Montag, 7. April 1903 - Höhepunkt des Pogroms

In der Nacht aber wurde förmlich kriegsmäßig von den Leitern des Pogroms: Notar Pissarschewsky *), Semigradow, Sinadino, Balinski, Popow usw. die weitere Pogromarbeit organisiert.

*) Pissarschewsky hat nach dem Pogrom, als er, schwer kompromittiert, vor der Gefahr der gerichtlichen Verurteilung stand, selbst seinem Leben ein Ende gemacht.


Zunächst wurden die Banden mit Waffen versehen, vor allem jene jungen Männer vom Lande, die abends nach Kischinew gekommen waren. Alle Waffen waren gleichartig: Äxte und eiserne Stangen und Keulen, mit denen auf einen Stoß Türen und Läden zerbrochen wurden und die sogar stark genug waren, eiserne Schränke und Kassen zu sprengen. Auch die Tracht, in die man die Banden kleidete, war gleichartig: Die bereits erwähnten Arbeiterhemden wurden vom Pöbel aller Art angelegt, von Bauern, Arbeitern, Kleinbürgern, sogar Seminaristen, Polizisten usw. Die zweite planmäßige Arbeit des Organisationskomitees war die Markierung jüdischer Häuser. Schon am ersten Tage hatten Pissarschewsky und Sinadino den Räubern die jüdischen Häuser angezeigt. Die Markierung durch das Komitee erfolgte derart, dass in dieser Nacht alle jüdischen Läden und Wohnungen mit weißer Kreide angestrichen wurden. Dann wurde der permanente Nachrichten- und Verbindungsdienst der Banden organisiert. Für diesen Dienst bediente man sich mehrerer Radfahrer, die dann in der Folge eine ungemein wichtige Rolle spielten. Die Radfahrer waren Gymnasiasten, geistliche Studenten (Seminaristen) und Beamte. Aber die Organisation beschränkte sich nicht auf die Stadt allein. Man schickte Sendboten in die nächst gelegenen Dörfer und ließ die Bauern einladen: Sie mögen in die Stadt kommen, die Juden ausplündern helfen, und sie sollten große Säcke mitbringen. Von den Bauern, die dieser Einladung folgten, werden wir noch hören.

Gegen drei Uhr nachts waren die Vorbereitungen beendet, und in diesem Moment wurde das Signal zum Losgehen gegeben.

                                                *****************

Was jetzt folgte, ist in seinen Schrecken nicht zu schildern. Scheußliche Bestialitäten, tierischer Blutdurst und teuflische Unzucht feierten ihre Orgien.

Neunundvierzig Juden sind zu Kischinew gemordet worden. Wenn man aber hört, welche Fülle von Entsetzlichkeiten begangen wurde, dann erkennt man, dass nur wenige von ihnen das Glück hatten, durch einfachen Totschlag zu enden, und dass die meisten durch vielfache Art selbst in barbarischen Zeiten kaum erhörter Misshandlungen die entsetzlichsten Todesqualen erdulden mussten.

Von Montag drei Uhr morgens bis acht Uhr nachmittags rasten Horden inmitten von Trümmern und Schutt, die sie selbst gehäuft hatten, plünderten, raubten, zerstörten sie jüdisches Eigentum, stahlen, brandschatzten und vernichteten, und sie jagten, erschlugen, schändeten und marterten Juden. Und Vertreter aus allen Bevölkerungsschichten nahmen an diesem furchtbaren Hexensabbat Anteil: Soldaten und Polizei, Beamte und Priester, Kinder und Frauen, Bauern, Arbeiter und Strolche.

