Die Judenpogrome in Russland. Band 2. Einzeldarstellungen. Schitomir
Gesamtbevölkerung (1897) 65.895, Juden 30.748.
Schitomir ist die Hauptstadt eines Gouvernements, in dem die antisemitische Saat auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Namentlich unter der bäuerlichen Bevölkerung erfreut sich der hier sehr aktive „Verband des russischen Volkes" einer großen Anhängerschaft. Die Propaganda der ,,Potschajewskije Listki", die von dem fanatischen Mönche Iliodor in unzähligen Exemplaren unter den Massen verbreitet werden, findet bei der unwissenden Menge dieser Provinz lebhaften Anklang, und die mündliche Agitation, von demselben Mönch und anderen Helfershelfern betrieben, schafft einen geradezu wahnsinnigen Judenhass in der zum größten Teil aus Kleinrussen sich zusammensetzenden Bevölkerung.
Wie weit der Einfluss der Reaktionäre auf die Bauern im Gouvernement Wolhynien reicht, lässt sich zwar nicht ganz bestimmen, da auch hier mit allen Macht- und Gewaltmitteln von oben daran gearbeitet wird, die Einsicht in dieses Problem unmöglich zu machen und die öffentliche Meinung zu fälschen. Die unter unglaublichen Verhältnissen stattfindenden Wahlen zur Duma sind deswegen kein absoluter Maßstab zur Beurteilung dieser Frage, aber die wiederholte Tatsache, dass die wolhynischen Bauernvertreter sich samt und sonders zu den ausgesprochensten Reaktionären gesellen, während in anderen Gouvernements wenigstens ein Teil der Bauernbevollmächtigten durch alle Klippen einen Weg zur Freiheit zu finden gewusst hat, beweist doch, auf welch tiefem Niveau die Bauernschaft von Wolhynien steht, wie sie sich leicht zur Stütze des morschen Regimes benutzen lässt. Unverkennbar ist dabei die Wechselwirkung zwischen ihrer reaktionären Gesinnung und ihrem Judenhass. Je mehr die Bauern die Neuerungen hassen, um so mehr hassen sie die Juden, in denen sie eine Verkörperung der neuen Staatsordnung erblicken, und umgekehrt entspringt aus ihrem Hass gegen die Juden die Scheu vor den Reformen, die in ihren Augen als ein Ausgangspunkt für eine Vorherrschaft der Juden im gröbsten Sinne des Wortes dienen sollen.
Auf diesem fruchtbaren Boden gewann der Antisemitismus recht frühzeitig eine gewaltige Einflusssphäre, und bereits zu Beginn des Jahres 1906 waren die verschiedensten patriotischen Verbände ins Leben gerufen und aktionsbereit. Vielleicht noch mehr als anderorts fanden im Gouvernement Wolhynien alle jene Märchen, dass die Juden an dem Misserfolg des russischjapanischen Krieges schuld seien, starke Verbreitung und dankbaren Glauben und wurden gern als Trost von Mund zu Mund forterzählt. Damit wurde an allen Ecken und Enden, in den Städten und Dörfern gewühlt, und immer schloss sich die Drohung daran, dass nach Schluss des Krieges mit den Juden abgerechnet werden würde.
Diese Zusage wurde indes nicht eingehalten, und noch ehe der Kanonendonner im Osten verstummt war, krachten die Flinten in Schitomir. Die Bureaukratie hatte im Verein mit den antisemitischen Organisatoren so gründlich vorgearbeitet, dass im Frühling 1905 die Geister der Zerstörung und des Hasses kaum mehr zu bändigen waren. Die Pogromatmosphäre war bereits so verdichtet, dass es den Kreisen der Ordnungshüter gar leicht ward, gegen die Juden ganze Horden tobender Bauern loszulassen, und schon ein halbes Jahr vor der allgemeinen Oktoberattacke fiel Schitomir zum Opfer.
