Das Zion der jüdischen Frau. Aus einer Ansprache (1901)

Das Zion der jüdischen Frau — ist damit die Entwicklung gemeint, welche die jüdische Frau dereinst im Lande unserer Sehnsucht als Jüdin und als Frau durchmachen wird? Soll geschildert werden, wie das neue Leben auf freier, eigener Erde, die neue Art des Zusammenlebens mit Menschen in Güte und Schönheit, das ruhevolle gesegnete Schaffen, wie all dies und die anderen Reichtümer, die Zion der jüdischen Frau schenken wird, ihre schlummernden Fähigkeiten zu wunderbarer Kraft entfalten werden — und wie da auf altem, ewig jungem Boden mit der neuen Jüdin zugleich die neue Frau in ihrer Herrlichkeit erstehen wird? Soll nur von diesem Zion der jüdischen Frau, von dieser einstigen Erfüllung und Vollendung ihres Wesens erzählt werden? Ich habe mir heute eine engere, stillere und bescheidenere Aufgabe erwählt. Ich will von dem Zion sprechen, das da sein muss, bevor wir an jenem großen künftigen Zion zu bauen beginnen können: ich meine das Zion der Seelen. In den Seelen muss Zion geboren werden, bevor es in der sichtbaren Wirklichkeit geschaffen werden kann. Wenn alle, die zu uns gehören, ihren Zionismus nicht bloß mit Worten, sondern mit ihrem ganzen Sein betätigen werden, wenn sie alle ihr Leben als eine heilige Vorbereitung auf das Neue und Wunderbare, das da kommen soll, ansehen und es als eine solche Vorbereitung mit treuem Ernst und Entschlossenheit auch leben werden, wenn so ein Zion der Seelen da sein wird, eine große stille Gemeinschaft reifer und tatbereiter Menschen — dann, dessen können Sie gewiss sein, wird das andere, das palästinensische Zion nicht lange auf sich warten lassen. Denn wo die rechte Weihe ist, da ist auch die Kraft. In diesem Sinn nun möchte ich heute von dem Zion der jüdischen Frau sprechen, das heißt von der Wandlung, die in den Seelen der jüdischen Frauen vor sich gehen muss, damit Zion eine Wirklichkeit werde.

Zunächst aber bitte ich Sie, einen Blick auf die Geschichte der jüdischen Frau zu werfen.


Zur Zeit des jüdischen Staatslebens ruht das ganze innere Leben auf der Familienorganisation. Die Frau ist die gleichberechtigte Beherrscherin des Hauses, und wahrhaft königlich ist die Schilderung, welche die Bibel von ihr entwirft. Sie ist Prophetin und Sängerin, die Anregerin zu allem Guten und Starken und die Spenderin des Kampfpreises. Sie entfaltet zuerst jenen wunderbaren duldenden Heroismus, der ein Erbteil des jüdischen Stammes bleibt. Sie leitet die großen Volkswerke ein; es ist bezeichnend, dass die Tradition die Befreiung aus Ägypten auf das Verdienst der edlen Frauen zurückführt.

In der Epoche des Aufbaus eines geistigen Vaterlands nach dem Verlust der Heimat, in der Zeit der Entstehung des Talmuds bildet sich die Hochschätzung der Frau noch stärker aus. In den Schriftwerken dieser Zeit tritt sie als die naive Meisterin auf, deren freies und ungetrübtes Gemüt das Wesen der Dinge erfasst, und die, frisch zugreifend, die Dinge resolut bewältigt.

Aber die höchste Bedeutung erlangt die Frau in der Zeit des Ghettos. Hier drängt sich alles Leben in der Familie zusammen. Das freie Staatsleben wird durch das engere, aber freudige Familienleben ersetzt. Hier tritt die Frau als Schöpferin einer geschlossenen Familienkultur auf. Sie nimmt dem Mann einen großen Teil seiner Geschäfte ab und ermöglicht es ihm, unbehindert seinen geistigen Interessen nachzugehen. Mitten in der schwersten Verfolgung spendet sie ihm Mut und Zuversicht. Sie erzieht ihre Kinder zu tapferen und willensfesten Juden. Sie bringt in das Haus eine wunderbare Naturfrische, die fast das verlorene junge Grün der Heimat ersetzt. Sie erhält gleichsam den lebendigen Zusammenhang mit der Mutter Erde und gestaltet das Leben zu einem vollen aus.

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Stellen Sie nun neben die königlichen Gestalten der Staatszeit, neben die mütterlichen und. leidenstarken Gestalten des Exils die Gestalten der großen Mehrzahl der heutigen jüdischen Frauen. Was Sie erblicken, ist Entartung. Entartung des Volkstums, Entartung des Hauses, Entartung der Persönlichkeit.

Diese Erscheinung hat zwei Ursachen, die einander auszuschließen scheinen: die Verfolgung der Juden und deren sogenannte Emanzipation.