Alle jüdischen Häuser in den Straßen Gostinnaja, Charlampjewskaja, Nikolajewskaja, Sennaja waren auf einmal von dem furchtbaren Gebrüll der Mörder und dem herzzerreißenden Geschrei der unglücklichen Opfer erfüllt. Fast überall wurde von den Banden, die aus 10 bis 20 Personen bestanden, sich aber manchmal bis zu 80 und 100 Personen vermehrten, nach demselben System verfahren. Die Magazine und Läden wurden wie am vorhergehenden Tage bis auf den letzten Rest ausgeraubt. Was man nicht wegtragen konnte, wurde zerstückelt oder mit Petroleum begossen und verbrannt. In die Wohnungen der Juden drangen die Bauden mit mörderischem Gebrüll ein, man solle ihnen alles Geld und alle Kostbarkeiten ausliefern. Taten das die Juden, so begnügten sich in der allerersten Zeit die Räuber damit, ihren Opfern wuchtige Hiebe auszuteilen, um Nachfolgenden das Feld zu überlassen. Hatten aber die Juden nichts zum Ausliefern oder ging es nicht schnell genug, oder hatten die Mörder andere Launen, dann wurden die Männer niedergeschlagen, schwer verwundet oder getötet. Frauen wurden vor den Augen der Männer und Kinder der Reihe nach von den Mördern vergewaltigt. Kindern wurden Ärmchen und Beine ausgerissen oder gebrochen, einzelne wurden aus unteren Stockwerken in die oberen geschleppt und hinabgeworfen.

Unter den Juden herrschte die unbeschreiblichste Panik: ein wildes Flüchten in Keller, Höfe, auf die Dächer, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße. Kein Polizist, kein Soldat rührte sich für sie.

Unsägliche Schrecken, viele Morde, Verwundungen und Verstümmelungen, maßlose Zerstörungen und Verwüstung füllten diese Nacht aus.

                                                *****************

Am frühen Morgen eilte eine Deputation von Juden, 40 an der Zahl, zum Gouverneur, um ihn um Schutz anzuflehen. Er gab zur Antwort, dass er nichts tun könne, da er noch keine Befehle aus Petersburg bekommen habe. Gleichzeitig aber verbot eben derselbe Herr von Raaben den Telegraphenstationen, irgend welche Privattelegramme nach Petersburg anzunehmen.

Der angesichts der Verzweiflung der Juden selbstverständliche Gang der Juden zum Gouverneur bedeutete eine neue katastrophale Wendung in ihrem Schicksal. Die Banden wussten sich jetzt nicht nur nicht bedroht, sondern sogar unter der Patronanz der obersten Regierungsbehörde. Es machte auf sie wenig Eindruck, die Polizisten noch immer auf den Posten und nunmehr die Soldaten ausrücken zu sehen. Sie wussten, dass das Militär nur dazu da sei, die Christen vor irgend welchen Ausschreitungen zu schützen. Damit ja kein Irrtum vorkomme, übernahmen es von jetzt ab die Polizisten, systematisch den Mördern die jüdischen Häuser anzuweisen.

Mit immer sich steigernder Wut wurde nun Raub, Mord und Schändung fortgesetzt. Juden wurden die Köpfe abgeschlagen. In das strömende Blut tauchte man Handtücher, und die auf diese Weise rot getünchten Fetzen schwang man als Fahnen. Auf weiße Fahnen schrieb man mit jüdischem Blut in großen Buchstaben die Worte: ,,Tod den Juden!" Männern und Frauen schlitzte man den Bauch auf, riss die Eingeweide heraus und stopfte Federn hinein. Man sprang und tanzte auf den Leichen, brüllte und berauschte sich an Getränken, und Männer und Frauen der sogenannten „besten Gesellschaft", Beamte und Polizisten sahen lachend zu oder taten mit. Schwangere Frauen wurden mit Stöcken auf den Bauch geschlagen, bis sie an Verblutung starben.

Einige Juden glaubten sich dadurch retten zu können, dass sie, wie die Christen es taten, Bilder christlicher Heiligen in die Fenster stellten. Sie wurden furchtbar dafür bestraft. Die Polizei selbst denunzierte sie.