Für die Juden von Schitomir kam der Exzess keineswegs unerwartet. Kischinew hatte alle russischen Juden gelehrt, wie wenig sie sich selbst auf äußerlich friedliche Zustände zu verlassen haben, insbesondere gar, wenn das Osterfest mit der Brutzeit aller verbrecherischen Legenden und Kollektivverleumdungen kommt. In Schitomir war das ganze Pogromtreiben, waren alle Vorbereitungen so augenfällig, dass niemand an dem Ausbruch des Unheils zweifeln konnte. So verbreitete ganz offen in den Straßen der Stadt ein Beamter des Ministeriums des Innern, Ssagussjewitsch-Hanko, einen Aufruf mit der Unterschrift „Jarema", in dem die Russen aufgefordert wurden, die Juden und Polen niederzumetzeln, ohne dass der Gouverneur, bezw. der Staatsanwalt, an die die Juden sich gewandt hatten, dieser schimpflichen Agitation Einhalt getan hätten. Zugleich erhielten viele angesehene Juden Drohbriefe, die in Schrift und Ausdrucksweise merkwürdigerweise an Polizeikanzleien gemahnten. Mündliche Hetzapostel erzählten dem Volk, die Juden, die Feinde des Zaren und Aufrührer, die Verbündeten der Japaner, hätten tausend Leute aus ihrer Mitte bewaffnet und trügen sich mit dem Gedanken, alle Christen zu vertilgen, am christlichen Osterfest die Kathedrale durch Bomben in die Luft zu sprengen usw. Ganz besonders tat sich darin ein Pristaw hervor, der ob seiner barbarischen Misshandlungen politischer Verbrecher später von Ssidortschuk (einem Christen) ermordete Kujarow. Er war eine einflussreiche Persönlichkeit, verfügte über unbegrenzte Vollmachten und pflog intime und geheimnisvolle Beziehungen zur Schitomirer Gendarmerie. Als Hauptfach hatte dieser Mann für sich die Judenhetze auserkoren. In Zivil gekleidet, sammelte er Volkshaufen um sich und redete auf sie mit der größten Erbitterung ein, ja er suchte viele Nichtjuden in der Stadt, namentlich jedoch die Bauern in den umliegenden Dörfern, die er eigens zu seinen Zwecken bereiste, zu bereden, dass sie auch jeden gebildeten Russen, der die Juden in Schutz nehmen würde, ermorden sollten . . .
Die „Propaganda der Tat", von der wir nur einige Einzelbeispiele, angeführt, hatte offenkundig ihre Wirkung nicht verfehlt. Das Verhalten der aufgehetzten russischen Bevölkerung wurde in Schitomir immer auffälliger und provozierender. Die Stadt war, wie zuverlässige Beobachter berichten, Tim jene Zeit in zwei Lager gespalten. Ta^ für Tag wurden Juden von zweifelhaften, pogromlüsternen Individuen ohne den geringsten Anlass überfallen, und immerfort bekam es die jüdische Bevölkerung zu hören, dass sie bald samt und sonders ausgerottet werden würde.
Als die Panik einen unheimlichen Grad erreicht hatte, wandten sich einige Stadtverordnete an die Stadtduma mit einer Denkschrift, in der sie den Sachverhalt in entsprechenden Farben schilderten und zum Schlüsse folgendes ausführten: ,,Es genügt ein Funke, eine ganz unbedeutende Tatsache, und die beiden Teile der Bevölkerung, die gegeneinander gerüstet haben, treffen in blutigem Zusammenstoß aufeinander. Es wird das Blut unschuldiger Menschen fließen." Die Möglichkeit eines solchen tragischen Konfliktes war für die Verfasser der Eingabe so einleuchtend, so drohend, dass sie auf die Ergreifung der äußersten Mittel drängten. Mochte aber auch niemand mehr an den Folgen der sanktionierten Hetzarbeit zweifeln, die Spitzen der Bureaukratie gaben immer wieder die Versicherung ab, „alle Maßnahmen seien getroffen". Bei dem ganzen Verhalten der Polizei wäre man fast geneigt, diesen Satz ernst zu nehmen; denn alle Maßnahmen zur Durchführung eines organisierten Pogroms waren von Polizeibeamten getroffen. Unmöglich ist es nicht, dass der Gouverneur, von seinen Untergebenen irregeleitet, tatsächlich geglaubt hat, die Befürchtungen seien grundlos; jedenfalls war er in Schitomir der einzige Mann mit solch naivem Sinn, und seine spätere Haltung lässt allerdings schwere Zweifel an seiner Naivität aufkommen.
