Sonntag, 24. April weitere Exzesse

War so an diesem Tage noch das schlimmste Unheil verhütet, so sollten die nächsten beiden Tage um so grausigere werden.

Sonntag, den 24. April, herrschte von frühmorgens an sowohl in Pawlikowka als in der Stadt selber eine furchtbare Erregung. Haufen von Plünderern bildeten sich wiederum in den Straßen und sprachen von weiteren Exzessen in drohender Manier. Gebildete Juden und ein paar russische Studenten gingen entschlossen an diese Gruppen heran und redeten auf sie ein. Was half es jedoch gegenüber der angeschwollenen, kaum zurückgehaltenen Pogromstimmung? Und andererseits waren noch verschiedene Hetzer, insbesondere Großrussen, die die Massen zu Gewalttaten anstachelten, jedes beruhigende Gespräch zu hintertreiben sich bemühten und ihre sämtlichen Beschuldigungen mit dem Ausruf krönten, mit den Juden gäbe es nur ein Gespräch — das Messer. Die zugereisten Individuen redeten so herausfordernd, dass selbst einzelnen Pawlikowkaer Bauern das Treiben missfiel, und sie zur Polizei sagten: „Von morgens an hetzen sie hier, wir wissen nicht, wer sie sind, entfernen Sie sie!" Die Polizei Ließ sich indes nicht aus dem Konzept bringen und störte die zugereisten Hetzer nicht im geringsten. Frei von aller Scheu, riefen diese, als der Pogrom nicht schnell genug ausbrechen wollte: „Wie, wird es nichts geben? Hat man uns vielleicht umsonst aus Moskau verschrieben?" Was taten aber während dieser Vorgänge die Behörden? Sie drehten den Spieß um, sie suchten nach den Waffen der Selbstwehr. Kaum war es den Gendarmen gelungen, in einem Hause in Pawlikowka Wurfkugeln zu finden, als sie sie unter der Menge verteilten, um so die aufgehetzten, in klassischer Unwissenheit erhaltenen Bauern durch das Corpus delicti zu „überzeugen", dass die Juden den Christen den Garaus zu machen willens seien . . . Die Pogromstimmung war geschaffen, und die Bauern begaben sich, zur Tat bereit, nach der Stadt.


Dort war alles mobilisiert. Neben den zugereisten Großrussen, die nunmehr von Pawlikowka nach der Stadt ihr Arbeitsfeld verlegten, arbeiteten eifrig ein Polizeipristaw, ein Beamter Kastschenko, ein Angestellter des geistlichen Konsortiums, der früher in der Polizei gedient hatte, und andere Kräfte des „Schwarzen Hunderts", darunter ein Hauptorganisator, der im Anzüge eines einfachen Arbeiters bereits zwei Wochen lang gewirkt hatte, am entscheidenden Tage aber die Verkleidung aufgab und überall in einem Zylinder zu sehen war. Die Pogrommasse befand sich an Ort und Stelle. Das Bild wurde durch Soldaten ergänzt, die in freundschaftlicher Weise den Plünderern durch witzige Ausfälle gegen die Juden zu verstehen gaben, wessen die Juden gewärtig sein müssen. Von 4 Uhr an begannen nun die Plünderer zu Tätlichkeiten überzugehen. Sie zertrümmerten mit Steinen die Fensterscheiben der am Markte gelegenen jüdischen Häuser und prügelten vorübergehende Juden. „Zu dieser Zeit", heißt es in einem Berichte,*) „stellt der Platz folgendes Bild dar: von der Großen Berditschewskaja bis zur Tschudnowskaja hatten sich die Mannschaften der Selbstwehr aufgestellt, hinter deren Rücken die jüdischen Zuschauer standen. Von der Kiewskaja bis zur Kaphedralnaja standen in gebrochener Linie die dichten Reihen der Soldaten, hinter ihnen, fast unter ihrem Schutz, hatten sich die Gruppen der Plünderer postiert. Die Offiziere und die Polizei hatten sich um die Kapelle aufgestellt. Schutzleute waren überall. Die Soldaten hatten sofort nach ihrem. Erscheinen mit der Front zur jüdischen Selbstwehr Posto gefasst, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, was hinter ihrem Rücken die Plünderer trieben. Die Plünderer aber packten einzeln vorübergehende Juden und misshandelten sie grausam (so den Juden Kipness, den Studenten Berger, den man fast leblos ins Krankenhaus brachte). Einige Soldaten lösten mit ihren Bajonetten Steine aus dem Pflaster und reichten sie den Plünderern. In diesem Moment soll aus den Fenstern des Hauses R. ein Schuss gefallen sein, der zwar niemand verwundete, aber die Leidenschaften der Plünderer noch heftiger entfachte. Zwei Schutzleute, Jurtschenko und Wassitzky, schossen wiederholt in die Richtung, wo die Juden standen, was sowohl auf die Juden als auch auf die Plünderer noch mehr aufreizend wirkte. Um 6 Uhr verbreitete sich die Nachricht, dass Kujarow tot sei, und einige Minuten später sprang der Mann im Zylinder aus der Menge hervor und rief: „Kinder, haut die Juden!", worauf er sich selber auf die Juden losstürzte. Sein Schrei sollte fatale Bedeutung haben. Es war, als hätte die Menge auf dies Signal gewartet, und sie begann jetzt mit Stöcken und Steinen über die Juden herzufallen. Die Soldaten setzten das Gewehr an und rüsteten sich, auf die jüdische Selbstwehr zu schießen.