Gegen Mittag erreichte der Wahnsinn der Banditen eine solche Höhe, dass sie die unbeschreiblichsten Qualen für ihre Opfer ersannen. Dieses sind einige der scheußlichsten Schandtaten, die in der Nacht und am Tage verübt wurden:

Frauen wurden, nachdem sie vergewaltigt waren, die Brüste abgeschnitten, dann wurden sie auf das schändlichste in einer nicht zu schildernden Art verunstaltet.

In einem Hause wurde die Mutter der Reihe nach von allen Banditen in Anwesenheit ihrer zwei kleinen Töchter vergewaltigt. Dann wurde sie in ein Schlachthaus getrieben und dort durch Beilhiebe getötet.

Der Chaja Sarah Phonarji wurden Nägel in die Nasenlöcher hineingeschlagen, die durch den Schädel hindurchdrangen.

Dem David Chariten wurde der untere Teil des Oberkiefers samt der Zahnreihe und der Oberlippe abgehauen.

Dem Jechiel Selzer wurden die Ohren ausgerissen, dann schlug man ihn auf den Kopf, bis er verrückt wurde.

Dem Meyer Weissmann, der auf einem Auge blind war, wurde das gesunde Auge ausgestochen, und zwar von seinen Nachbarn, die von diesem Gebrechen wussten. Während er, bevor ihm dieses grässliche Schicksal bereitet wurde, mit seiner Frau und drei kleinen Kindern vor den Verfolgern floh, warf er seine Kinder über einen Zaun in den Hof des Veterin?rarztes St., um wenigstens die Kleinen zu retten. Dr. St., ein Täufling, warf ihm die Kinder auf die Straße zurück. Ein Glasermeister hatte sich mit seiner schwangeren Frau und seinen zwei Kindern im Keller seines Hauses versteckt. Eine Horde drang ein. Ein Hieb mit einer Axt schlug dem Mann den Kopf ab, dann tötete man die Frau. Die Kinder ließ man am Leben, damit sie mitansähen, wie die Leichen der Eltern in unbeschreiblicher Art geschändet wurden.

Ein Gymnasiast, der sich in ein Klosett flüchtete, wurde dort grausam erdrosselt.

Dem Hirsch Lys , der an der Ecke der Swetschnaja- und Gostinnajastraße aufgefunden wurde, sind die Gelenke an Händen und Füssen auseinandergerissen worden.

Eine Jüdin bekam Schläge auf den Kopf, indem man ihr einjähriges Kind als Werkzeug benutzte.

Ein jüdischer Kutscher führte einen Schwerverwundeten nach dem Spital. Als man den Juden aus dem Wagen holen wollte, konstatierte man, dass er schon eine Leiche war. Eine halbe Stunde später brachte man denselben Kutscher mit zertrümmertem Schädel als Leiche nach dem Totenhaus.

Einem Mädchen wurde von einem vertierten Exzedenten während der Vergewaltigung die Nase abgebissen.

Auf der Asiatskajagasse versteckten sich, während die Banditen raubten und plünderten, die Juden in den Kellern und auf den Dächern. Im Hause Nummer 13 hörten die Räuber Geräusch auf dem Dache. Sie eilten hinauf und fanden dort drei Juden (Brüder) und ein 13 jähriges Mädchen. Alle wurden vom Dache hinabgeworfen auf eine Brücke, an die das Haus grenzte. Unten stand eine Masse, die sich sofort anschickte, auf die vier loszuschlagen. Erst am nächsten Tage fand man unter Schutt und Federn die furchtbar verstümmelten Leichen von zwei Juden. Den dritten und sein Kind brachte man auf den Tod verwundet ins Spital.

Dieses Haus war auch sonst ein wahres Unglückshaus. In sämtlichen Wohnungen, acht an der Zahl, wurde alles in ganz kleine Stückchen zertrümmert. Einige Wände wurden direkt zerschlagen, Öfen zerbrochen, das Ziegeldach sogar wurde zerschmettert. Es blieb ein großer Trümmerhaufen, der vom Blute der Getöteten bespritzt war.

