zentralisierung der nationalen Erziehung, die Schaffung einer großen volkspädagogischen Institution erforderlich sein. Diese Frage ist — infolge der eigenartigen Verhältnisse, in denen sich insbesondere die vor allem in Betracht kommenden russischen Juden befinden — noch nicht spruchreif und kann heute nur als Anregung aufgeworfen werden. Bis sie in ein weiteres Stadium tritt, muss der Appell an alle Berufenen genügen, intensiver als bisher für die nationale Erziehung an den Orten ihrer Wirksamkeit tätig zu sein.

Kann in dieser Sache demnach das Problem des geistigen Zentrums noch keine zureichende Formulierung finden, so verhält es sich ganz anders mit einer anderen Seite der Kulturarbeit, die mit einer bestimmten, schon jetzt zentralisierbaren Form der nationalen Erziehung zusammenhängt.

Den Grundzug dieser Arbeit habe ich als die Bestrebung charakterisiert, den vorhandenen Kräften Betätigung und weitere Entwicklung zu ermöglichen. Bevor ich auf diesen Komplex von Fragen eingehe, muss ich zu dem ihn betreffenden Einwand Stellung nehmen. Er wird namentlich in jüngster Zeit von einigen Zionisten in ziemlich gleichmäßiger Weise gegen meine Freunde und mich erhoben. „Ihr strebt eine jüdische Kultur an,“ wird uns gesagt, „die wird aber erst in einem jüdischen Gemeinwesen entstehen können; jetzt und hier sind Anfänge einer jüdischen Kultur unmöglich.“

In diesem Einwand werden drei Dinge missverstanden: unsere Bestrebungen, das Wesen der Kultur und der ganze Gang der jüdischen Volksgeschichte, den gegenwärtigen Moment in seiner historischen Bedeutsamkeit mit eingeschlossen.

Es wird darin vorausgesetzt, es gebe keine jüdische Kultur, sondern wir strebten erst eine an. Das ist ganz unrichtig. Es gibt eine jüdische Kultur, und es hat nie aufgehört, eine zu geben. Man darf Kultur nicht mit voll und allseitig entwickelter Kultur verwechseln. Diese hat das jüdische Volk zu keiner Zeit, auch nicht zur Staatszeit, besessen. Aber es hat eine Erscheinung, wie z. B. die ganze Entwicklung der jüdischen Mystik, gegenüber keinen Sinn, von der Kulturlosigkeit der Diaspora zu sprechen. Vollends müßig ist dies aber angesichts historischer Phänomene, wie die Auferstehung der hebräischen Sprache. Wenn das nicht Äußerungen der jüdischen Kultur sind, so wüsste ich wirklich nicht, welcher Kategorie des Geschehens sie zuzuteilen wären. Die zitierte Behauptung ist also nichts anderes als ein Beispiel jener allerdings sehr gebräuchlichen Tyrannei des Begriffs, mit der die moderne Erkenntnis- und Sprachkritik endlich aufräumen sollte.

Auf Definitionen können wir hier verzichten. Aber das muss betont werden, dass alle Dinge, in denen sich die psychophysische Eigenart eines Volkes ausprägt, zu seiner Kultur gehören. Ein Volkslied, ein Tanz, ein Hochzeitsbrauch, eine malerische Sprachwendung, eine Sage, ein Glaube, ein traditionelles Vorurteil, ein Sabbatleuchter, ein Stirnreif, ein philosophisches System, eine soziale Tat, all dies ist Kultur. Dies lässt sich gerade am Leben des osteuropäischen Judentums beobachten, wo einem aus allen Lebensäußerungen die leidvolle, dumpf ringende Volksseele entgegenblickt. Eine Kultur kann freilich arm, krankhaft, einseitig, unentwickelt sein, aber darum hört sie nicht auf, Kultur zu sein. Eben dies lässt sich von der jüdischen Kultur sagen. Sie ist arm, krankhaft, einseitig, unentwickelt. Sie kann nur im eigenen Volkslande reich, gesund, allseitig, vollentwickelt werden. Davon bin ich überzeugt. Freilich muss sie es auch dort nicht werden. Das beweisen verschiedene Epochen der Staatszeit. Aber wir werden in unserer Hoffnung durch eine eigentümliche Erscheinung bestärkt.

