13. April 1905. Präludium zum späteren Pogrom

Am 13. (26.) April 1905 spielte sich das Präludium zum späteren Pogrom ab. In einem Wald in der Nähe des bei Schitomir gelegenen Psystsche fand ein großes Meeting statt, an dem einige hundert junge Juden sich beteiligten. Schon auf dem Hinwege wurden die Versammlungsteilnehmer, die auf Kähnen hinausgefahren waren, von den Bauern der Dörfer Pawlikowka und Psystsche von den felsigen Ufern des Teterew mit Steinen beworfen. In der Nähe trieb sich auch viel Polizei, zum Teil verkleidet, umher, schnüffelte herum und verband offensichtlich irgend einen Zweck mit dem Meeting im Walde. Indes verlief die politische Veranstaltung bis zum Schluss ohne jedwede Störung. Erst auf dem Rückwege ereignete sich der für die Unabwendbarkeit der Katastrophe charakteristische Zwischenfall. Eine kleine Gruppe von sieben Jünglingen und Mädchen, die, von der Masse getrennt, sich erst später auf den Weg begab und ruhig am. Ufer entlang daherschritt, wurde von einem in einem Hinterhalt auflauernden Bauernhaufen überfallen und aufs grausamste misshandelt. Die Bauern, mit Knütteln bewaffnet, hatten es offenbar auf den Tod ihrer Opfer abgesehen. Mit dem Schrei: „Warum ruft ihr „Freiheit" Und „Fort mit dem Zaren?"" stürzten sie sich über sie her, hieben lange auf die Köpfe der Mädchen ein, bis diese, halb zu Tode gemartert, sich als tot verstellten, stürzten einen Jüngling von einem über 200 Fuß hohen Felsen herab, verstümmelten einen anderen derart, dass er wochenlang in Todesgefahr schwebte usw. Vom anderen Ufer aber weideten sich die Bauern am Geschrei und Gestöhn der Misshandelten und riefen: ,,Prügelt die Juden, hauet sie!" Ja, als andere Juden den verwundeten Brüdern in Kähnen zu Hilfe zu kommen suchten, da wurden sie von diesen mit einem Steinhagel und dem Rufe: „Freiheit wollt ihr Juden haben, wir werden euch Freiheit geben!", empfangen.

Nunmehr mischte sich auch die Polizei ein, aber in ihrer Weise. Sie suchte nach den Misshandelten, um sie zu verhaften, ließ hingegen die bäuerlichen Mordgesellen ruhig nach Hause gehen. Wer konnte da noch zweifeln, dass die Polizeibeamten, die in so verdächtiger Weise im Walde immer wieder aufgetaucht und verschwunden waren, um schließlich zur Inhaftierung Misshandelter wieder zu erscheinen, überhaupt ihre Hände im Spiel gehabt hatten? Der ganze Vorfall war eine ausgezeichnete Vorübung für den Hauptexzess und leistete gründliche Dienste, um die Bauern zu drillen. Zu ihrer Abneigung gegen die Juden, zu ihrem fanatischen Hass gegen die Neuerungen gesellte sich nunmehr die Gewissheit, dass alle Gewalttaten gegen die Juden nicht geahndet werden, sondern im Gegenteil ein der Polizei gefälliges Werk seien.


Am 23. April ging sodann der Hauptangriff vonstatten, wie es heißt, auf ein gegebenes Signal hin. Wiederum waren es die Bauern von Pawlikowka, die die Initiative ergriffen. Durch Steinwürfe zwangen sie jüdische Bootfahrer zur Gegenwehr. Als jedoch die Überfallenen einen Schuss in die Luft taten, um die Angreifer zu verjagen, liefen die Pawlikowkaschen Bauern ins Dorf zurück, schlugen Alarm: „Die Juden wollen uns ermorden, haut die Juden!" und stürzten sich, wie zur Bestätigung ihrer Rufe, über die jüdischen Wohnungen, um sie auszurauben.