Das sind einige der unmenschlichen Scheußlichkeiten. Sie sind als wahr verbürgt durch den grässlichen Augenschein, durch das Zeugnis christlicher Ärzte und durch die russischen Blätter, die zuerst die judenfeindlichste und despotischeste aller Zensuren passiert haben.

                                                *****************

Mit besonderer Wut wurden die Synagogen gestürmt und geplündert. In einer Synagoge stand vor der Lade, in der sich die Gesetzesrollen befanden, in heiligem Todesmut ein Tempeldiener. Im Tales (Gebetmantel) und mit den Tephilin (Gebetriemen) an Händen und Stirn erwartete er den Ansturm der Mörder, um mit seinem Leib die Gesetzesrollen zu schützen. Er wurde auf die schändlichste Weise hingemordet. Dann riss man hier, wie es auch anderswo geschah, die Thorarollen aus der Lade, schnitt das Pergament zu kleinen Fetzen (christliche Kinder haben später solche Fetzen um einige Kopeken in den Straßen als ,,Andenken an Kischinew" feilgeboten) oder besuldelte es in der widerlichsten Weise. Dann erst wurde, wie überall, auch hier die Einrichtung der Synagogen zertrümmert.

                                                *****************

Die Szenen der Barbarei waren so erschütternd, dass nicht weniger als 13 von den Juden irrsinnig wurden. Der Sohn des N. Uschemirsky, der mitansehen musste, wie sein Vater gemartert wurde, wurde vom Wahnsinn erfasst und begann in der Stadt umherzulaufen, indem er schrie, er müsse dem Kaiser Wilhelm telefonieren.

Zwei junge Menschen, zu gleicher Zeit vom Wahn ergriffen, sind auf und davon. Einer sagte, er müsse nach Wien, um dort seine Klagen vorzubringen.

Eine Frau floh mit ihrem Kinde auf ein Dach. Das Kind fing an zu schreien, da stopfte ihm die Frau ein Tuch in den Mund, damit es sich nicht den Mördern im Hause verrate. Das Kind erstickte, und die Mutter wurde vor Schmerz wahnsinnig. Sie glaubte, immer noch ihr Kind auf dem Schosse zu halten.

Die Polizisten und Soldaten spielten an diesem Tage eine furchtbare Rolle. Nicht nur, dass sie den Mördern und Räubern die jüdischen Häuser anwiesen, nicht nur, dass sie selbst plünderten und stahlen, haben sie sich auch an den Metzeleien beteiligt.

Eine Frau wollte die Banden dadurch von ihrem Hause fernhalten, dass sie siedendes Wasser auf sie goss. Ein Polizist stürzte auf sie los und ermordete sie.

Ein Polizist hat auch die Ermordung des erwähnten Tempeldieners auf dem Gewissen. Viele Juden wurden von den Polizisten geschlagen, ihrer Waffen oder Stöcke beraubt, und wenn sie sich irgendwie sammeln wollten, in die Häuser zurückgejagt.

An Raub und Plünderung nahmen die Polizisten teil, wo sie konnten. Bei dem reichen Juden Rudi arbeiteten Banditen zehn Stunden daran, eine eiserne Kasse zu erbrechen. Rudi telefonierte, da er die Polizei nicht bestechen wollte, um Schutz, fuhr herum, von Behörde zu Behörde. Es nützte nichts. Die Polizisten standen bei den Banditen, ohne sie im geringsten zu hindern. Die Kasse wurde erbrochen, 20.000 Rubel wurden herausgenommen und unter Banditen und Polizisten geteilt.

In den Wohnungen der Polizisten fand sich später eine Unmasse geraubten Gutes.

In der Wohnung des Polizeikommissars Dobrosselski wurde eine Menge geraubter Gegenstände gefunden. Er wurde verhaftet. Am nächsten Tag wurde er jedoch freigelassen. Er hatte erklärt: Es hätte jemand die Sachen zu ihm gebracht und der Mann sei jetzt verschwunden. Die Erklärung genügte.