*) Diesen auf Grund genauester Bekundungen zusammengestellten Bericht haben wir wesentlichen Teilen unserer Schilderung zugrunde gelegt.

„Die Selbstwehr konnte sich bis zur Stelle, wo das Morden vor sich ging, nicht durchdrängen, denn dichte Reihen von Soldaten versperrten den Weg zur Ecke der Wilejskaja und Kiewskajastraße, dafür genossen jedoch die Plünderer volle Aktionsfreiheit. Als die jüdische Menge den Versuch machte, die Plünderer auseinanderzutreiben, liefen diese näher zum Soldatenkordon heran und fanden hier Schutz. Die Judenhetze tobte immer heftiger. Das Gebrüll der Plünderer, das Weinen der jüdischen Weiber und Kinder, das Wehklagen der Opfer, das alles verbreitete unter der jüdischen Bevölkerung ein panisches Entsetzen. Man fühlte, dass die tierisch gewordene Menge, von Blutdurst ergriffen, zur abscheulichsten Schandtat bereit sei."

Vergebens fordern ein jüdischer Arzt, Dr. B., und der russische Student Blinow vom Polizeichef, dass er gegen die außer Rand und Band geratene Menge vorgehen möge. Der Polizeichef erklärt, dass die Plünderer aus Furcht, die Juden könnten sie niedermachen, den Platz nicht zu verlassen wagen. ,,Wenn Ihre Selbstwehr den Platz räumt, verspreche ich, sofort die Menge zu entfernen." Die beiden Männer eilen zur Selbstwehr und bringen die Antwort, dass sie unverzüglich dieser Aufforderung nachzukommen bereit sei, aber der Polizeichef, der sie nach der Antwort beordert hatte, ist bereits verschwunden. Statt seiner finden die Unterhändler nur ein Gewühl von Plünderern und Militär. „Das ist der jüdische Doktor, haut ihn!" erschallt es ringsum, doch ein zufällig vorübergehender Offizier, der nicht in Montur war, packt ihn am Arm und zieht ihn von der tobenden Menge weg.

Blinow bleibt allein in der Mitte der Plünderer. Jemand von ihnen ruft: „Das ist ein Sozialist, der die Juden verteidigt, er ist schlimmer als ein Jude, haut ihn!" Und auf Blinow hageln Knüttel und Fäuste. Ein Polizeipristawsgehilfe schlägt auf Blinow mit dem Säbel ein. Blinow bricht zusammen, und die rasende Menge haut ihn vor den Augen von hunderten Soldaten und Polizisten in den Tod hinein. In schändlicher Weise wird sodann die Leiche ausgeplündert und bleibt vier Stunden auf der Straße liegen. Von den Tätern wird aber niemand in flagranti verhaftet.

Jetzt beginnt eine wilde Jagd nach Menschen. Man plündert und rast. Ein Jude namens Nuger will die Reihen der Soldaten durchbrechen, um zur Selbstwehr, die von Zeit zu Zeit Schüsse abgibt, zu gelangen, wird aber von einem Soldaten mit dem Flintenkolben geschlagen und zur Seite geworfen. Der Mann vermag noch in einen Straßenbahnwagen hineinzuspringen, er wird jedoch von Tarabukin — dem Mann mit dem Zylinder — und einem Helfershelfer mit Steinen fürchterlich bearbeitet und schließlich vom Wagen herabgezerrt. Tarabukin kommandiert: „Haut ihn ganz tot, Kinder, er atmet noch!", und unter furchtbaren Martern findet er langsam ein Ende. Umsonst hatte während des Vorfalls der Straßenbahnschaffner dem Polizeichef, der in der nächsten Nähe sich befand, zugerufen; „Herr Polizeichef, man mordet einen Menschen!" Nach Schluss der ungeheuerlichen Metzelei rief der Mann des Gesetzes voll Wut: „Umzingelt den Toten!"