Nun war der Funke ins Pulverfass geworfen. Vergebens versuchte ein Offizier Senkewitsch, der ebenfalls, Boot fahrend, von einem Stein getroffen worden war, zum Gouverneur zu dringen, um ihn über die beginnende Judenhetze aufzuklären. Er wurde mit einer der üblichen Ausreden, der Gouverneur sei unwohl, zurückgewiesen. Ebensowenig kam vom Generalgouverneur von Kiew, an den er sich telegraphisch gewandt hatte, Hilfe.

In Pawlikowka tobte bereits der Mob. Die Bauern des Orts hatten durch speziell entsandte Reiter ihre Nachbarn aus den nahegelegenen Dörfern herbeigerufen, und diese kamen auch, mit Beilen, Knütteln, Heugabeln, Flinten und anderen Werkzeugen versehen, zum „Kampfe" herbei. Auch Soldaten fanden sich bald ein, aber nur, um die Selbstverteidigungsversuche der Juden illusorisch zu machen. Sie Ließen die aus der Stadt herbeigeströmten Juden nicht heran und bildeten eine Art „Wall" um die Exzedenten und deren Opfer. Die Selbstwehr vermochte gar nicht heranzukommen, während die Plünderer zudem noch in der Lage waren, vom Berge herunter über die Köpfe der Soldaten in die Scharen der angesammelten Stadtjuden, die sich am Fuße des Pawlikowkaer Abhanges aufgestellt hatten. Steine hinabzuschleudern und einzelnen beträchtliche Wunden beizubringen. Zugleich sprengte eine Patrouille in die jüdische Menge hinein und ritt einen jungen Mann zu Tode. In ihrer Verzweiflung gaben nun Juden eine Salve in die Luft, worauf die Soldaten ihre Front gegen die Juden kehrten und auf sie losschossen. Ein heilloser Schrecken erfasste die gegenüber den militärisch bewaffneten Soldaten machtlosen Juden, aber einige tollkühne Jünglinge schickten sich schon an, „zum Schutz der Brüder" die Ketten der Soldaten zu durchbrechen. Da schlug ein Pristawgehilfe zwei Selbstwehrmitgliedern vor, mit den Plünderern zu verhandeln, wobei er ihnen völlige Sicherheit garantierte. Tatsächlich entschloss sich die jüdische Selbstwehr zu diesem Wagnis. Zwei aus ihrer Mitte, Setzer und Goldfarb, gingen unter Führung des Pristawgehilfen an die Exzedentenreihen, um sie zu „beruhigen". Wütend stürzten sich jedoch die Plünderer auf den „Friedensunterhändler" Setzer und begannen ihn jämmerlich zu bearbeiten. Das heilige Versprechen des Pristawgehilfen erwies sich als unerhörter Verrat. Nicht nur nahm er den Angegriffenen nicht in Schutz, sondern packte selbst den anderen Selbstwehrvertreter am Arm, als dieser ihm irgend welche Hilfe leisten wollte.

Ob des schmählichen Wortbruches waren die hintergangenen Juden in eine derartige Wut und in solche Verzweiflung geraten, dass sie zum Äußersten bereit wurden. Ein ungeheures Blutvergießen schien, unvermeidlich. Da ermannte sich endlich der Polizeichef und Ließ eine Anzahl Exzedenten ins Polizeilokal abführen. Die Feiglinge weigerten sich anfangs zu gehen, ,,da sie von den Juden in Stücke gerissen werden würden", und änderten ihren Sinn erst dann, als ihnen die jüdischen Selbstwehrmitglieder persönliche Unantastbarkeit zusagten und auch eine Eskorte von drei der Ihrigen gewährten. Im Polizeiamt sagte einer von ihnen: „Die Juden lassen einen nicht mehr leben, sie versorgen sich mit Waffen, um alle Christen niederzumetzeln, alles Land an sich zu reißen und es zu regieren. Sie sind „Sizilisten", sind gegen den Zaren, schießen auf das Bild des Zaren." Man sieht, in welchem Masse sie vom antisemitischen Geschwätz infiziert waren. Vor der hohen Obrigkeit versprachen sie allerdings, sich jedes weiteren Exzesses zu enthalten, und erhielten darauf mit Zustimmung der naiven jüdischen Begleiter die Freiheit, um bei der nächsten Gelegenheit wortbrüchig zu werden.