Was die Soldaten trieben, ist kaum fassbar. Zunächst standen sie noch auf ihren Posten, die sie nach der Dienstbestimmung nicht verlassen durften. Die Räuber reichten ihnen also Essen, Getränke und Wertsachen. Die Soldaten, die die Weinflaschen nicht entkorken konnten, schlugen den Hals der Flaschen ab und leerten so Flasche um Flasche, bis sie trunken waren.

Später wurde es viel schlimmer. Die Soldaten, die sahen, wie ihre Brüder plünderten und raubten, wurden vom Taumel erfasst und mischten sich in die Banden, plündernd, schlagend und Frauen schändend.

Es befanden sich unter andern im Spital Juden, denen der Schädel oder die Brust durch Säbelhiebe schwer verwundet wurde. Diese Säbelhiebe rührten, da die Banden nur mit Gewehren, Stangen und Äxten bewaffnet waren, ausschließlich von Soldaten her, die an den Räubereien teilnahmen.

Noch entsetzlicher war die Stellung der Offiziere. Während z. B. die Banden die Scheiben des Offiziersklubs einschlugen, riefen einige Offiziere: ,,Nur zu! Das Haus gehört einem Juden!"

In einer Straße schlugen Polizisten auf wehrlose Juden los. Ein Offizier stand dabei und feuerte die Polizisten an: „Alle Juden sind Sozialisten. Man muss sie aufhängen!"

Es ist sicher, dass Offiziere, manchmal in Verkleidung, an Raub und besonders an Vergewaltigungen teilgenommen haben.

In der Gostinnajastraße begegnete ein Offizier an der Spitze einer Patrouille mehreren mit jüdischem Gut beladenen Räubern. Er befahl ihnen, das Geraubte wegzuwerfen und das nächste jüdische Haus zu plündern, und die Räuber taten beides.

In der Charalampjewskajastraße vergewaltigten zwei Unteroffiziere ein jüdisches Mädchen, worauf sie von Banditen missbraucht und dann ermordet wurde.

Einen Offizier hat ein höherer Militär beim Raub angetroffen. Der Offizier wurde verhaftet, jedoch am nächsten Tage freigelassen. Ein Militärarzt hatte ihm ein Zeugnis ausgestellt, dass er, als er raubte, sich im Zustande momentaner Geistesverwirrung befunden habe.

                                                *****************

Von der Raserei des Pöbels, von seiner Mord- und Raubgier wurden vor allem die Armen und zahlreiche Wohlhabende, aber nur vereinzelte Reiche betroffen, während die letzteren die Habsucht der Banden doch vor allem hätten herausfordern müssen.

Das scheinbar Unerklärliche erklärt sich damit, dass die reichen Juden sich den Schutz der Polizei und des Militärs für teures Geld erkaufen konnten.

Die Offiziere nahmen manchmal für einen Soldaten, den sie beistellten, 50 Rubel. Manchmal aber verlangten und bekamen sie ganz respektable Summen. Ein großer Manufakturist bezahlte einem an seinem Hause vorüberziehenden Kosakenhauptmann für die Postierung einer Wachabteilung 1.500 Rubel.

Ein reicher Jude zahlte für die Bewachung seines neuerbauten Hauses und seiner Magazine dem Polizeikommissar und einem Offizier 4.000 Rubel.

So waren die reichen Juden durch die Käuflichkeit eben derselben Offiziere und Polizisten geschützt, die gegen die armen Juden nicht weniger bestialisch und hartherzig waren als die Räuber und Banditen.

