Ritualmordgerüchte

Bald nach dem Mord von Dubossary entdeckten die Ritualmordlüsternen einen „mysteriösen" Fall in Kischinew:

Ein christliches Mädchen, das bei einem jüdischen Kaufmann im Dienste stand, hatte sich vergiftet. Der Kaufmann hörte zur Nacht, wie das Mädchen ächzte und stöhnte. Er eilte sofort zu einem Arzt. Dieser fand, dass das Mädchen in Lebensgefahr sei, und lies sie sofort in das nächste Spital, das sich in der angrenzenden Straße befand, transportieren. Das Spital war zufällig ein jüdisches. Der Krankheitsfall wurde sofort vom Arzte der Behörde mitgeteilt. Dem Gerichtsbeamten, der im Spital erschien, erklärte das Mädchen, es hätte sich allein vergiftet und ihr Dienstherr sei auch nicht im entferntesten schuld daran. Das Mädchen verstarb im jüdischen Spital. Bald flogen Gerüchte durch die Stadt: „Ein christliches Mädchen gestorben" . . , „Juden" . . . ,,Vor Ostern" . , . Und auch von „Blut" sprach man. Die Ätherspritze, mit der der Arzt der Sterbenden Injektionen gemacht hatte, wurde zum „rituellen Instrument" . . . Als man das Mädchen begrub, war eine große Menge auf dem Friedhofe angesammelt.


Und es zeigte sich auch bald, dass nicht nur in den ungebildeten Volksschichten, sondern auch in den Kreisen der Intelligenz und unter den höchsten Beamten die Fabel vom jüdischen Ritualmord überzeugte Gläubige fand. Der Staatsrabbiner von Kischinew begab sich zum Bischof und bat ihn, er möge doch dem Volk erklären, dass die Ritualmordbeschuldigung eine lügenhafte Erfindung sei. Aber der Bischof hatte selbst seine Zweifel in dieser Sache. Er erklärte, dass man talmudische Beweise dafür beibringen könne, dass die Juden Blut gebrauchen, und berief sich dabei besonders auf die antisemitischen Schriften von Lutostanski.

Sogar unter die Jugend drangen die Ritualmordgerüchte ein, und Gymnasiallehrer bestärkten die christlichen Schüler in dem Glauben an den jüdischen Blutdurst.

Die, Beamtenschaft war nicht minder vom Fanatismus durchsetzt. Ihr Führer war in diesem Falle U s t r u g o w. Er, der Vizegouverneur von Bessarabien, der Zensor, Protektor und Mitarbeiter des „Bessarabetz", der dort als „Dreiundzwanzig" schrieb, hatte in den letzten Jahren am meisten dazu beigetragen, dass in der Bevölkerung die Schutzlosigkeit der Juden als selbstverständlich betrachtet wurde.

Fürst Urussow schreibt über ihn in seinen oben erwähnten Memoiren: ,,Die Verfolgung der Juden wurde durch Ustrugow als wahre Kunst betrieben, die darin bestand, dass er alle möglichen Feinheiten und Interpretationen aus den Gesetzen herauszulesen wusste und auch Gesetzesüberschreitungen zuließ, um ihre Rechte noch mehr einzuschränken."

Hunderte jüdischer Familien hat er auf administrativem Wege dem Ruin zugeführt. Er oder seine Beamten pflegten durch Bessarabien zu reisen und von allen Juden, die nicht ganz buchstäblich-rechtlich in den Dörfern wohnten, verhältnismäßig ungeheure Summen Geldes zu fordern oder sie von der Scholle zu treiben. Von ihm werden einige besondere Grausamkeiten erzählt. Einmal kam er in ein Dorf, wo Juden schon jahrelang ein Bethaus hatten, ohne dass sie eine ,,gesetzliche" Erlaubnis dazu besaßen. Anstatt das Bethaus etwa schließen zu lassen, wenn er schon die Strenge des Gesetzes geltend machen wollte, kam er an dem heiligsten Festtag der Juden ins Bethaus, lies die Thorarollen aus der Lade herausreißen und sie auf die Gasse schleppen. Dort trat er sie mit Füßen, lies sie dann in schmutzige Fetzen packen und befahl einigen Bauern, sie so in die Gemeindestube zu tragen. Ein anderes Mal kam er vor das Haus eines jüdischen Pächters. Aus irgend einem Grunde ließ er ihn mit Frau und Kind auf einen Wagen setzen und ordnete an, dass er im Etappenwege nach der Stadt gebracht werde. Das Haus und die Ställe, in denen sich Vieh befand, ließ er schließen und die Türen versiegeln. ,,Wer die Türen öffnen wird, der wird auf das Strengste bestraft werden", drohte er den Bauern. Das Vieh starb in den Ställen, keiner wagte es, ihm Futter zu geben — und der Pächter wurde ein Bettler.

Es geschah, dass man gegen den Vizegouverneur beim Senat Klage erhob. Der Senat erkannte wohl, dass der Vizegouverneur zu unrecht gehandelt habe. Aber er tat weiter das Seine — und im Grunde störte ihn niemand.

Immer mehr zog sich so über den Häuptern der Juden der Hass zusammen. Längst waren die Spuren des friedlichen Einvernehmens von ehedem verwischt. Von den Bauern auf dem Lande, vom Pöbel und den Kleinbürgern der Stadt, von den Kindern in der Schule bis hinauf in alle Kreise der gebildeten Christen und der Beamtenschaft des Gouvernements war alles von einem fiebernden Judenhass erfüllt, der nur darauf wartete, sich zu entladen.

