Über den Schlussakkord der Schitomirer Tragödie

Über den Schlussakkord der Schitomirer Tragödie erzählt der Gewährsmann, dem wir den größeren Teil unserer bisherigen Angaben verdanken, also: „Die Nacht von Montag zu Dienstag verlief für die Juden von Schitomir in entsetzlicher Erregung. Die Reihen der Selbstwehr bereiteten sich in finsterer Entschlossenheit für den kommenden Tag. Bleich wie die Schatten, infolge der vielen schlaflosen Nächte, erbittert durch die widerliche Haltung der Administration, unter dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung leidend, waren sie zum Äußersten bereit. Die Gefühlslosigkeit der gebildeten christlichen Gesellschaft, die nicht einen einzigen ernsten Versuch gemacht hatte, sich der Juden anzunehmen, auf die Plünderer einzuwirken, damit diese die Morde und Räubereien einstellten, die selbstzufriedene Überzeugung der christlichen Intelligenz von ihrer Sicherheit gaben den Mitgliedern der Selbstwehr die fürchterlichsten Gedanken ein, und sie beschlossen, falls die Judenhetze nicht ein Ende nehmen sollte, vom Selbstschutz zum Angriff überzugehen, zum Angriff auf alle Satten und Zufriedenen, die imstande waren, ruhig, wie im Theater, zuzusehen, wie unter den Händen der Plünderer das Blut unschuldiger Juden floss. Und als am Dienstag die Hooligans fortfuhren, zu plündern und Juden umzubringen, und die Polizei und das Militär dieselbe empörende Haltung bewahrte (der Polizeipristawgehilfe Anderson sagte, als er mit dem Juden Miniches in einer Schnapsbude zusammentraf: „Trinkt, trinkt, soviel ihr könnt, heut werdet ihr ja doch allesamt umgebracht"), da entschlossen sich die Juden zum letzten Mittel. Eine tausendköpfige Menge, darunter viele Weiber und Kinder, machte sich zum Hause des Gouverneurs auf. Die starken Abteilungen der Infanterie und Kavallerie, die zum Schutze des kostbaren Lebens des Gouverneurs aufgeboten waren und in Bereitschaft standen, beim ersten Signal sie über den Haufen zu schießen, schreckten die Menge nicht. Eine Gruppe von 20 Menschen schied sich aus der Masse aus und betrat das Haus des Gouverneurs mit der Forderung, er solle vor ihnen erscheinen. Als der Gouverneur herauskam, sagte einer von den Juden: „Wir sind gekommen, um Ihnen unseren folgenden Beschluss mitzuteilen: Wenn Sie im Laufe einer Stunde nicht dem Blutbad in Schitomir ein Ende machen, und Sie können es mit einem Worte tun, so beginnen wir ein allgemeines Gemetzel. Es werden Ströme von Blut vergossen werden. Wir werden alle Christen ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Stand umbringen, und ich werde als ersten Sie töten." „Und ich bin bereit, Sie als zweiten umzubringen", wandte sich ein anderer Jude an den dabeistehenden Divisionschef. Dies wirkte. Der Gouverneur erbleichte, wurde verlegen und sagte sofort hastig zum Divisionschef: „Ich bevollmächtige Sie, die allerentschiedensten Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung zu ergreifen. Sie können beim ersten Zeichen von Ungehorsam und wo sich mehr als fünf Menschen versammeln, schießen lassen." Der Divisionschef, ein ziemlich korrekter General, der aufrichtig wünschte, die Unordnung zu unterdrücken, übergab die eben vom Gouverneur erhaltene Anordnung sofort einem Adjutanten, damit dieser sie zur Kenntnis der Offiziere, Abteilungschefs und Patrouillenführer bringe. Kaum hatten die Soldaten diesen Befehl gehört, so waren sie nicht mehr zu erkennen. Sie fühlten mit einem Male, dass von diesem Augenblicke an die heilige Erfüllung ihrer Pflicht beginne. Eine noch größere Wirkung übte diese Anordnung auf die Plünderer aus, die in Haufen auf den Straßen und Plätzen umherstanden. Sobald ihnen gesagt wurde, dass man schießen würde, begannen sie eiligst auseinanderzugehen, und eine halbe Stunde später war die Stadt menschenleer. Ein Augenzeuge berichtet, dass gleich nachdem der Gouverneur den Befehl zum Schießen erteilt hatte, der Polizeichef auf den Platz geeilt sei und sich mit folgenden Worten an die Plünderer gewandt habe: „Nun, Brüder, heute wird es nichts mehr geben. Es ist befohlen worden, zu schießen. Geht nach Hause." Und die Plünderer liefen, wohin sie die Beine trugen; manche hatten einen solchen Schreck bekommen, dass sie sich in den nächsten Höfen versteckten . . . Die Judenhetze endete mit einem Schlage. Die Soldaten haben keinen Schuss abgegeben. Kein Tropfen Blut ist dabei vergossen worden."