                                                *****************

Man muss erst gewusst haben, wie sich Gouverneur, Polizei und Soldaten zu den Juden verhielten, um zu verstehen, was für Möglichkeiten einer jüdischen Gegenwehr es gab und welche Aussichten sie hatte. Und doch trifft die Juden von Kischinew nicht der Vorwurf, dass sie ohne jeden Versuch einer Gegenwehr sich den Banden und der Polizei ergaben. In manchen Gassen war allerdings, da die Polizei die Juden in die Häuser zurücktrieb, von vornherein jede vereinigte Abwehr unmöglich, und die paar jüdischen Hausbewohner waren den Banden von 20 bis 100 Mann buchstäblich ausgeliefert. Infolge ihres beklagenswerten Optimismus ohnehin ganz unvorbereitet, taten sie, was ihnen der Schrecken des Augenblicks eingab, versteckten sich in Kellern, auf dem Dache, liefen zu Christen, auf die Straße, zum Bahnhof, wenn sie nicht wieder zurückgetrieben oder unterwegs von Banden irgend wohin verjagt wurden, oder ergaben sich in ihren Wohnungen ihrem Schicksal. In anderen Gassen aber gab es doch einige Vereinigungen zur Abwehr.

Mit großem Mute vereinigten sich auf Veranlassung eines Zionisten auf dem Weinplatz ein paar hundert Mann. Drei Stunden verteidigten sich die Juden, und alle Anfälle der Banden wurden zurückgeschlagen. Da kam eine Militärpatrouille vom Reservebataillon. Der Offizier der Patrouille befahl den Juden, die Stöcke und Stangen wegzulegen, indem er versicherte, dass er und seine Soldaten gekommen wären, die Juden zu verteidigen. Kaum hatten die Juden die Waffen weggeworfen, als die Soldaten auf die als Barrikaden aufgestapelten Ölfässer loshauten, sie zerbrachen und die Banden auf den Weinplatz losstürzen ließen, die sich nun auf die wehrlosen Juden warfen, von denen einige getötet und viele schwer verwundet wurden.

Eine Zahl älterer Juden verließ mit Weib und Kind die Wohnungen, alles Eigentum den Räubern zurücklassend, und verschanzten sich in einer Malzfabrik, um sich und die Familien zu verteidigen. Es kamen aber Banden in solcher Stärke, dass die Verteidigungsversuche ganz aussichtslos waren. Während die Kinder jämmerlich schrien, die Weiber in Ohnmacht fielen, drangen die Banden ein. Die Räuber stürzten sich zuerst auf Weiber und Kinder. Einzelne der früher gemeldeten Schändlichkeiten sind da verübt worden. Von den Männern wurden hier sechs erschlagen und viele schwer verwundet. Ein 60 jähriger Greis namens Kainarski flüchtete mit seinem 26 jährigen Sohne in das Haus des obengenannten Veterinärarztes St. Sie hatten lange Zeit einen wahren Kampf zu bestehen, um sich von Dr. St. nicht aus dem Hause treiben zu lassen. Endlich gelang es der Brutalität St.'s, sie auf die Straße zu setzen, wo der Alte sofort getötet wurde. Der Junge rettete sich, indem er in den See sprang, wo er viele Stunden zubrachte.

Das Haus hat seitdem den Namen „Mordhaus" bekommen.

In der Kogulskergasse gelang es den Juden, sich während der ganzen Exzesse zu verteidigen. Die Juden hatten sich dort rechtzeitig, noch ehe sie von der Polizei gehindert werden konnten, gesammelt und wehrten die Banden ab. Allerdings Ausfälle machen und den anderen helfen konnten sie nicht, weil die Polizisten die nächsten Gassen abgesperrt hielten, aber viele flüchtende Juden nahmen sie auf, insbesondere Verwundete, für die sie sofort sorgten.

Einige Fälle von besonderem jüdischen Widerstand verdienen es, dass man sie dem Gedächtnisse aufbewahrt. Wir sprachen schon von dem Heldentod des jüdischen Gymnasiasten, der die Ehre seiner Mutter rettete, von dem Tempeldiener, der für die Ehre der ihm anvertrauten Gesetzesrollen starb. Auch von dem mutigen Benzion Galanter erzählten wir, der eine halbe Stunde lang mit einem blind geladenen Revolver den Banden standhielt.*)

*) Soweit Juden sich des Revolvers bedienten, hatten sie fast alle, sei es aus Scheu vor Morden, sei es aus Frömmigkeit, blind geladen. Darum gab es keinen christlichen Toten. Als man später im Spitale den oben erwähnten Selzer befragte, warum er seinen Revolver blind geladen hatte, antwortete er: „Weil ich es nicht über mich gebracht hätte, einen Menschen zu töten."