Als Kruschewan und seine Genossen erkannten, dass der Boden genügend vorbereitet sei, machten sie sich in systematischer Weise an die direkte Organisation von gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Juden. Es ist kein Zweifel, dass die Organisatoren unter „gewaltsam" nicht nur Plünderung verstanden, sondern schon damals die Ermordung von Juden in Kischinew planten. Sie versammelten sich während zwei Wochen vor den christlichen Osterfeiern im Hotel ,,Ilossia". Es wurden Waffen angekauft, und man ließ Flugblätter und Plakate drucken. Diese Flugblätter, die massenhaft im Volke verbreitet wurden, begannen mit folgendem Satze: ,,Auf Grund eines Ukas (Befehl) des Zaren ist es den Christen während der drei heiligen Ostertage erlaubt, mit den Juden ein blutiges Gericht („krowawaja rasprawa") zu halten." Ein anderer Aufruf zeigte einen Christuskopf mit der Dornenkrone und trug die Aufschrift: „Gottes Strafe gegen die Bilderfrevler!" Unter dem Christuskopf war eine in biblischem Stile gehaltene Erzählung zu lesen, worin ein jüdischer Bilderfrevel mit Blutabzapfung geschildert wird. Woher diese Aufrufe stammten, zeigte deutlich genug der Druckvermerk auf dem letztgenannten, welcher lautete: „Moskau, im Hause des Klosters zum heil. Macarius, Große Lubianka-Straße. Gedruckt durch das Reichskomitee des Heiligen Synods zu Petersburg, am 4. Februar 1903. Der Zensor: Alexander Jeremonach."

Überall sprach man schon offen von den geplanten Judenexzessen. Abgesehen von der durch Kruschewan und seinen Genossen ganz öffentlich betriebenen Hetze hätten die Juden aus vielen anderen Anzeichen schließen können, dass sie sich in höchster Gefahr befänden. Die Nachrichten, die aus dem antisemitischen Klub drangen, zeugten sogar dafür, wessen man sich von der Polizei zu versehen hatte. Der Vizepolizeimeister Dowgal äußerte sich dort ganz offen, in einigen Tagen werde man gegen die Juden losgehen. Einige Tage vor Ostern kam der Polizeikommissar Dobrosselski in die Zigarettenhandlung des Juden Bendersky und nahm fünf Rubel aus der Kasse heraus. Der Jude sah verwundert diesem seltsamen Akt zu, da sgte der Kommissar: ,,So wie so werden wir zu Ostern alle Juden abschlachten" . . . Auch einige Ausschreitungen gegen Juden kamen in diesen Tagen vor. Christen schlugen in einem jüdischen Haus die Fenster ein, und es kam deswegen zu einer Schlägerei zwischen Christen und Juden, Eine jüdische Frau, die mit ihrem Kind auf der Straße ging, wurde ohne jede weitere Ursache überfallen, man riss ihr den Mantel herab und zerriss ihn. Man kannte auch die Schenken und Lokale, von denen aus die aufhetzenden Flugzettel verteilt wurden. In der Schenke „Moskwa" war das Zentral-Agitationslokal.

Es ist auf den ersten Blick kaum fassbar, dass die Juden angesichts der unverkennbar kritischen Situation nicht alles mögliche in Bewegung setzten, um sich zu sichern. Man kann die wesentlichste Erklärung dafür wohl darin sehen, dass sie das Außergewöhnliche, Elementare dieses Ausbruches von Judenhass nicht erkannten oder unterschätzten, und dass sie zum zweiten sich auf den Schutz der Kischinewer Polizei und der mehreren Tausend Soldaten verließen.

Allerdings waren die Juden, die beim Gouverneur und Polizeimeister vorsprachen und sie um Schutz baten, nicht allzu freundlich empfangen worden — aber deswegen waren sie doch Juden, die es sich gefallen lassen mussten, gedemütigt zu werden. Der Gouverneur versprach — wenngleich missmutig — Hilfe und die nötigen Vorkehrungsmaßregeln. Der Polizeimeister, derselbe, der im Klub die Massakers angekündigt hatte, erklärte zynisch: „Wir haben schon unsere Instruktionen bekommen. Wir werden euch verteidigen. Aber, wenn ich die Wahrheit sagen soll, es würde euch gar nicht schaden, wenn man euch ein wenig schlagen wollte. Ihr Juden seid alle „grobe Gesellen (russischer Ausdruck)." Der Bischof, bei dem der Rabbiner vorsprach, damit er die Leute beruhige, gab zur Antwort: „Es ist nicht nötig, dass man etwas tut" und stellte dann an den Rabbiner die Frage: „Nicht wahr, es gibt doch eine Sekte unter den Juden, die christliches Blut zu ihren Testen braucht?". . .

So war es um den Schutz bestellt, der den Juden versprochen wurde. Aber die Juden beruhigten sich damit und begnügten sich, in den jüdischen Bethäusern anlässlich der jüdischen Passahfeiertage durch die Tempeldiener ausrufen zu lassen: Die Juden sollten während der christlichen Ostern ruhig zu Hause bleiben, ihre Läden nicht öffnen und sich in keine Zänkereien mit Christen einlassen.

Die Juden gingen ruhig und ohne allzu große Besorgnis in ihre Häuser.