Die Judenpogrome in Russland. Band 2. Einzeldarstellungen. Kischinew

Herausgegeben im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission.
Autor: Redaktion A. Linden, Erscheinungsjahr: 1910
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit, Kischinew, Gewalttaten, Gräueltaten, Ermordung, Schändung, Vergewaltigung, Plünderung, Totschlag, Exzesse, Duldung, Entsetzlichkeit, Grausamkeiten
Kischinew

          Gesamtbevölkerung (1897) 108.483, Juden 50.237.

Keiner der Pogrome, von denen die russischen Juden in den letzten Jahren mit so schrecklicher Gewalt und in so fürchterlichem Umfange heimgesucht wurden, hat die Judenheit so getroffen wie der von Kischinew. Er brach herein als eine jähe, furchtbare Katastrophe in einer Zeit, wo man Pogrome schon als ein Stück der Vergangenheit betrachtete, und traf die russischen Juden im vollen Wortsinne an Leib und Seele. Er bedeutete aber nicht nur eine ungeheuerliche Entsetzlichkeit — denn beispiellos stehen die Grausamkeiten da, die zu Kischinew verübt wurden — , das Tragischste an diesem Pogrom war, dass er das erste Glied in einer langen Kette von Heimsuchungen wurde, die später in kurzen Zeitfolgen über die russische Judenheit niedergingen.

Kischinew war sozusagen der Schulfall. Darum und weil dieser Pogrom von exzeptionell grausamen Ausschreitungen begleitet war, erscheint es notwendig, ihn in seinem Verlaufe mit besonderer Ausführlichkeit zu behandeln.

Unter den etwa 120.000 Einwohnern von Kischinew gibt es über 50.000 Juden. Die nichtjüdische Bevölkerung der Stadt besteht aus Moldauern und Großrussen. Kischinew ist die Hauptstadt des Gouvernements Bessarabien, das an Rumänien grenzt. Das Gouvernement selbst gehört zum sogenannten jüdischen Ansiedlungsrayon.

Die Juden von Kischinew waren im allgemeinen etwas günstiger gestellt als die meisten ihrer Volksgenossen in Russland. Es hängt wohl damit zusammen, dass Kischinew das reiche Zentrum eines der gesegnetsten russischen Landstriche ist. In Bessarabien leben die Leute viel besser als im übrigen Reiche. Die Moldauer, der Hauptteil der christlichen Bevölkerung, finden in diesem fruchtbaren Gebiet von der Landwirtschaft ein reichliches Auskommen. Die gute Situation der Bauern Bessarabiens hat auch die Lage der dortigen Juden günstig beeinflusst. Wenngleich in den zwei Aus nahms jähren der Not es vor allem die Juden waren, die hungerten und darbten und für die man in ganz Russland Spenden bei ihren Volksgenossen sammeln musste, sind sie in den normalen Jahren erträglich gestellt. Die Beziehungen zwischen Juden und Christen waren leidliche und bestanden sogar die schwere Probe der Jahre 1881 bis 1883. Als damals ganz Südrussland von Exzessen gegen die Juden heimgesucht war, versuchte man auch in Bessarabien Aufrufe zu verbreiten, dass man die Juden erschlagen müsse. Aber die Versuche blieben wirkungslos.

In den dem Pogrom von 1903 vorangegangenen 20 Jahren haben sich durchaus keine derartigen wirtschaftlichen Veränderungen vollzogen, welche eine besondere Feindschaft gegen die Juden hätten erzeugen können. Grund und Boden ist nirgends in jüdische Hände gelangt — haben doch die Juden gar kein Recht, Land anzukaufen. In Handel und Handwerk tritt keine wesentliche Konkurrenz zutage, weil sie fast ganz in jüdischen Händen liegen. Allerdings, es gibt mehrere große christliche Handelshäuser, aber die können an dem jüdischen Kleinhändler nur verdienen. Die Zahl jüdischer Kapitalisten ist winzig klein — ein paar Großpächter und einige Großhändler. Wenn man überhaupt von irgend einer Konkurrenz sprechen könnte, so wäre es höchstens eine solche zwischen Juden und Griechen, in deren Händen sich der Tabak- und Weinhandel befindet. Aber auch die Art Wettbewerb ist ohne Bedeutung. Vielleicht war das Verhältnis zwischen einer Handvoll Juden, die Geld liehen und manchen Moldauer Gutsherren, die immer Geld nötig haben, kein allzu freundliches, aber das kommt bei der Beurteilung der ökonomischen Beziehungen zwischen Juden und Nicht Juden hier kaum in Betracht.