Die Geschichte der Diaspora hat etwas Vulkanisches. Nirgends ein stetes Strömen der Produktivität. Es fehlt die Kontinuität der Persönlichkeit und des Schaffens. Die Kraft des Volkes glüht Jahrzehnte-, jahrhundertelang unter der Erde, um plötzlich hervorzubrechen in einem großen Menschen, in einem großen Werke. Und nun tritt allmählich, leise anhebend, dann immer stärker anschwellend, die innere Umwälzung ein, die ich „Jüdische Renaissance“ genannt habe. Unsichtbare Mächte schenken unserem Volke die Kontinuität wieder und das Schaffen des lebendigen Geistes, und sie schenken ihm das, was es nie besaß,, die Kunst. Wie müßig ist doch das Debattieren darüber, ob es eine jüdische Kunst gebe! Gewiss gibt es keine in dem Sinne, wie es etwa eine holländische gibt. Aber das sind ja nur Kategorien, und das große historische Wunder ist die Tatsache, dass es überhaupt jüdische Künstler gibt, und die andere, dass in ihrem Sehen, in ihrer Formgebung ganz leise und heimlich etwas von jüdischer Wesensart lebendig wird, etwas von dem Erbcharakter des reinen Blutes, das ihre Sehnerven, ihre Handmuskeln umspült.

Die Kontinuität der Produktion ist uns wiedergegeben worden. Immer stärker und stetiger wachsen geistige und künstlerische Kräfte aus dem Boden. Die Stimmung eines keimreichen gesegneten Saatfeldes steigt zu uns auf. Eines alten Volkes junges Jahr. Schon überschütten uns die Blüten dieses ungeahnten Frühlings. Aber der uralte Erzfeind wacht, jenes Mörderpaar der Jahrtausende: die Enge des Lebens und die Enge des Geistes, das äußere und das innere Ghetto, die noch immer nicht bezwungenen Mächte. Aber sie waren nur in der vulkanischen Zeit allmächtig; es waren immer nur wenige Einzelne zu besiegen, und gegen sie stand das größte leibliche und seelische Elend der Menschheitsgeschichte in Waffen. Heute ist es anders; und wenn uns die Wiedergeburt des Volkes kein Schlagwort, sondern ein Lebensernst und eine Lebensfrage ist, dann ist uns ein heiliger Krieg befohlen gegen diese beiden Widersachermächte, dann dürfen wir nicht zulassen, dass Tag für Tag junge Kräfte des Volkes zugrunde gehen, wir müssen daran arbeiten, dass sie bewahrt bleiben, dass sie sich entfalten, und dass sie uns bewahrt bleiben, dass sie sich für uns entfalten.

Keines Volkes der Erde Führer und Vertreter würden ruhig zusehen, wie ihm an allen Orten, zu allen Zeiten Talente des Geistes und der Kunst, Fähigkeiten, Möglichkeiten, Menschen verloren gehen. Bei uns wird weiter vegetiert. Überall sonst würde eine große Aktion ins Werk gesetzt, Betätigungszentren ins Leben gerufen werden. Bei uns schweigt man und tut, als wüsste man nicht, dass alltäglich Menschen starker und reicher Gaben in unheimlicher Zahl dahingerafft werden; nicht vom Tode, sondern von der Not, die sie ins Joch spannt und alle Himmelsstimmen vergessen lässt, von der Lebensenge, die sie eingesperrt hält und ihnen keinen Blick gewährt in die weite leuchtende Welt, von der Tradition, die das freie Feuer des Geistes und die bildnerische Heiligkeit der Kunst mit gleichem Sündenfluche trifft. Die aber, die all dies überwunden haben und durch all dies hindurchgelangt sind zu sich selbst und zu ihrem Werke, müssen sie sich nicht der Gemeinschaft entfremden, die sie gelästert und gepeinigt hat? Das apriorische Verdammen ist ein gar zu dürftiges Beginnen. Aber die Treugebliebenen, haben sie denn mindestens ein eigenes Publikum, zu dem sie reden können? Ist nicht die jüdische Bourgeoisie zu entartet, um sie hören zu wollen, und die jüdische Volksmasse zu dunkel, um sie verstehen zu können? Und die wenigen, die Ohr und Herz für sie hätten, gibt es eine Brücke zu diesen? Gibt es Zentren der Mitteilung, der geistigen und der künstlerischen?

Hier eröffnet sich eine Fülle von Aufgaben für eine Kulturarbeit. Und man begreife doch endlich, um was es sich handelt: diesen jungen Kräften, unserem teuersten nationalen Besitztum, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, ihnen Betätigung und Entwicklung in lebendigem jüdischen Geiste, in lebendiger jüdischer Kunst zu schaffen! So nur kann die Herrschaft jener alten kranken Kultur gebrochen und eine junge auf den Thron gesetzt werden. So nur können wir hoffen, neu den Boden des neuen Palästinas zu betreten.

Wir sind in die Epoche der Kontinuität eingetreten. Auch Zion kann nur als eine Konsequenz der inneren Volksentwicklung erstehen. An uns ist es, sie zu hüten und zu fördern.

Wir sind in die Epoche der Kontinuität eingetreten. Es gilt, auch in uns selber Kontinuität auszubilden, und eine vor allen: die zwischen dem Gedanken und der Tat.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jüdische Bewegung 1900-1914