Auf dem Podol raste eine andere Menge, aus etwa 300 Exzedenten bestehend, es waren hauptsächlich Bauern aus dem Vorort Malewanka, mit Flinten, Stangen, Beilen, Sensen bewaffnet. Bald fand sich eine Selbstwehrabteilung von etwa 40 Mann ein, der es gelang, die Exzedenten auf die andere Seite der Brücke, wo es keine jüdischen Häuser mehr gibt, zurückzudrängen und den Weg zur Stadt zu sperren. Diese Position hielt sie eine Zeitlang inne, sie sah sich aber bald von den Plünderern umgeben, während ein Teil der Exzedenten, der in den Bergen aufgestellt war, die Selbstwehr im Rücken angriff. Von Flintenkugeln durchbohrt oder von Steinen getroffen, fielen mehrere Selbstwehrleute, die einen tot, die anderen schwer verwundet. Heldenhaft verharrten jedoch die Verteidiger auf ihrem Platz; wussten sie doch, dass mit ihrem Weggang ein ganzer Stadtteil der Menge zum Opfer fallen würde. Waren auch die meisten von ihnen kampfunfähig geworden, so wichen sie doch nicht und warteten anderer Genossen. Von einigen Leichtverwundeten in Kenntnis gesetzt, kamen tatsächlich neue Selbstwehrleute und trieben die immer näher herandrängenden Exzedenten wieder zurück. Auch von der zweiten Abteilung wurden einige von den Geschossen der Exzedenten getroffen, doch waren die Verluste geringer als bei der ersten Abteilung. Vier Stunden währte der Kampf, bis endlich die vom Gouverneur versprochene Soldatenhilfe anlangte und als solche zu funktionieren sich anschickte. Unterdes wies das Schlachtfeld infolge der absichtlichen Verzögerung einen Haufen von Leichen auf. *)

*) Die gefallenen Selbstwehrmänner waren folgende: Leib Wainstein, Student der Universität Kiew, Gdalja Schmulensohn, Metallgießer (hinterließ Frau und 4 Kinder), Aba Tscheskes, Möbeltischler, 20 Jahre alt, Isaak Nussimow, Handlungsgehilfe, 15 Jahr alt, Hersch Kinberg, Handlungsgehilfe, 17 Jahre alt, Israel Pack, Arbeiter, 26 Jahre alt (hinterließ Frau und 3 Kinder), Joss Minaker, Arbeiter, 21 Jahre alt, Nikolai Blinow, Sozialrevolutionär, Christ, Student der Universität Kiew (hinterließ Frau und 2 Kinder).

An anderen Stellen der Stadt wurden um dieselbe Zeit auch Nichtselbstwehrleute getötet, so der Lehrer Friedmann und der Hausbesitzer Olschansky. Bei dem Tod des letzteren zeigten die Soldaten ihre ganze Kameradschaft mit den Plünderern. Denn der Mann wurde von einem Exzedenten erdolcht, der mitten in einer ganzen Plündererschar von einem Soldatenring in ein Polizeirevier abgeführt wurde. Niemand von der Eskorte, auch dem Offizier nicht, fiel es ein, den Mörder unter den von ihnen geleiteten Exzedenten festzustellen.

Zwölf Tote und eine große Menge Verwundeter zählten die Juden an diesem Tage. Allerdings gab es auch auf nichtjüdischer Seite gegen zehn Tote und viele Verwundete. Es ist charakteristisch, dass offiziell nur von einem Getöteten und zwei Verwundeten die Rede war. Allein, wer kennt diese Tendenzberichte nicht? Gilt es, die Tatsachen für die europäische Öffentlichkeit zuzustutzen, dann nennt die offizielle russische Berichterstattung mit Bezug auf die getöteten Nichtjuden weit größere Zahlen, um so bei unwissenden Gemütern den Glauben zu erwecken, dass eigentlich die Juden die Krawallanstifter seien, die den naiven Zweck verfolgen, den nichtjüdischen Nachbarn den Garaus zu machen . . . Mitten im Pogrom pflegt jedoch an Ort und Stelle nicht selten die betreffende Zahl verkleinert zu werden, um nicht die gewöhnlich feigen Plünderer zu entmutigen und dadurch von weiteren Heldentaten abzuhalten.