Im allgemeinen kann man sagen, dass die Juden in Bessarabien heute noch einen kaum entbehrlichen Faktor im wirtschaftlichen Leben darstellen. Der Moldauer Bauer ist weder vorgeschritten noch fähig und fleißig genug, um allein die Produkte seiner Arbeit zu verkaufen. Dazu braucht er den Juden, dessen Anspruchslosigkeit und Rührigkeit der Bauer in seinem eigenen Interesse benutzt.

Fürst Urussow , der nach dem Pogrom Gouverneur in Kischinew war, und dessen Enthüllungen über die Pogrom-Mechanik von Beamten und Polizeiorganen in der ersten Duma so ungeheures Aufsehen erregten, schildert in einem kürzlich erschienenen Memoirenbuche die Situation kurz und treffend mit folgenden Worten: „Der allgemeine Charakter des Landes ist: Eine üppige Natur und eine faule und sorglose Bevölkerung. Die Leute auf dem flachen Lande sind ungebildet, unentwickelt, aber wohlhabend und ruhig; die Gutsbesitzer genusssüchtig und leichtsinnig, ebenso die Stadtbevölkerung zu äußerem Glanz und innerer Sittenlosigkeit hinneigend."

Aus dieser Charakteristik erklärt sich die Tatsache, dass durch lange Zeit die Juden von der schwerfällig-genusssüchtigen Bevölkerung nicht viel belästigt wurden, dass aber die in ihr schlummernden schlechten Triebe nur eine beharrliche Reizung von außen brauchten, um sich dann plötzlich und um so furchtbarer zu entladen.

Dieses Werk, die bessarabischen Christen durch intensive Verhetzung endlich gegen die Juden zu treiben, besorgte vor allem ein Mann, dessen Name zu unauslöschlicher Schmach mit dem furchtbaren Pogrom von Kischinew im April 1903 verknüpft ist, Pawolaki Kruschewan.

Sechs Jahre vorher hatte er (ein Journalist, der gegenwärtig zu den fanatischesten Führern des „Verbandes der echt russischen Leute", des „Schwarzen Hundert", gehört) in Kischinew eine Zeitung unter dem Titel „B e s s a r a b e t z" gegründet. Schon nach dem ersten Jahre holte Kruschewan die Judenfrage hervor. Er begann mit Ausfällen gegen die Juden, die immer schärfer wurden und sich endlich bis zum blutigsten Fanatismus und Wahnwitz steigexten. Es gelang ihm um so eher, als er aus der Beamtenklasse, die sich aus eingewanderten, von Grund aus antisemitischen Russen rekrutierte, die kräftigste Unterstützung fand. Der Vizegouverneur von Kischinew, Ustrugow, der als Zensor fungierte, war einer der Mitarbeiter des Blattes. Ebenso schrieb der Untersuchungsrichter D a w i d o w , der später die Untersuchung gegen die Exzedenten vom 19. und 20. April führte, die aufhetzendsten Artikel im „Bessarabetz". Auch mehrere christliche Ärzte, denen die Konkurrenz ihrer jüdischen Kollegen sehr unlieb war, arbeiteten an dem Blatte mit. Es ist interessant, dass dieses Organ das sehr wenig Abonnenten hatte, doch niemals in Geldverlegenheiten geriet. Die Erklärung ist ganz einfach: Das Blatt wurde von der Regierung, die darin alle offiziellen Kundmachungen publizierte, unterstützt. Auch bekam Kruschewan öfters größere Summen von mehreren Christen Kischinews. Sein Hauptmitarbeiter und Mithelfer aber war P r o n i n , ein gefährlicher und raffinierter Agitator.

Die Zeitung wurde nicht sowohl unter den Moldauern verbreitet, als vielmehr unter den niederen und höheren Schichten der russischen Bevölkerung. Besonders eifrige Leser fand der ,,Bessarabetz" unter den „Staroweren", einer fanatisch gestimmten russischen Sekte. Dass sich auch in den Kreisen der Intelligenz der ,,Bessarabetz" Anhang verschaffte, ist natürlich, wenn man erwägt, dass er von dort her seine Mitarbeiter bezog.