Die Antworten des Gouverneurs stärkten nur den Mut der tätigen Beamten. Die Hetzer fühlten sich obenan, die Juden waren vogelfrei. Der erwähnte Pristaw Kujarow, der sogar, wie vor dem Untersuchungsrichter festgestellt wurde, seinen späteren Mörder Ssidortschuk, dessen radikale politische Gesinnung er offenbar nicht kannte, zu den Pogromarbeiten heranzuziehen bemüht war, fand in vielen Polizeibeamten willige Helfershelfer, und das organisierte „Schwarze Hundert" legte die intensivste Aktivität an den Tag, übte sich sozusagen in Einzelüberfällen und Messerstichexperimenten. „Das ist nur eine Probe", rief einem von ihm verletzten Knaben der Handwerksgeselle Krupski zu, „bald wird man euch alle niederstechen." Die Phantasie der künftigen Pogromler wurde insbesondere durch die schon erwähnten Proklamationen angeregt. „Solche Proklamationen", sagte der Pristawgehilfe Anderson zu einem Bekannten, einem Russen, 2würde ich nicht nur nicht konfiszieren, sondern ihre Verbreitung fördern. Und jeder Russe muss damit sympathisieren, nicht wahr?" „Was mich anbetrifft," entgegnete der Angeredete, „so würde ich unbedingt ähnliche Proklamationen, die einen Teil der Bevölkerung gegen den anderen aufreizen, konfiszieren." „Welch ein Recht haben Sie dazu?" rief Anderson aus. „Ich würde Ihnen als erster dafür eine Kugel durch den Kopf jagen." „Eine Kugel kann man mit einer ebensolchen beantworten." ,,Ich würde Sie zuerst entwaffnet haben, dazu habe ich das Recht, und dann schießen Sie einmal! Man sieht sofort, dass Sie die Seite der Juden halten . . . Wissen Sie, was wir mit solchen
Herren machen werden . . . Nun, was wir machen werden, das werden Sie ja später sehen . . ." Derselbe Anderson fasste vor einer Gesellschaft in einem Restaurant die Absichten der Polizeikreise in folgendem kühnen Ausspruch zusammen: „Wir werden Stückarbeiter haben. Damit man uns nicht als Anstifter bezeichnen könne, werden wir zu Hause sitzen, und unsere Arbeiter werden ihre Sache schon machen."
Diese Sprache ließ an Klarheit und Offenherzigkeit nichts übrig. Mit Freuden ließ die Polizei die Judenschlägereien gewähren, und wie eine Verhöhnung der Bedrohten waren die Militärpatrouillen, die am Passahfest zur Vorbeugung von Ruhestörungen durch die Straßen der Stadt streiften. Sie betrugen sich so barbarisch gegen ihre Schützlinge, dass die jüdische Bevölkerung von Schitomir sie eher zu fürchten begann. Ganz sich selbst überlassen, konnte sie nur noch an die Selbstverteidigung durch eigene Hilfskräfte denken. So organisierte und bewaffnete sich denn auch die jüdische Selbstwehr, dejourierte bei Nacht, stellte in der ganzen Stadt Patrouillen auf, entsandte Rekognoszierungsabteilungen und machte sich kampfbereit.
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