In der großen Zeit des Ghettos waren die Leiden des Juden so unsagbar schwer, wie tief und innig seine Freuden waren. Im Guten und im Bösen war er in ein großes Schicksal hineingestellt, und daran entwickelte er sich. Das Leid löste seine Kraft aus, den ihm eigenen passiven Heroismus, das häusliche Glück seine Herzensgüte und Opferfreudigkeit; beide vereint ließen ihn treu werden, treu der Vergangenheit und treu den Genossen. Das wurde allmählich anders. Die Verfolgung wurde mit der fortschreitenden sogenannten Zivilisation kleinlicher und perfider, sie bedrohte nicht mehr das ganze Sein, sie drängte sich in jede Stunde des Lebens, in jede Tätigkeit des Alltags; aus dem einen Dolchstich waren tausend Nadelstiche geworden, aus dem großen Schicksal, das aus dem Menschen das Heldentum herauslockte und „eine Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art“, war ein mühselig schleppendes, gequältes und gehetztes Dasein geworden. Und mit den kleineren Leiden wurden auch die Freuden kleiner. Die schöne Einheit des Hauswesens lockerte sich, der gesteigerte Kampf ums tägliche Leben trennte die Ehegatten und behinderte die Kindererziehung, die scheinbar größere Gefahrlosigkeit wirkte der starken Volkswehr, den zusammenhaltenden und nach außen abschließenden Eigensitten entgegen.

Dieser Auflösungszustand wurde durch die Erklärung der legalen Gleichberechtigung der Juden in hohem Grade verstärkt. Ihr Trieb der Selbsterhaltung passt sich den neuen Daseinsbedingungen in ebenso extremer Weise an, wie extrem früher ihre Abgeschlossenheit war. An dem nun entstehenden Assimilationsfanatismus nehmen die Frauen, die sich am leichtesten der Umgebung anschmiegen und deren Art annehmen, am lebhaftesten teil. Und indem alles dem Fremden nacheifert, wird der innere Ausbau des Judentums lahmgelegt, alle Eigenkraft abgetan, die Familie zerstört, die allgemeine Solidarität aufgehoben, die selbständige Kultur vernichtet.

So erklärt sich die Entartung so vieler jüdischer Frauen. Die straffe Familienorganisation, in der die Lebenskraft unseres Volkes ruhte, zerfällt unter dem Andrang des Fremden; mit den jüdischen Sitten geht auch das jüdische Haus, mit der Treue auch die Liebe verloren. Das Gefühl der Verlassenheit, das der Mangel an innerer Freude erzeugt, sucht man durch äußerliches, möglichst geräuschvolles Wohlleben zu betäuben. So wird die Frau ihrem Wirkungskreis immer mehr entfremdet. Sie, die früher Herrin im eigenen Hause war, wird jetzt die Sklavin ihrer christlichen Dienstboten. Ihr Bestes verkümmert. Sie gibt sich einem öden, nervösen Müßiggange hin. Die schöne alte Wohltätigkeit der Juden wird bei ihr zum Protzentum. Der königliche Schönheitsdrang der jüdischen Frauen wird durch sie zu einer geschmacklosen und ungesunden Prunksucht verzerrt, wie wenn jemand ein schönes Nationalkostüm zu einem grellbunten Faschingsnarrenkleide umgestalten würde. Die innige, hingebende Gläubigkeit der Jüdin ist ihr verloren gegangen, ohne einer neuen starken Lebensanschauung Platz zu machen; die beschwerlicheren Bräuche werden aufgegeben, einige leichtere, ohne Erfassung ihres Sinns, ohne das Gefühl ihrer Weihe, in Eile abgetan. Unter dem Einfluss dieses kleinlichen und inhaltlosen Vegetierens verliert der jüdische Mann immer mehr jeden hohen Eifer und geht völlig im Erwerbsleben auf, und die Jugend, die Jugend, welche das Leben und die Zukunft ist, in deren Hand das Schicksal der kommenden Generation und vielleicht unseres Volkes liegt, wächst haltlos und ohne den Gedanken an eine Zukunft heran. Hat die jüdische Frau nicht teil an dieser Schuld?

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Aber größer als die Schuld der Jüdin am Niedergang ihres Volkes wird ihr Anteil an seiner Wiedergeburt sein. Denn die nationale Erneuerung kann in ihrem innersten Kern nur von der jüdischen Frau ausgehen. Für ein Volk ohne Land, für ein Volk in der Zerstreuung ist sein Haus der Träger seines Lebens. Im Golus ist das jüdische Haus die jüdische Nation. Von unserem Herde, von dem uns stets das Feuer des Lebens kam, wird uns auch die Erlösung kommen.

Die Frau kann im Dienst ihres Volkes Innerlicheres tun als der Mann. Wenn dieser für den Gedanken der nationalen Einheit wirkt, kann sie aus der Liebe und dem tiefen Gemütsverständnis das lebendige Volkstum erneuern.