Es ist noch zu erzählen von der Heldenhaftigkeit und sittlichen Größe eines alten Juden, der während einer Viertels Stunde vier Banditen abwehrte, die seine Tochter vergewaltigen wollten. Der Vater rettete seine Tochter und ihre Ehre. Sie konnte sich verbergen, während der Greis ermordet wurde.

Hervorzuheben ist schließlich auch diese Tat einer jüdischen Mutter:

In der Nikolajewergasse retteten sich etwa 25 Juden auf einen Boden. Im Hause unten erschlug man einen Juden, Hirsch Bolgar, der nicht mehr entfliehen konnte. Die auf dem Boden hielten den Atem an, dass man sie nicht hören solle. Unter ihnen befand sich eine Jüdin mit einem kleinen Kind. Das Kind fing plötzlich zu weinen an. Als die Frau sah, dass sie mit dem Kind die anderen in Todesgefahr bringe, beschloss sie, sich zu opfern. Sie riss ein Brett aus der Bodendecke und stürzte sich mit ihrem Kind durch die Öffnung in einen Hof des Nachbarhauses hinab, das einem Christen gehörte. Die Banditen bemerkten sie nicht. Wie durch ein Wunder sind Weib und Kind gerettet. Die Mutter hat einige Wunden davongetragen, das Kind blieb heil.

Es ist im Verlauf der Schilderung genügend klar geworden, dass alle Schichten der christlichen Bevölkerung — bis auf vereinzelte Ausnahmen — mit den Banditen gemeinsame Sache machten.

Im Verlaufe der Exzesse wurden allmählich alle Leidenschaften der Bevölkerung wach. Das erste Kapital, das die armen Christen aus den armen Juden herausschlugen, war, dass sie Heiligenbilder gegen Bezahlung in verschiedener Höhe an die Juden verliehen, womit die Bedrohten es versuchten, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Wie wenig den Juden die Heiligenbilder nutzten, haben wir schon erwähnt.

Das aber war noch der kleinlichste Anfang. Später erwachten dann Bosheit, Habsucht und Rohheit und dokumentierten sich in den krassesten Fällen. Viele Christen haben Juden, die zehn Jahre und noch länger bei ihnen im Hause wohnten, direkt an die Banden verraten und ausgeliefert. Es geschah, dass Christen Juden zu sich riefen, ihnen gegen Auslieferung von Geld oder auch ohne solches Schutz versprachen, die dann, als die Banden kamen, selbst zu schlagen anfingen und an Raub und Zerstörung teilnahmen. Leute, die jahrelang Angestellte jüdischer Firmen waren, hetzten die Banden selbst gegen diese Juden. Soweit ging die Bestialität, dass Christen, die von jüdischen Ärzten kuriert worden waren, und zwar erst vor einigen Tagen, gegen dieselben Ärzte losgingen. Wie die christliche Bevölkerung in den Straßen, soweit sie sich nicht unter die Banden mischte, hauste, war geradezu eine fanatische Steigerung der Ungeheuerlichkeiten, die schon am Sonntag bei der Plünderung vorgekommen waren. Die ,,gute Gesellschaft" füllte zu Fuß, zu Rad oder zu Wagen all die Straßen, in denen die Mörder an der Arbeit waren, amüsierte sich, reizte die Banditen auf, zeigte ihnen die Häuser, wo besonders viel Beute zu erwarten wäre, nahm an dem grässlichen Schauspiel der vor aller Öffentlichkeit vollzogenen Vergewaltigung und Schändung jüdischer Frauen teil, begleitete mit Zurufen die grässlichsten Schandtaten, die an jüdischen Sterbenden oder jüdischen Leichen vorgenommen wurden und beteiligte sich an dem gemeinsten Raub. Elegante Damen ließen sich von den Räubern Schmuck und kostbare Stoffe reichen. Reiche Männer stopften ihre Taschen mit geraubtem Gut an. Alle Unterschiede des Geschlechts, der Bildung, des Alters, des Standes, alle Klassengegensätze — in denen ja nach dem Urteile mancher der Urgrund der Exzesse zu suchen sein sollte — waren verwischt in dieser einzigen Orgie. Frauen und Kinder haben die grässlichsten und widerlichsten Typen gestellt. Beide haben an den entsetzlichsten Grausamkeiten teilgenommen.