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Niederschmetternd war die Wirkung, welche das dreitägige Gemetzel auf die jüdische Bevölkerung der Stadt ausgeübt hatte. Noch ein paar Jahre früher wäre ihnen ein derartiges Massenverbrechen als eine Unmöglichkeit erschienen; denn die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden trugen äußerlich den Stempel der Friedfertigkeit. Dieser Glaube kam in einer Mitteilung zum Ausdruck, welche ein ergrauter Kenner der lokalen Verhältnisse, ein hochgeachteter alter Jude, in der außerordentlichen, Versammlung der Stadtduma vorbrachte. „Vor etwa 20 Jahren wandte sich der damalige Gouverneur an mich mit der Anfrage: „Halten Sie es in Anbetracht der kursierenden Gerüchte von einer für Ostern bevorstehenden Judenhetze nicht für notwendig, die Patrouillen zu verstärken?" Ich antwortete: „Wenn kein Befehl, eine Judenhetze zu inszenieren, vorliegt, so wird auch keine stattfinden"." Wohl blieb auch jetzt noch diese Behauptung schon aus dem Grunde zweifellos richtig, weil jeder Versuch aufgehetzter Massen, einen Krawall zu arrangieren, von der jüdischen Selbstwehr mit Leichtigkeit erstickt worden wäre, wenn die Plünderer nicht seitens des Militärs und der Polizei Schutz und Beistand erhalten hätten; aber die in dem Ausspruch enthaltene psychologische Pointe, die ein ungetrübtes Verhältnis der nebeneinander wohnenden Völkerschaften für Schitomir voraussetzt, ist durch die Tatsachen zum Anachronismus geworden. Wir fügen noch zu dem hierüber bereits oben angeführten Urteil dasjenige des Woschodberichterstatters hinzu: ,,Zum Schluss", schreibt er, „können wir nicht umhin, auf jenen erstaunlichen Indifferentismus hinzuweisen, den die gesamte christliche Gesellschaft gegenüber dem Pogrom an den Tag gelegt hat. Abgesehen von der außerordentlichen Stadtdumaversammlung, die am Montag stattfand und den Ereignissen des Tages gewidmet war, ist absolut in nichts das Interesse der christlichen gebildeten Kreise für das Massacre hervorgetreten. Wohl gibt es manche Personen, die durch die blutigen Tage erschüttert sind, aber sie sind eben nur vereinzelte."

