Sonntag, 6. April 1903 - Beginn der Gewalttaten

Die Nacht vom Samstag (5. April) auf Sonntag war finster und regnerisch. An jeder Ecke der äußeren Stadtstraßen stand ein Polizist. Er hatte die Aufgabe, Fremde in größerer Anzahl nicht in die Stadt einzulassen. Die Polizei entledigte sich ihrer Aufgabe so, dass scharenweise Fremde, insbesondere Bauern, in die Stadt kamen. Später verantworteten sich die Polizisten dahin: Einzelne Menschen hätten sie ja einlassen dürfen, und bei der Dunkelheit hätten sie nicht unterscheiden können, ob es einzelne oder viele seien . . .

Am Morgen heiterte sich das Wetter auf. Die Juden hatten noch die zwei letzten Passahtage zu feiern. Und so wenig dachten sie selbst jetzt an Schlimmes, dass sie ihre Festgewänder anlegten und in die Synagogen gingen. Wieder riefen nach dem Gottesdienste die Tempeldiener aus, kein Jude solle sein Haus verlassen. Man ging ruhig nach Hause.


Plötzlich, gegen Mittag, ohne irgend einen augenblicklichen Anlass, ohne dass auch nur das kleinste Intermezzo zwischen Juden und Christen stattgefunden hätte, fing eine Bande von zehn- bis fünfzehnjährigen christlichen Burschen an, Juden zu überfallen. Die Juden flohen, die christlichen Burschen ihnen nach, ohne ihnen viel Übles zu tun. Blitzschnell zerstreute sich die Bande in alle Hauptstraßen Kischinews und begann, Fensterscheiben in den jüdischen Häusern und Läden einzuschlagen. Alles wurde sofort verriegelt. Die Polizei verlegte sich darauf, die Buben zu verfolgen und zu verscheuchen, aber sie verhaftete niemand.

Dieses Verhalten der Polizei musste sofort die Exzedenten ermutigen. Die jungen Burschen waren zweifellos von den Organisatoren ausgeschickt worden, damit man sich der Haltung der Polizei, auf deren Wohlwollen man ja ohnehin rechnete, ganz versichere. Es war etwa drei Uhr nachmittags, als plötzlich auf dem Platze Nowyi-Bazar ein Haufen von Männern erschien, alle in rote Hemden gekleidet. (Das rote Hemd gehört zur Festkleidung der russischen Arbeiter, kommt jetzt aber allmählich aus der Mode. Es ist klar, dass die Exzedenten die Arbeitertracht mit besonderer Absicht wählten.) Die Leute brüllten wie Besessene. Unaufhörlich schrien sie: ,,Tod den Juden! Schlaget die Juden!" Von der Schenke „Moskvpa" aus (von der oben anlässlich der Verteilung der Flugzettel die Rede war) teilte sich dieser Haufe von einigen Hundert in 24 Abteilungen zu etwa 10 bis 15 Mann. Und von da ab begann systematisch zu gleicher Zeit in 24 Teilen der Stadt die Zerstörung, Plünderung und Beraubung jüdischer Häuser und Läden. Man fing damit an, Steine in solcher Menge und mit solcher Wucht in die Häuser zu werfen, dass man nicht nur die Fensterscheiben, sondern auch die Läden zertrümmerte. Dann riss man Türen und Fenster aus, drang in die Häuser und in die jüdischen Wohnungen ein und zerschlug und zerbrach, was man an Möbeln und an Einrichtung vorfand. Die Juden mussten ihren Schmuck, ihr Geld und was sie überhaupt an Kostbarkeiten hatten, den Räubern ausliefern. Wenn sie nur den geringsten Widerstand leisteten, bekamen sie mit den zertrümmerten Möbelstücken wuchtige Hiebe auf die Köpfe. Besonders gewütet wurde in den Magazinen. Die Waren wurden entweder geraubt oder auf die Gasse geworfen und vernichtet. Ein großes christliches Gefolge begleitete die Exzedenten: ,,Intelligenz", Beamte, Seminaristen u. a. Damen der ,,besten Gesellschaft" nahmen von den Räubern Kleidungsstücke an, zogen an Ort und Stelle seidene Mäntel an oder wickelten sich in kostbare Stoffe. Die Räuber selbst taten nicht anders: Sie berauschten sich an Getränken, legten den Schmuck an, den sie gefunden hatten, und kleideten sich in die gestohlenen Gewänder. In der Gostinnaja-Straße wurde ein Schuhwarenmagazin geplündert, alle Räuber warfen ihre alten Schuhe weg und zogen neue an. Die dabei anwesenden Polizisten taten dasselbe: Alle lackierten Stiefel wurden an die Polizisten abgegeben.

Die Wut der Plünderer steigerte sich bis zur Raserei. Mit einer Art von Wollust warfen sie schwere Kästen und Tische aus den Fenstern auf die Straße, dass sie unter furchtbarem Dröhnen unten auffielen und zerschellten. Polster wurden zerschnitten und die Federn herabgestreut, dass sie wie Schnee wirbelten. Selbst das Zerbrochene und Zertrümmerte wurde von den fanatischen Räubern noch in tausend Teile zerschlagen. Zerfetzte Vorhänge und Bettdecken, zerbrochene und zerstückelte Waren wurden noch obendrein mit Petroleum übergossen.