Die Exzedenten erwiesen sich als tüchtig organisierte und wohlvorbereitete Leute. Schon zwei Tage vor dem Pogromausbruch hatten sich die Bauern von Malewanka auf ein Hornsignal hin versammelt und verschiedene Übungen gemacht. Sie pflegten auch in geordneten Reihen zum Fluss zu marschieren, und die Führer erteilten richtige Kommandoinstruktionen, wie „Die Jungens mit den Flinten vorwärts", „Träger hierher" (wohl zur Bergung Verwundeter), „Steine dorthin" u. dgl. Auch in Pawlikowka war entsprechende Vorsorge getroffen, und am traurigen Sonntag waren in verschiedenen Häusern Waffen an die Plünderer verteilt worden.

Am Montag dauerte der Plünderungs- und Demolierungsprozess weiter fort, obwohl überall Kavallerie und Infanterie Schitomir in eine Kriegsstadt verwandelt hatten. Namentlich in den entlegenen Teilen, wie auf dem Podol, in Rudno, Kiewskaja Rogatka, Smoljanka und anderen Orten ging es arg zu. Haufen von Hooligans taten ihr Werk vor den Augen der Polizei und der Soldaten. So oft allerdings eine kleine Abteilung der Selbstwehr kam, verschwanden auch die Exzedenten, aber die äußert dezimierte Selbstwehr hatte nicht mehr die erforderliche Zahl von Verteidigern. Als ein Freiwilliger den Chef einer Militärpatrouille fragte: „Wie können Sie den Judenexzess zulassen?", erfolgte die Antwort: „Was ist dabei zu machen, wenn es ein Befehl von oben ist?"

Ungestört durften die Bauernmassen in die Stadt eindringen. Der Gouverneur hatte befohlen, auf die Plünderer nicht zu schießen, sie nicht zu schlagen. Ein Oberst flehte den Gouverneur an, ihm zu gestatten, die Plünderer auseinanderzujagen, da dann die Hetze i n einer halben Stunde beendet sein würde, aber der Gouverneur wollte nichts davon hören. „So gestatten Sie mir wenigstens, sie zu verhaften." „Ich kann nicht, da es mir an Raum für die Verhafteten mangelt." So vermochten auch diejenigen unter den Offizieren, die einzugreifen willens waren, nichts auszurichten; andere aber waren, von solchen Neigungen weit entfernt und verhehlten ihre Sympathien für die Plünderer nicht im geringsten. Was gar die Soldaten anbetrifft, so waren sie mit den Pogromlern, denen sie in ihrer Zusammensetzung meist konform waren, solidarisch. Zudem hatte die Haltung der Vorgesetzten sie völlig demoralisiert; viele von ihnen glaubten tatsächlich, dass es sich um einen Aufruhr der Juden handle.

Die Metzelei war übrigens nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen einige „politisch verdächtige" Russen gerichtet. Wie sehr die Anführer der organisierten Mörder an diese Aufgabe dachten, beweist der Ausruf eines der Mörder Rissmanns. Nachdem er ihn genau betrachtet hatte, rief er aus : ,,Wir haben aber nicht den rechten getötet, jener war klein gewachsen!" Sie hatten sich vergriffen. Den sie gemeint hatten, war ein Verwandter des Ermordeten, ein Mitglied der revolutionären Ortsorganisation.

Die Polizei nahm zum Teil direkten Anteil an dem Pogrom. Ein Polizist rief: „Die Juden wollen Rechte bekommen? Mögen sie sich dann irgend wohin nach Frankreich oder Amerika scheren. Bei uns haben sie nur in den Aborten Rechte. Was sie nicht wollen! Man kann sie ja mit Fäusten erdrosseln!"