Aber auch das Verhalten der Stadtduma findet eine grelle Beleuchtung in einem eigenartigen Dokument, nämlich im Schreiben eines jüdischen Stadtverordneten, mit dem er einige Wochen nach dem Pogrom der Stadtverordnetenversammlung gegenüber seinen Verzicht auf das von ihm vier Jahre innegehabte Stadtverordnetenamt begründete. Er sagt darin: „Die Ereignisse, die sich, unlängst in unserer Stadt abgespielt haben, die mit Schrecken begleitet waren, die noch jetzt bei der Erinnerung daran das Blut in den Adern erstarren machen, haben mich noch mehr vom äußerst indifferenten Verhalten der Duma gegen die Juden überzeugt. Lange vor den tragischen Tagen war von einer Gruppe von Stadtverordneten, die von Juden inspiriert waren, eine Erklärung eingebracht worden, die auf die Möglichkeit eines Pogroms hinwies, ihn sogar prophetisch voraussagte. Und was geschah? Die Duma beschloss zwar, ungeachtet des Hinweises des Bürgermeisters auf die Farbenverdichtung und die Übertreibung in den angeführten Tatsachen, mit dem Gouverneur in Verbindung zu treten und in Erfahrung zu bringen, welche Maßnahmen er zur Abwendung des Pogroms zu treffen gedenke. Damit aber war's genug. Oder hat etwa die Duma darauf bestanden, dass energische Maßregeln unverzüglich getroffen werden, bezw. darauf hingewiesen, welche Maßregeln möglich und notwendig seien? Sie überließ es bloß dem Bürgermeister, von dem Pogrom, der inszeniert werde, die Obrigkeit in Kenntnis zu setzen. Als ob der Gouverneur selbst es nicht gewusst, als ob er einer solchen Mahnung bedurft hätte? Als aber gar der Gouverneur die Duma auf offiziellem Papier benachrichtigt hatte, dass die Maßnahmen getroffen seien — atmete die Duma erleichtert auf, beruhigte sich und versuchte nicht einmal, der Antwort des Gouverneurs die weiteste Verbreitung zu verschaffen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Was tat schließlich die Duma, als die Ereignisse sich abzuspielen begannen? Auf Verlangen der Juden wurde für den Tag nach dem Hauptgemetzel eine außerordentliche Versammlung einberufen, an der Vertreter der Juden teilnahmen. In der Sitzung erschien von 36 Stadtverordneten nur die Hälfte, aber auch von diesen erhob fast niemand seine Stimme zum Schutz der Juden. Es redeten nur abseits stehende Leute, die Duma selbst hingegen war fortwährend über den im Saale und auf der Galerie herrschenden Lärm entrüstet und hörte nicht auf, das Publikum aufzufordern, sich anständig zu betragen. Es war billig, die Wahrung des „Anstandes" zu fordern, während auf den Straßen das am Tage vorher vergossene Blut noch nicht abgewaschen war und darüber noch frisches aus neuen Opfern träufelte. In demselben Moment, da die Duma tagte, ward der Setzer Rissmann ermordet. Alle Appelle nach Organisierung einer Stadtwache oder überhaupt irgend welcher Hilfe wurden von der Duma abgewiesen. Worauf sie sich einzig beschränkte — das war, in corpore zum Gouverneur zu gehen. Bis jedoch die Stadtverordneten zu ihm hinkamen, zerstreute sich der größere Teil auf dem Wege. Es kamen dorthin insgesamt sieben Personen, aber auch sie schwiegen im Empfangszimmer des Gouverneurs, und überließen es jenen zu reden, bei denen das Herz vor Schmerz sich zusammenkrampfte, die Zunge vor Empörung gelähmt war. Das Gleiche geschah ,des Abends, in der Sitzung der beim Gouverneur funktionierenden Kommission, der es auferlegt war, Mittel zur Unterdrückung des Krawalls auszusinnen; auch da fuhren die Vertreter der Stadtduma fort, ihre Schweigerolle zu spielen und das Reden gerade denen zu überlassen, die am wenigsten geneigt waren. Reden zu halten.

,,Ja, worin und wie hat bis jetzt die Duma ihr Mitgefühl für die gefallenen Opfer, die zugrunde gerichteten Familien und die gesamte jüdische Bevölkerung, die vom Unglück erschüttert ist, zum Ausdruck gebracht? Hat sie auch nur einen Trauergottesdienst abgehalten, hat sie ein einziges Mal das Andenken der Opfer durch Aufstehen geehrt, hat sie auch nur einen Heller aus ihren Mitteln zugunsten der verwaisten Kinder gespendet? Nein! Noch mehr, in der ersten Dumasitzung, die nach dem Ende des Pogroms stattfand, hat niemand über die Schrecken, welche die jüdische Bevölkerung eben erlebt hatte, auch nur ein Wort verloren!"

Der Schitomirer Pogrom hatte bei der russischen Judenheit, insbesondere aber bei der Schitomirer jüdischen Einwohnerschaft einen tiefen Schmerz hervorgerufen, nicht nur ob der tragischen Umstände, unter denen er vor sich gegangen war, sondern auch ob der Aufhellung der vulkanartigen Position der Gesamtjudenheit und ihrer Machtlosigkeit. Gerade die tragischsten Momente, die Hinmetzelung so vieler Selbstwehr Jünglinge, waren zugleich die tröstlichsten; denn sie warfen einen Schimmer des Heroischen auf das düstere Bild der Katastrophe, die zeitlich nach Kischinew und Homel bis zu den Oktoberpogromen die stärkste Erschütterung des russisch-jüdischen Organismus bedeutete.

Und in das düstere Bild der Beziehungen zwischen den Juden und den Nichtjuden Schitomirs mischte sich eine Episode hinein, die aus einer hehren Welt ist: die aktive Anteilnahme Blinows an der jüdischen Selbstwehr und sein Tod. Dieser Nichtjude, dessen Leben so sehr an Beresin in den „Juden" von Tschirikow erinnert, der aber sein schwächliches Vorbild durch Konsequenz und Willensstärke übertrifft und mit edler Kühnheit bewusst für die verfolgten Juden in den Tod geht, wirkt versöhnend. Die Juden Schitomirs haben zwar einsehen müssen, über welchem Abgrund nachbarlicher Feindseligkeit oder verhüllter Gleichgültigkeit sie sich befinden, sind aber durch den Tod Blinows vor den Gefühlen des Hasses gegen die anderen bewahrt worden. Blinow war ein historisches Sühnopfer für tausende herabgesunkene, zu Mördern gewordene Brüder, ein Wahrzeichen für höhere Menschlichkeit.