Im Stadtgarten musizierten indessen Kapellen, und die Leute sagten: ,,Jetzt kann man wenigstens fröhlich promenieren. Man muss nicht mehr den Geruch von Juden verspüren." In die Klänge der Musik mischte sich das Geschrei und Gebrüll der Exzedenten, das dumpfe Geräusch der auffallenden Möbel und das Klirren der zertrümmerten Fensterscheiben in den Gassen der Stadt.

In den Gassen aber, in denen die Meute raste, fuhr die elegante Welt in Wagen vorüber, um sich an den Schauspiel der wüsten Zerstörung zu weiden. Christen standen ruhig in den Türen ihrer Häuser. Lächelnd sahen sie der Arbeit der Pogromstschiki zu und halfen auch mit, wenn es not tat. Ein Beispiel von dem besonderen Zynismus der ,,Intelligenz" gibt folgende Szene: Ein christlicher Ingenieur namens Baginsky stand in der Tür seines Hauses und zeigte ruhig den Exzedenten, welches die jüdischen und welches die christlichen Magazine seien. Als man vor seinen Augen eine jüdische Apotheke und eine jüdische Zigarettenhandlung plünderte und ausraubte, rief er, um seine ganze Verachtung gegen die Juden auszudrücken, seinem Diener zu: „Reich mir eine Zigarette, ich möchte einmal sehen, wie eine geraubte jüdische Zigarette schmeckt!" Und lächelnd zündete er die geraubte Zigarette an.

Um fünf Uhr nachmittags gab es den ersten Mord an einem Juden. Die Räuber stürzten sich auf eine Tramway, in der sich ein Jude befand, und schrien den Passagieren zu: ,,Werft uns den Juden heraus!" Der Jude wurde hinabgestoßen, und man gab ihm von allen Seiten so furchtbare Schläge auf den Kopf, dass der Schädel zerbrach und das Gehirn ausfloss. Der Anblick der ersten jüdischen Leiche schien die Räuber für einen Augenblick erschreckt zu haben. Als sie aber sahen, dass die patrouillierenden Polizisten kaltblütig blieben und keine Miene machten, irgendwie einzuschreiten, zerstoben sie unter dem mörderischen Geschrei: „Erschlaget die Juden!'" nach allen Gassen.

Bald darauf ereignete sich eine Begebenheit von verhängnisvoller Bedeutung. Durch eine Straße, in der geplündert wurde, fuhr in seinem Wagen der Polizeimeister, um Visiten abzustatten. Eine Bande von Räubern umringte ihn und fragte: „Darf man die Juden erschlagen?“ Ohne eine Antwort zu geben, fuhr der Polizeimeister weiter. Sein Stillschweigen war das entscheidende Ereignis. Die Organisatoren und Führer der Exzesse hatten sich bisher in der Reserve gehalten. Nun erkannten sie und alle Christen, dass von der Polizei keine Störung zu fürchten sei und dass ihnen die Juden ohne Gnade ausgeliefert seien. Von diesem Augenblick an gesellte sich die Polizei, die bisher alles hatte geschehen lassen, den Exzedenten als aktive Helferin zu.

In den Straßen, in denen geplündert wurde, mussten die Juden jeden Versuch, sich zu wehren, einstellen. Gab es solche Versuche, so wurden die Juden von der Polizei gehindert oder verhaftet. Zudem waren sie von den Exzessen so überrascht und so wenig organisiert, hatten auch so sehr auf Polizei und Militär gerechnet, dass jetzt jeder Widerstand einzelner ein ohnmächtiger Mut gewesen wäre.

Nur auf dem Platze Nowyi-Bazar versammelten sich jüdische Fleischhauer, um sich und die Ihrigen zu verteidigen. Sie hielten sich so tapfer, dass sie die Banden, die im Grunde aus ebenso wilden wie feigen Gesellen bestanden, in die Flucht jagten. Da kam die Polizei während eines Zusammenstoßes und verhaftete die Juden.

Das war das letzte Signal für die Organisatoren und die Exzedenten. Bis 10 Uhr nachts machten sich die entfesselten Leidenschaften in Plünderung, Raub und Zerstörung Luft. Dem gemeldeten ersten Mord gesellten sich andere sieben hinzu. An diesem Tage geschah es auch, dass sich Arbeiter auf eine schöne jüdische Frau stürzten, um sie zu vergewaltigen. Ihr Sohn, ein junger Gymnasiast, hat sie heldenhaft verteidigt. Die Ehre seiner Mutter hat er gerettet. Aber die Mordgesellen stachen ihr die Augen aus. Ihn selbst haben sie erschlagen . . .

Gegen acht Uhr abends brachte die Bahn den Exzedenten Sukkurs von auswärts. Sechzig Männer kamen, um bei den Exzessen mitzuarbeiten. Das waren keine betrunkenen Vagabunden, sondern junge Großrussen. Die Bande wurde in der Nacht von den Organisatoren bewaffnet und spielte in der Folge in der blutigen Tragödie eine Hauptrolle . . .

Die Exzesse in der Stadt verpflanzten sich allmählich vom Zentrum in die äußeren Stadtteile. Gegen 10 Uhr nachts legte sich die Wut der erschöpften Banditen.

In unbeschreiblicher Angst und doch zugleich in der Hoffnung, dass nun der Schrecken vorüber sei, wachten die Juden in ihren Häusern.