Die Frau hat in ungleich höherem Grade als der Mann die Gabe der wirtschaftlichen Intuition und der wirtschaftlichen Tätigkeit. So kann sie die Ursachen der Judennot erfassen und ihr abzuhelfen suchen, nicht durch Almosen, sondern durch Volkstaten. Und sie kann dies besser als der Mann; denn es ist ihr eigen, ihr ganzes Herz einzusetzen. Sie kann durch die Wärme des Gemüts und die Frische des Willens, die in ihr ist, die auseinanderstrebenden Glieder des Volkes wieder zusammenschließen helfen, aus ihrer Volksliebe kann ein neues Seelen-Vaterland entstehen.

Um dies aber zu können, muss sie sich selbst erziehen. Sie muss erkennen, dass sie nur dann eine ganze gefestigte Persönlichkeit werden kann, wenn sie die Eigenart ihres Stammes hochhält, wenn sie das Jüdische in sich pflegt und entfaltet.

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In heimatlicher Atmosphäre aufwachsend, wird die jüdische Frau auch das Haus und das Familienleben wieder dazu machen, was es einst war: zu einem Mittelpunkte des Lebens, zu einer Stätte der Gesundung, zu einer Quelle immer neuer Energie. Dann wird in der Familie wieder die stille Kraft sich sammeln, die alles Feindselige lachend überwindet. Dann wird die Frau wieder Königin sein und es wird von ihr heißen, wie von der Frau der Sprüche Salomonis: „Kraft und Schönheit sind ihr Gewand, und sie freut sich des kommenden Tages.“ Sie wird wieder Anregerin sein und ihren Mann den Weg der Selbsthilfe führen. Sie wird kämpfen und dulden wie die alten Heldinnen. Sie wird wieder Kultur fördern und Kultur vermitteln.

Vor allem andern aber: sie wird wieder Mutter sein. Sie wird sich nicht schämen, wenn ihr Kind jüdisch aussieht, im Gegenteil: sie wird stolz darauf sein. Sie wird in ihren Kindern durch sorgfältige Körperpflege, durch harmonische Entfaltung ihrer Kraft auch den persönlichen Mut und die Spontaneität des Handelns erziehen, deren der Jude so sehr bedarf. Sie wird das Grundleiden des modernen Juden, das Überwuchern des Nervenlebens, im Keim ersticken. Eine gleichmäßige Entwicklung von Geist und Körper wird ihr Werk sein: lebensfroh und lebensmutig der Geist, der krafterfüllte Körper willig und bereit, die großen Befehle des Geistes auszuführen. So in einer neuen jüdischen Atmosphäreaufwachsend, im Judentum erzogen und zugleich von der menschlich milden Weisheit seiner Mutter in die Welt eingeführt, wird der Jude der Zukunft zugleich ganz Jude und ganz Mensch sein.

Wenn ich nun aber zum Schluss alles, was ich gesagt habe, und alles, was der jüdischen Frau noch zu sagen wäre (und es wäre noch viel zu sagen), in einem einzigen Worte zusammenfassen soll, so weiß ich kein anderes, als jenes, das in seiner ganzen tiefen Bedeutung nur Frauen verstehen und erleben können: Liebe. Treue lebendige Liebe zu dem großen Schicksal ihres Volkes, starke hilfreiche Liebe zu seiner Gegenwart und zu jedem Armen und Unterdrückten Ihres Volkes, der neben Ihnen in dumpfer gehetzter Sehnsucht dahinlebt, hoffende arbeitsfreudige Liebe zu Ihres Volkes selbstherrlicher Zukunft, die Ihnen in leuchtenden Träumen erscheint. Solche Liebe allein, in stiller Hingebung geübt, kann der jüdischen Frau ihre edle Art neu wiedergeben; aus solcher Liebe der jüdischen Frau allein kann das Zion der Seelen hervorgehen. Und wenn einst aus diesem inneren Zion und seiner Macht heraus das Zionsland zur Wahrheit wird, dann wird unsere Arbeit da drüben, unsere Sprache, unsere Feste, unser ganzes Leben da drüben wird im Zeichen der jüdischen Frau stehen. Denn Kulturideen finden und begründen kann der Mann allein, sie verwirklichen, lebendige fortwirkende Kultur schaffen kann er nicht ohne die Frau. Was bedeutet das aber: Kultur, jüdische Kultur schaffen? Das bedeutet nichts anderes als dies: Wie immer weitere Strecken des einst so saftreichen, nun verkümmerten Heimatbodens dem Tode entrissen und dem Leben wiedergegeben werden sollen, so sollen immer neue Gebiete der einst so schaffensstarken, von den Jahrtausenden verwüsteten Volksseele dem Tode entrissen und dem Leben wiedergegeben, den Werken des Lebens wieder zugewandt werden. Solche Kultur des Lebens aber kann nur durch jene Liebe geschaffen werden, die stärker ist als der Tod: die Volksliebe der neuen jüdischen Frau. Denn das Zion der jüdischen Frau heißt Liebe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jüdische Bewegung 1900-1914