So weit war in der Kischinewer Bevölkerung jedes menschliche Gefühl erstickt, dass man nicht einmal zuließ, die Schwerverwundeten vom Platze weg und in ein Spital zu führen.

Christliche Kutscher nahmen um keinen Preis einen Juden auf. Und die Tramway-Kondukteure stießen Juden zurück, wenn sie aufsteigen wollten. An den Bahnhöfen verweigerte das Personal bei den Schaltern Juden die Billetts. Dagegen fanden sich auch an den Bahnhöfen Banditen, die zusammen mit den Eisenbahnarbeitern angesichts der Gendarmerie Juden ermordeten.

Dass auch Seminaristen in Verkleidung an den Exzessen teilnahmen, haben wir schon erwähnt — waren sie ja die eigentlichen Leiter des Pogroms!

Es wäre aber Ungerechtigkeit und Undankbarkeit, wollte man nicht von jenen Christen sprechen, die in diesen Tagen sich als wahrhafte Menschen, als leuchtende Ausnahmen gegenüber einer wahnsinnig verrohten Umgebung erwiesen haben. Schon darum muss man sie besonders nennen und sich ihrer mit Hochachtung erinnern, weil es so wenige waren.

Da ist vor allem ein Priester zu nennen, der jüdische Familien zu sich nahm, indes sein Sohn sich unter den Banditen befand. Dann ein gewisser Nasarow, der auf der Straße einen von den Banditen Überfallenen alten Juden schützen wollte und dabei selbst erschlagen worden wäre, wenn nicht plötzlich einer geschrien hätte: „Was tut ihr da? Ihr schlaget ja einen Christen!"

Ingenieur Kusch, der Obmann eines Feuerwehrvereins, rückte mit Feuerleuten, zumeist Juden, aus, und es gelang ihm, ein paar Straßen zu säubern.

Der Arzt Doroschewsky hat viele jüdische Familien von Ärzten, Zahnärzten und anderen zu sich genommen und gerettet.

Hauptmann Michajlow, welcher mit seiner Kompagnie aus Bendery nach Kischinew eilte, ließ sofort vor einem Hause, aus welchem herzzerreißende Hilferufe drangen, Halt machen und einige Soldaten zum Schutze in die Wohnung eindringen. Leider fanden die Soldaten wenig mehr zu tun als die Sicherung zweier Leichen von Frauen, die eben erschlagen worden waren.

Rühmen muss man noch einige Studenten, die einen alten Juden dadurch vor den nachfolgenden Banden gerettet haben, dass sie ihn trotz dem Widerstände der anderen Passagiere in einen Tramwaywagen aufnahmen.

Am Schluss aber muss mit besonderer Ehre genannt werden der Bürgermeister von Kischinew Alexander Schmidt, der nach seiner Kraft unternahm, was er zum Schutze der Juden tun konnte. Er begab sich in der ersten Stunde der Ausschreitungen zum Gouverneur und Vizegouverneur und forderte — leider vergeblich — das sofortige Einschreiten des Militärs.

Indes waren diese Männer ihrer Zahl nach verschwindend in der vieltausendköpfigen Masse der Unholde, und ihre Kraft war zu schwach, als dass sie in der Finsternis mehr als einen kleinen Lichtpunkt darstellen könnten.