Was tat nun die Stadtverwaltung gegenüber dem tagelangen Morden und Rauben? Bis zum Montagnachmittag überhaupt nichts, und als der Bürgermeister endlich an diesem Tage eine außerordentliche Sitzung anberaumte, eröffnete er sie mit der beruhigenden Bescheidenheitsformel, es seien Maßnahmen getroffen. Da platzten denn die Protest- und Entrüstungsrufe hervor, von der Straße drangen laute Unwillenskundgebungen und von der Galerie scholl es hinein: „Auf der Straße werden die Menschen umgebracht, und hier verliert man die Zeit in Wortgefechten." Nun entbrannte eine heftige Debatte. Als ein reicher Jude über die Schutzwehr eine missbilligende Äußerung fallen lässt und der Meinung Ausdruck gibt, dass sie für die Juden gefährlich sei, da schwillt der Sturm fürchterlich an. Die vom tragischen Schicksal der heldenmütigen Kämpfer aufs tiefste ergriffenen Juden wollen die Entweihung des Andenkens der neuen „Makkabäer" nicht zulassen. Ein Lehrer erzählt dabei, wie die Selbstwehrjünglinge gekämpft hätten, wie acht von ihnen gefallen, zwölf schwer verwundet und sehr viele leicht verwundet seien. Mit R?cksicht darauf, dass der Pogrom immer gewaltigere Dimensionen annehme, dass das „Schwarze Hundert" aus den Vorstädten heranziehe, dass in Aufrufen, die auf der Chaussee verbreitet seien, auf den Kopf eines Studenten soundso viel, auf den eines Juden soundso viel gesetzt seien, dass die Katastrophe die ganze Stadt zu erfassen drohe, äußern sich einzelne Versammlungsmitglieder dahin, dass nicht papierne Widerrufungen der schändlichen Gerüchte, sondern physische Kräfte vonnöten seien, dass die Selbstwehr zu legalisieren sei und alle Erwachsenen in ihre Mitte aufzunehmen hätte. Das Stadthaupt meint jedoch, dass ein solcher Schritt unmöglich sei . . . Nach langen Erörterungen, in denen die Rolle der Polizei insbesondere von den Betroffenen einer scharfen Kritik unterzogen worden war, nachdem noch ein christlicher Rechtsanwalt auf die polizeiliche Organisierung des Pogroms hingewiesen und daraus den Schluss gezogen hatte in den drastischen Worten: „Wir haben Polizeipristawe zur Provokation, aber nicht zum Schutz unseres Lebens", fasste die Stadtduma den Beschluss, in vollem Bestand zum Gouverneur zu gehen und ihn zu bitten, 1. sofort die Organisation einer Stadtwache zu gestatten, 2. im Hause des Gouverneurs einen Rat ins Leben zu rufen, der aus einigen von der Duma gewählten Personen bestände, und dem ständig Mitteilungen über die Vorgänge in der Stadt gemacht werden müssen, damit er entscheide, welche Maßnahmen jedesmal zu ergreifen seien, 3. persönlich durch die Stadt zu fahren und die Bevölkerung zu beruhigen, und 4. die Stadt vom Zufluss außerstädtischer Plünderer abzuschneiden.

Doch blieben diese Resolutionen nur platonische Wünsche, mit deren Durchführung die Stadtverordneten es keineswegs ernst nahmen. Der Gouverneur machte sich aus den Vorstellungen und Bitten der Bevölkerung überhaupt nichts. Vergebens umlagerte eine dichte Menge von Juden sein Haus, vergebens füllten den ganzen Tag immer neue Scharen hilfeflehender Juden die Säle des Gouvernementsgebäudes und baten ihn, entweder den Bedrängten militärischen Schutz zuteil werden oder wenigstens das Militär gänzlich von den Straßen entfernen zu lassen. Alles, was der Gouverneur unternahm, bestand darin, dass er nebst dem Stadthaupt und dem Kronsrabbiner eine Rundfahrt durch die Stadt machte, aber er entschloss sich nicht zur geringsten Maßregel. Gegen Abend des 25. April gab es auf Seiten der Juden bereits 16 Tote und 60 Schwerverwundete.

Der Pogrom hatte noch nachträglich furchtbare Folgen. Geradezu eine Selbstmordepidemie brach in der Stadt aus. Im Anschluss an ihre Pogromerlebnisse, sei es unter dem Druck der erlittenen Schicksalsschläge, sei es unter den durch den Anblick der Bestialitäten hervorgerufenen psychischen Qualen, nahmen sich sechs Personen das Leben, und eine Anzahl anderer wurde wahnsinnig. So trieb die martervolle Ermordung eines 17 jährigen Jünglings dessen Vater zur Selbstvergiftung, und verzweifelt nahm sich eine 15 jährige Schülerin das Leben, nachdem sie die entsetzlichen Qualen der von ihr gepflegten Verstümmelten miterlebt hatte. Und wer vermöchte die anderen Leiden der Betroffenen zu summieren?