Fünf Jahre hindurch wurden die Juden fast in jeder Nummer des „Bessarabetz" als Blutsauger, Betrüger, Parasiten und Ausbeuter der christlichen Bevölkerung hingestellt, und es wurde der unbarmherzige Vernichtungskampf gegen die Juden gepredigt. Immer raffiniertere antisemitische Beschuldigungen und Hetzereien ersann Kruschewan, ohne dass man ihm entgegentreten konnte. Beschwerden an den Senat waren erfolglos. Noch mehr — ein Senator erkannte sogar, dass der Tendenz des Blattes gesunde Elemente zugrunde lägen.

Allmählich veränderte sich unter der Einwirkung des „Bessarabetz" das Verhältnis zwischen Juden und Christen. Ein für die Folge sehr wesentliches Ereignis war die Begründung eines rein christlichen Wohltätigkeitsvereines unter dem Namen „B e s s a r a b e t z", in welchem die Kruschewanpartei den Ton angab. In diesem Verein hielt man Diskussionen über die Judenfrage, und es ist über jeden Zweifel gewiss, dass aus diesem Verein heraus die Vorbereitungen der Massakres vom April 1903 erfolgten. Der Verein hatte sehr viel Geld, das von vielen Orten, sogar aus Rumänien, beigesteuert wurde, darunter namhafte Beiträge, über deren Verwendung keine Rechnung gelegt werden musste.

Der Boden war schon gehörig unterwühlt, als Kruschewan mit der Ritualmordhetze begann. Im Jahre 1902, vor den Osterfeiertagen, wurde ein junger Christ in einem Brunnen tot aufgefunden. Sofort begann Kruschewan eine wütende Kampagne gegen die Juden, die er beschuldigte, den Christen zu rituellen Zwecken getötet zu haben. Es stellte sich wohl bald heraus, dass der Mord von einem Christen begangen worden war, der den Leichnam in den Brunnen geworfen hatte. Aber die furchtbar aufhetzenden Artikel des „Bessarabetz" hatten schon tausendfach ihre Wirkung getan, ohne dass es allerdings noch zu Exzessen gegen die Juden gekommen wäre.

Zu Beginn des Jahres 1903 erneuerte Kruschewan seine Anti-Juden-Kampagne in der unerhörtesten Weise mittels des Ritualmordmärchens:

Christen von D u b o s s a r y, die einen jungen Mann ermordeten, warfen den Leichnam in einen Garten und taten sonst nichts, als dass sie das Gerücht verbreiteten, die Juden hätten einen jungen Christen zu rituellen Zwecken getötet. Alles übrige konnten sie ohnehin getrost dem „Bessarabetz" überlassen. Kruschewan publizierte eine Artikelserie, worin er die Juden direkt des Mordes beschuldigte. Überall, in allen Gasthäusern, Schenken, auf allen Plätzen wurden diese Mordbeschuldigungen gelesen. Die Regierungsorgane aber hatten offenbar gar kein Bedürfnis, Kruschewans Arbeit zu stören, und gar keine Eile, den Mord von Dubossary aufzuklären. Als endlich durch die Regierung festgestellt worden war, dass es sich in Dubossary um einen von Christen aus habsüchtigen Gründen begangenen Mord handelte, als sogar der ,,Bessarabetz" eine offizielle Berichtigung bringen musste, war es längst zu spät. Die Berichtigung erzielte eher die entgegengesetzte Wirkung. Kruschewan durfte sie in so gewundenen Ausdrücken bringen, dass die Meinung, die schuldigen Juden sollten gedeckt und geschützt werden, nur noch gestärkt und die fanatische Wut gegen die Juden nur noch gesteigert wurde.

Russland 046. Kleinrussin

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Russland 047. Großrusse

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Russland 050. Eine Altgläubige (Raskolniza)

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Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

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Russland 054. Großrussischer Junge mit selbstgefertigtem Hackbrett

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Russland 054. Junge auf der Wanderschaft

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Russland 064. Eine Tatarenfamilie vom Unterlauf der Wolga (Auf dem Tisch der Samowar, die im ganzen Russischen Reich verbreitete Teemaschine)

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Russland 064. Kalmükischer Buddhistenpriester (Lama) aus der Steffe der Donkosaken

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Russland 076. Jüdische Hühnerverkäuferin in Odessa

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Russland 077. Ein Cheder (Judenschule) in Wolhynien

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Russland 078. Der Chacham (Oberrabbiner) der Karaiten (jüdische Sekte) leben großenteils auf der Krim

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Russland 078. Jüdische Handwerkerfamilie in Podolien

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Russland 079. Die Ältesten einer jüdischen Dorfgemeinde in Wolhynien

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Russland 079. Jüdischer Dorfladen in Podolien

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